Emil Wilhelm Frommel
Aus der Chronik eines geistlichen Herrn
Emil Wilhelm Frommel

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Aus dem untersten Stockwerk

Erstes Kapitel

Dem geneigten Leser zum Gruß. Unser Haus.

Als der Verfasser seinen vierzigsten Geburtstag feierte (an welchem bekanntlich die Schwaben ihren richtigen Verstand kriegen und gescheit werden, denn sonst bleiben sie eben so dumm wie die andern Bewohner des heiligen deutschen Reichs), sollte er abends zum Danke für all die schönen Sträuße und Glückwünsche ein Stück aus seinem Leben erzählen. Nun giebt's aber kein wonnevolleres Stück darin, als den Morgen, zumal wenn's bei Einem stark auf den Abend geht. Da war alles so frisch und duftig, so voll Tau und Sonnenschein, da und dort auch ein Stücklein Nebel und Wolken dazwischen; Wahrheit und Dichtung, Selbsterlebtes und Gehörtes geht da bunt durcheinander. Denn manchmal ruft der Bruder beim Erzählen: »halt, das bist nicht du, sondern ich gewesen,« aber 's ist Einem doch, als hätte man's selbst erlebt. So nahm ich denn den Morgen vor zum Erzählen oder auch das unterste Stockwerk, die Zeit vom ersten bis zum zehnten Jahr. Denn dann zieht man hinauf in den nächsten zehn Jahren in den Zwischenstock; darnach in die Beletage, die die Zwanziger und Dreißiger umfaßt, dann geht's schon in den vierten Stock, und so immer höher hinauf in den fünften, sechsten und siebenten, und je höher hinauf, desto beschwerlicher das Treppensteigen, aber auch immer näher und höher dem Himmel zu. Und von oben herunter sieht man auf das Treiben der Menschen herab; die kommen Einem, je höher hinauf man gezogen, desto kleiner da drunten vor in ihrem Rennen und Treiben. Man gedenkt aber daran, wie man sich selber einst auch da herumgetrieben zwischen Menschen, Pferden und Wagen durch; den Ball gespielt und unbesorgt seinen Tanzknopf den Spaziergängern zwischen die Beine gejagt, und kann sich auch wieder freuen an all dem bunten Treiben und ist nur froh, daß man's nicht noch einmal durchzumachen hat. Denn zweimal lebt kein Mensch sein Leben gerade so durch, und mit dem »Andersmachenwollen das nächste Mal« ist's auch eine bedenkliche Sache. Zuletzt geht's aber mit dem Geiste aus dem obersten Stockwerke hinauf zur lichten Wohnung, und der Leib zieht wieder ins wahrhaftige Parterre, davon er genommen ist.

Als ich aber so erzählte, baten sie alle, ich möchte es doch 'mal aufschreiben für meine Kinder und für andere auch, als einen Eingang zur »Familienchronik« und zu den »vergangenen Tagen«, die beim Herrn Steinkopf in Stuttgart auf Lager liegen und die er gerne hergiebt. Zugleich sollte das Büchlein auch andern Vätern im deutschen Reich Lust und Liebe machen, von ihrem Leben, ihrer Jugendzeit für ihre Kinder etwas aufzuschreiben als ein liebes Vermächtnis. Und das bei Zeiten, und nicht denken: »du kommst einmal dran, wenn du dich zurückgezogen hast oder zurückgezogen worden bist (was auch vorkommt) – denn da kommt so mancherlei, was es nicht mehr leiden will, als da sind: das Zipperlein am Finger, oder das Zittern an der Hand, oder es kommt der Tod und nimmt die Feder weg. Sie brauchen's ja nicht drucken zu lassen und können's wegschließen, daß es niemand sonst liest. So kam der Verfasser dazu und hat's lange Jahre liegen lassen. Denn man besinnt sich eben doch, ehe man solch ein Stück Eigentum und Heiligtum allen Leuten weggiebt. Aber andere haben ihn ermutigt und vielleicht denkt Eins oder das Andere dabei an seine Jugend zurück. Und wenn in ein altes Auge ein Strahl der Freude käme, oder ein anderer sagte: »So war's bei uns zu Haus auch« und er noch dankbar seiner lieben Eltern gedächte und all des Guten, was ihm sein Gott in der Jugend beschert: und wenn ein anderer zufrieden würde mit seinen alten Tagen und mit den mancherlei Bresthaftigkeiten, die dran hängen, weil er's doch einmal licht gehabt in seinem Leben, so würde es ja das Büchlein schon wert sein.

