Emil Wilhelm Frommel
Aus der Chronik eines geistlichen Herrn
Emil Wilhelm Frommel

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Fünftes Kapitel.

Der erste Schulgang. Allerhand Freundschaften. Festtage.

Ach wie herrlich, ach wie schön
Ist es in die Schule gehn!
Denn da lernt man lesen, schreiben
Und sich auch die Zeit vertreiben!

so singt's im Liede, von welchem namentlich der letzte Vers der schönste ist: »Und sich auch die Zeit vertreiben.« Wenn's so ums fünfte Jahr herumging, wurde man langsam auf die große Stunde vorbereitet, die schlagen sollte, »wenn's in die Schule geht.« Die Eltern stellten uns das als das höchste Glück vor Augen, aber das kleine Herz pochte oder wie's hieß »pokelte,« wenn's daran dachte, daß man nun heraus müsse aus dem stillen, traulichen Heim, dem süßen Nichtsthun vom Morgen bis zum Abend, wo man zuletzt auch des Spielens müde geworden. Es ist eine Ahnung im Kinde, daß mit dem Augenblick des ersten Schulgangs der Anfang einer Periode beginnt, in welcher sich zwei Mächte von nun an in das Kind teilen: Haus und Schule. Ein Teil der elterlichen Herrschaft geht an die Schule über – zum erstenmal ragt der Ernst herein ins Leben, und das Büblein erfährt's: das Leben ist kein Spiel. Menschen, die man nie gesehen, machen sich mit einem zu schaffen und üben eine Gewalt, die man sonst nur den Eltern zugestanden hat; sie greifen hinein ins Herz und Gemüt des Kindes, ach manchmal mit so rauhen, plumpen Händen! Ob nicht daher die Angst und der Widerwille des Kindes gegen die Schule kommen und die ersten, wahrhaft bittern Thränen dort geweint werden? – Bruder Karl, der die Sache schon erfahren, wußte von allerlei Schreckbildern aus der Schule zu sagen: von Däbslein mit dem viereckigen Lineal auf die Fingerspitzen oder auf die hohle Hand, oder von Hosenspannen mit dem spanischen Röhrlein – oder gar »über die Bank gelegt werden« und vom Schuldiener regelrecht fünfundzwanzig auf den gepolsterten Teil des menschlichen Körpers gezählt bekommen! Zum Trost begleitete uns die Mutter, den Taufschein in der Hand und den Kronenthaler für die Bibliothek in der Tasche, dem damaligen Direktor, dem ehrwürdigen Kirchenrat Zandt, uns vorstellend. Mir schlug das Herz wie bei einem Gerichtstermin. Dann ging's hinunter in die Klasse, in die »Duodecima« oder »infima« – wo der Duodezschüler beim Rate König erschien, der im blauen Frack mit Goldknöpfen und weißer Halsbinde auf dem Katheder saß und die Mutter ehrerbietig begrüßte. Schon viele Buben saßen da auf den kleinen Bänken, jeder mit Schiefertafel und Abc-Buch mit dem Gockler vorne drauf. Die Mutter sprach noch etwas insgeheim mit dem Rate, küßte mich und ging fort. Ich hätte laut aufschreien mögen, wenn ich nicht die vielen Buben angeschaut hätte, die diesen Schmerz schon überwunden hatten und sich gegenseitig anstaunten, sich hier zu finden. Die Mutter aber hatte dem Rat ein paar funkelnagelneue Kreuzer gegeben, die mir nach der Schule einzeln verabreicht werden sollten, als Lohn für das Aushalten. Der ehrwürdige Mann, Gott Hab ihn selig, ich segne ihn heute noch. Sein schneeweißes Haar und seine Liebe zu dem Häuflein der Kleinen hielt die beste Schulzucht. Der Verfasser ist schon lange der verkehrten Ansicht, daß in die untersten Klassen die alten Lehrer und in die oberen die jungen gehören und man hat ihn darum auch nirgends zu einem Provinzialschulkollegium vorgeschlagen. Denn mit kleinen Kindern wissen junge Leute zumeist nichts anzufangen, sie sind ihnen zu klein, da fahren sie hinein in die Kinderwelt wie der Hans von Rodenstein in den Odenwald. Zumeist verstehen sie auch keine Zucht zu halten und nehmen zum Prügel ihre Zuflucht. Das ist aber ein schlechter Schulscepter. Sodann wechseln die jungen Lehrer unten und streben weiter, fort von den Abc-Schützen und dem mensa, mensae – und alle halb Jahr flickt ein anderer Lehrling an den Kindern herum. Das ist aber der größte Schaden. Zum Fundamentlegen nimmt man keine Lehrlinge, sondern bewährte Altgesellen, denn wenn's unten nicht taugt und fest ist, fällt oben die ganze herrliche Geschichte ein. Darum unten so stabil wie möglich. Die heilige Ruhe, der kindliche Sinn eines älteren, selbst greisen Mannes, wie thun sie dem Kinderherzen wohl! Gerade so wohl, als wenn's, wie oben, beim Großvater ist. – Aber das gilt als eine verrückte Ansicht, denn es ist ja heute die Hauptsache, daß der Mensch nicht früh genug zum Greis werden kann, und so mancher (nicht alle) »grasgrüne Herr Lehrer,« der frisch von den Seminarbänken eintrifft und dort vielleicht gar noch »Corpsbursche« gewesen, kommt dann über die Flachsköpfe in der Dorfschule, und wirtschaftet wie ein Haarkräusler in den Köpfen herum, daß es zum Erbarmen ist. –