O du Heimatflur, o du Heimatflur,
Laß zu deinem heil'gen Raum
Mich noch einmal nur, mich noch einmal nur
Entfliehn im Traum!

Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm,
War die Welt mir voll so sehr;
Als ich wiederkam, als ich wiederkam,
War alles leer!

So singt's freilich jetzt im Verfasser, wenn er wieder einmal in die alte Heimat kommt und in seine Geburtsstadt Karlsruhe. Wohl steht sie noch auf demselben Fleck, aber sie ist größer und schöner geworden; die Häuser sind's zum Teil auch noch, alte Bekannte, aber andere Gesichter schauen heraus. Wie anders als damals, wo man auf dem Schulweg des Morgens früh um sieben oder um acht Uhr jeden Hausbewohner kannte in seinem Morgenkostüm! Da schaute im Schlafrock, uns gerade gegenüber, der Herr Kanzleirat zum untern Stock, auf rotes Polster gelehnt, seine Pfeife rauchend heraus und mit ihm im Morgenhäubchen seine Frau. Man zog ehrerbietig seine Kappe herunter und stereotyp klang der Gruß: »Gutemorge Büble, kann'sch dein' Sach?« Ja, das waren manchmal »Gewissenssachen« mit dem Können, und oftmals stieg der Neid auf in dem Gedanken: »Ach, wenn du's so gut hättest, wie der Herr Kanzleirat Strohmeyer, der sein Sach' schon längst kann und nichts mehr zu lernen braucht.« – Dann ging's vorbei beim Flügeladjutanten des Großherzogs, einem alten General, und seinem Bruder, dem Forstmeister; ein Blick in die Stube, ob die Geweihe und Sechzehnender noch alle lebten und am Platz waren, und langsam vorüber an dem weißen Hühnerhund, der's nicht leiden konnte, wenn die Buben sprangen und einen dann für eine Schnepfe ansah und ihnen die Hosen zerriß; am Waldhornwirt vorbei, dem Herrn Hartweg, der unter der Thür stand. Da roch's zu gut nach saftigem Braten und nach kaltem Tabaksrauch aus dem Saal der Stammgäste, in welchem die Pfeifen der Reihe nach hingen wie das Prinzipalregister in der Orgel. Dann bog's um die Ecke in die Lammgasse; da wohnten zwei Nachbarn einander gegenüber. Der eine im Tuchladen, der Herr Nathan Levis im großblumigten Kaftan und rotem Fesch, gelb wie eine Quitte und mit gewaltiger Adler- oder Hobnase, die sich im verjüngten Maßstabe bei seinen Kindern wiederfand. Seine lange türkische Pfeife mit großer Bernsteinspitze rauchend, unterhielt er sich mit dem Nachbar, dem Bäckermeister Vorholz, dem Karlsruher Meistersänger und Freunde Justinus Kerner's, über die Straße herüber. Dann ging's vorbei an dem großen Bogenfenster eines alten Kaufmannshauses, in welchem ein kleiner freundlicher Herr des Morgens, zwischen elf und zwölf Uhr Audienz gab. Er war das Börsenorakel der Stadt, dieselben Herren machten zur selben Stunde ihr »Ständerlein« bei ihm – bis man endlich richtig das Lyceum erblickte.

Jetzt lebt keiner mehr von allen und keiner fragt die hochwichtige Frage mehr: »Büble, kann'sch dein' Sach?«

Vornehmlich hat sich's aber dort geändert, wo der Verfasser das Licht der Welt erblickte, am Spitalplatz. Der lag am Anfang des Stadtteils, den man kurzweg »das Dörfle« nannte; in gebildeter Sprache auch der »Pfannenstiel« genannt, der älteste und auch der ärmste Teil der Stadt. Denn bei meiner Vaterstadt ging's, wie's in der großen Welt geht: die Kultur drängte von Osten nach Westen: das »Dörfle« aber lag im Osten. – Aber auch im »Osten beginnt's zu tagen,« die einstöckigen kleinen Häuser aus Lehm beginnen zu schwinden und da und dort entsteht im Dörfle ein ansehnlicher Baustil. Der einzige Fluß, an dem die Stadt lag, ist ein Nebenfluß des Rheins, nämlich der Landgraben, dessen Quellen sehr im Verborgenen liegen. In alter und auch zu meiner Zeit zog er noch ziemlich unverblümt durch die Stadt und wälzte seine schwarzen Wogen offenkundig. Nachgerade aber wurde der alte Geselle bedeutet, daß er, da ihm jeglicher Sinn für Aufklärung abginge, überbrückt werden müsse – und so ist er denn größtenteils den Augen entschwunden und führt ein unterirdisches Dasein. Zu meiner Zeit aber lag er offen, quer über den Platz, wohl überwölbt, aber man konnte hinabsteigen und – Schiff fahren, was bei dem pestilenzartigen Fluidum für eine Bubennase noch immerhin ein Genuß war.