Item: Ich hatte das Glück, als Lehrer einen lieben Greis zu haben, der unter uns wie ein Vater wandelte. Wir lernten das Abc und Rechnen vortrefflich. Arbeit und Erholung gingen Hand in Hand; merkte er, daß unser Kopf abgelaufen war wie ein Fadenwickelein, dann erzählte er eine Geschichte. Am Schluß der Schulstunde gab's für die Braven einen neuen Kreuzer, mit dem wohlgemeinten Rate: »Kauf dir dann und wann einen Kreuzerweck dafür, gieb aber ja nicht alles auf einmal aus.« Rief einer: »Herr Rat, mein Feder geht gar nit,« dann antwortete er: »Mußst sie halt führen.« Am Schluß des Schuljahrs kam das Examen. Da wurden wir alle im Sonntagsstaat hinaufgeführt in den großen Saal. Die Lehrer saßen ernsthaft im Kreise unter der großen Tribüne, an der Helm und Palmen als bedeutungsvolle Zeichen angebracht waren. Die Primaner, diese »herrlichen Jünglinge« schon mit dem Flaum um den Mund, schauten mitleidig auf uns »Frösche« herab (denn das Lyceum wurde der »Teich« genannt und die Lehrer höchst unehrerbietig »Teichphilister«), die Reden wurden gehalten vom Herrn Direktor und dann aufsteigend von den Kleinen bis zu den Großen, – die, o Staunen! »Selbstgemachtes« vortrugen, während wir Kleinen hersagten, was »im ersten Lesebuch« stand, z. B.:

Ein Knabe aß, wie viele Knaben,
Die Datteln für sein Leben gern etc.

Die Kleinen hielten sich krampfhaft an der Stuhllehne fest, aber die Großen standen oben und redeten da frisch herunter. Dann kam die Hauptsache: die Prämien. Auf einem weißgedeckten Tisch lagen die Silbermünzen, immer größer werdend mit den Klassen. Der Direktor las die Preisträger. Atemlose Stille. Die armen Abschnapper, vor denen die Thüre gerade vor der Nase zuschlug, oder die mit einem »Laude dignus« als einem blauen Auge, davon kamen! Die große Masse aber kriegte, in großen Waschkörben beigeschleppt, ein ungeheures Milchbrot, welches der barmherzige Schuldiener ohne Unterschied der Konfession und des Fleißes jedem austeilte, in den Klassen, wo der Magen noch nicht mit der »Wissenschaft« sich sättigt. Eine von all den möglichen »kriegbaren« zwölf Prämien hat der Verfasser erobert, die kleinste Ausgabe, eine Jungfrau, die einen Knaben zum Sonnentempel führt. In den späteren Jahren wurde er nur mit Milchbroten bedacht, und zuletzt bekam er gar nichts mehr und war froh, wenn er nicht hinten abschnappte, d.h. nicht sitzen blieb. Wie glücklich waren andere, denen ihre Eltern im voraus eine ganze Schachtel hatten machen lassen zum Ausfüllen, und die alle Prämien errangen! Einmal wäre es mir fast gelungen, als Fünfter einen Preis zu kriegen, da fiel aber just ein Hungerjahr über die Prämien, das Silber war schlecht geraten, und ich fiel durch. Da beschloß ich, von nun an mich mehr in der goldenen Mitte zu bewegen. Wie viel habe ich aber all' den Lehrern zu danken, und wie war's mir zu Mute, als ich an derselben Anstalt später neben den verehrten Herren Lehrern saß und selbst eine Rede von der Rostra herab hielt! –

Neben unsrem Rate König lehrte noch der Rat Koch, ein ebenso würdiger Mann, der Lehrer Sütterlin, ein gemütvoller Oberländer, der immer mit seinem großen Federrohr erschien und die »Examenschriften« schreiben ließ, und Foßler, der tapfre Rechenmeister! Ja, du liebe Zeit! Wenn nur das Kopfrechnen nicht gewesen wäre, das er aus dem ff verstand! Er wußte ja doch schon, wie viel's machte, und wir mußten's für ihn ausrechnen! Viele der Lehrer sind heimgegangen, aber die noch leben, die grüße ich aus Herzensgrund, und bitte ihnen alle meine Dummheit und Bosheit herzlich ab! –

In der Schule gab's nun allerhand Gesellen. Man schließt sich zu dieser Zeit so frisch und rückhaltslos an und frägt nicht viel, woher einer ist, noch ob sein Vater von Adel oder ein Schneider ist. Mich zog's unter anderem auch zu einem hinkenden Judenknaben, der »krumme Elias« genannt. Sein Vater war ein alter Trödler und ein strenger Jude. Der Elias aber hatte eine prächtige Sopranstimme, ich sang Alt und das verband uns. Ich ging auch einmal mit ihm nach Hause, da war alles Mögliche aufgestapelt, Teppiche, Vasen, Waffen, was mich höchlich interessierte. Am allerschönsten war's aber, als mich der Junge überredete, am Freitag Abend zu ihm zu kommen. Wie der greise Vater unter Gebeten die messingene Lampe ansteckte, und wie alles feierte! selbst der Lumpenkram hatte etwas Sabbathliches. Oder wenn Laubhüttenfest kam und wir draußen saßen unter der schnell gepflanzten Kürbislaube und Wein mit Wasser tranken! Auch in die Synagoge kam ich bei dieser Gelegenheit zum Mitsingen, und sah hinunter in den halbfinstern Raum und hörte mit einem gewissen Schauergefühl das dumpfe Gemurmel. Der krumme Elias wurde später Künstler, ich hielt ihm Vorträge aus der Kunstgeschichte. Er ist übers Weltmeer gegangen und hat vielerlei erfahren. Aber er ist indessen ein tüchtiger, braver Mensch und ein treuer Christ geworden, und welche Freude ihn nach vierzig Jahren so wieder zu sehen! als einen Freund nicht bloß, sondern Bruder im Glauben. Welche Lebensgänge in auf- und absteigender Linie!

Die andern Freunde waren die »Nachbarsbuben,« mit denen man sich traf und spielte. So viel wir auch »auf« hatten, so war noch Zeit genug zum Spielen, und das muß ein Kind auch haben. Im Spiel kommt der Charakter zu Tage und schleift seine Ecken ab. – Sonst aber hatten wir noch Freunde, deren Eltern mit den unsern befreundet oder bekannt waren, die wir auch mit nach Hause bringen durften. An Sonntag Nachmittagen kamen sie oder wir zu ihnen. Es ging dabei ziemlich einfach her. Zu vier Uhr Butter, Brot und Äpfel, oder eine Schokolade, aber nichts von Kuchen oder gar Eis, wie heutzutage sich's die kleinen Herrschaften spendieren. Das fast »Unerreichbare« war, als einmal am Geburtstage eines Jungen »Merinkentorte« kam. Trotz des guten Appetits war doch das Essen Nebensache. Wir waren unsrer vier Brüderpaare, die zusammen hielten und im Alter uns entsprachen. Den Geist aber, der uns beseelte, kann ich nicht besser schildern, als wenn ich hier als Schluß eine Reisebeschreibung folgen lasse, die ich zu Nutz und Frommen reiselustiger, deutscher Büblein in die Zeitschrift: »Deutsche Jugend« seiner Zeit geschrieben.


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