Das Haus, in welchem wir in den ersten Jahren meines Lebens wohnten, steht heute noch. Später ging ich freilich nie an demselben ohne ein gewisses Gruseln vorüber. An einem Abend – nach Jahren, als wir herangewachsen waren – erzählte auf vieles Bitten der Vater davon. Im untern Stock wohnte nämlich ein städtischer Beamter mit seiner Frau. Die Leute hatten keine Kinder, keine Sorgen, aber auch keinen Frieden, sondern viel Streit miteinander, und oft mußte der Vater herunterkommen und schlichtend zwischen die beiden treten. So ging's Jahre lang. Der Mann hatte etwas Finsteres, Verstecktes an sich, und niemand traute ihm. Er brauchte viel Geld für sich und daher vielleicht auch so mancher Streit. Da, an einem Winterabende, während es draußen stürmte und tobte, war unten wieder Streit. Der Eltern Schlafzimmer lag gerade über dem Schlafzimmer der Leute unten und man konnte fast die Worte hören. Es wurde Mitternacht. Da ertönte ein gellender Schrei und dann wurde es plötzlich totenstill. Die Mutter wachte und rief: »Um Gotteswillen, was für ein Schrei, da ist gewiß ein Unglück geschehen!« Der Vater beruhigte sie, es werde eben wieder wie gewöhnlich Streit sein. »Nein,« meinte die Mutter, »solch einen Schrei habe ich in meinem ganzen Leben nicht gehört, der ging durch Mark und Bein.«

Die Eltern hatten noch nicht ausgeredet, als es draußen vor der Thür leise klopfte. Der Vater stand auf und machte Licht. Draußen stand die hagere, rothaarige Magd der Leute im untern Stock im Nachtkleid, das Entsetzen auf dem Angesicht und sagte: »Ach, Herr Professor, kommen Sie – unsere Frau!«

Der Vater stand auf, weckte noch einige von den Atelier-Herren, seinen Kunstschülern, die oben unter dem Dache schliefen und ging mit ihnen hinunter. In der Wohnstube am Ofen saß der Mann und stierte die Eintretenden an. »Wo ist Ihre Frau?« rief der Vater laut und stark, daß der Mutter oben das Herz bebte.

»Drinnen in der Stube liegt sie, sie hat sich selbst entleibt, nachdem sie mich hat umbringen wollen.« Dabei deutete er auf Wunden an seinen Händen.

»Das ist nicht wahr. Sie haben sie umgebracht!« rief der Vater; damit nahm er das Licht, schloß die Thüre nach dem Gange ab und befahl den drei handfestesten unter seinen Atelierherren, den Mann festzuhalten, der Miene machte, aus der Stube zu gehen. Der Vater ging in die Schlafkammer, das Bild, das sich ihm darbot, war entsetzlich. Da lag die Frau schwimmend im Blute, ein großes Messer in die Brust gebohrt, die Hände durchschnitten. Sie hatte sich offenbar gewehrt, als er das Messer gegen sie führte. – Nachdem der Vater sich von dem eingetretenen Tode überzeugt, schloß er die Kammer ab und schickte zwei Herren nach der Polizei. Gensdarmen kamen, legten dem Manne die Handschellen an und führten ihn ab. Damals war noch andere Gerichtspflege, und der Mann leugnete hartnäckig und behauptete, von seiner Frau angefallen worden zu sein, die sich dann, als sie gemerkt, daß sie ihn nicht töten könne, selbst umgebracht habe. Das war sehr unwahrscheinlich, aber dennoch wäre er fast freigesprochen worden. Da wurde auch die Mutter zum Zeugnis aufgerufen, und sie erzählte von dem gellenden Schrei, den sie gehört. Von dem aber hatte der Mann nichts gesagt, sondern im Gegenteil, sie habe das alles ganz still vollbracht. Als die Mutter ihm aber gegenüberstand, ihm die Stunde sagte, zu welcher es geschehen, da erblaßte er und gestand. Er sollte eben weggeführt werden zum Zuchthause, um gerichtet zu werden, da – auf dem Karren – bohrte er sich einen kleinen Löffel, den er im Gefängnis scharf geschliffen hatte, in die Herzgrube und starb sogleich. Seit jener Zeit war es graulich in dem Hause. Der Mutter ging noch bis in ihr hohes Alter jener Schrei in den Ohren nach. – –

Aber der Platz war auch von Erinnerungen besserer Art durchzogen, denn dort hatte der Vater seine Jugend wenigstens vom zehnten Jahre an zugebracht, und so wurde uns auch jedes Haus lebendig, als ob wir drinnen gelebt hätten. Es war allemal ein Festtag, wenn der Vater aus seiner Jugend erzählte. Einiges steht auch schon in der »Familien-Chronik eines geistlichen Herrn« zu lesen. Aber ich hole hier noch etliches nach. – Der Vater war auf Schloß Birkenfeld geboren auf dem Hunsrücken, der, damals zur sponheimischen Grafschaft gehörig, badischen Gebiets war. Der Großvater, der dort markgräflicher Baumeister war, wurde im Jahre 1799 nach Karlsruhe versetzt und zog mit seiner Familie dahin. Da war allerdings die schönste Zeit für den Vater vorbei. Denn auf Schloß Birkenfeld war Freiheit, Wald und Feld ringsum; zwischen Pferden, Kühen und Schafen und Hühnern trieben sich die »Buben« des Landbaumeisters mit denen des Forstmeisters und Gerichtsaktuars herum, dort zogen die Franzosenscharen unter General Ney durch – und da gab's immer was zu sehen (wenn auch manche Angst dabei war), was einen Buben interessierte. Nun auf einmal herunter in die enge, gradlinige Residenz, damals eine Stadt mit 12000 Einwohnern, wo jeder den andern kannte. Statt des Hauslehrers, der den gerade nicht gelehrten Namen »Ochs« führte, mit dem sich allenfalls noch über die Stunden reden ließ, ging es in die Schule, in das damalige »Lyceum illustre« was nicht weit vom Spitalplatz war. Da gab's gleich die ersten Thränen bei den gestrengen Lehrern und bei den Mitschülern die ersten Kämpfe. Denn es war in Karlsruhe nicht anders als wie in andern Schulen: man mußte sich den Einlaß erkämpfen. Es geht dem Büblein wie dem Hahn oder Meister Gockler, der auf einen fremden Hof oder Dunghaufen kommt und sich in manchem ritterlichen Strauß erst das Hausrecht erobern muß. Ein Umstand aber verschlimmerte die Sache gewaltig. Der Großvater, der seiner Zeit lange in England gewesen, hatte eine besondere Vorliebe für jenes Land und seine Sitten. So kleidete er auch seine Buben englisch. Ein blaues, feines Wämschen über der Brust, den Hals offen und den weißen Hemdkragen breit über das Wams gelegt, weiße Pantalons und Schuhe; auf dem Kopfe aber nur kurz geschnittene Haare und sonst nichts darauf, kein Hut und keine Mütze: so zogen zum Schrecken der Karlsruher Lyceisten die englisierten Hunsrücker auf. Denn die Karlsruher »Herren Buben« trugen große lange Überröcke mit gelben Aufschlägen am Kragen und an allen Ecken des Rockes, welcher bis über die Kniee ging; gelblederne Beinkleider, die über dem Knie zugeknöpft waren, große Stulpenstiefeln und schwarze hohe Halsbinden, aus denen der Kopf mit Mühe herausschaute. Oben auf dem Kopfe pomadisierte und gebrannte Locken und – lange Zöpfe, die bis auf den Boden reichten, wenn sie das höchste Maß der Schönheit hatten, auf dem Kopf ein dreieckiger Hut im Sommer, und im Winter eine dicke Pelzkappe mit langem, oben überliegendem Fuchsschwanz – so stiegen die Eingeborenen daher. So kam's denn bald zu Schlägereien, und die Zöpfe der Schulfüchse mußten gehörig dran glauben, bis endlich Friede ward. Um zehn Uhr erhielten die Reicheren ein Frühstück, bestehend in einem Glas Wein und einem Stück warmem Braten, das die Bedienten im Schulhofe servierten. Oft erzählte uns der Vater, wie die andern minder Reichen um zehn Uhr zu einem Bäcker wanderten, der in der Nähe des Luceums wohnte. Der backte »Salzwecke« und »Hörnle« so duftig, und ums Neujahr herum die »Dambedei« Männlein und Fräulein in Bretzelteig. Da passierte es ihm einmal, daß er über dem Backen einschlief und die ganze »Backet« von Dambedei rein schwarz wurde. Die Frau schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als sie den Schaden besah und rief: »Mann, 's isch alles hin.« – Er aber besann sich und sagte: »Mutter, geh hinaus und rupf' dem Gockler seine schönsten Federn aus.« Kopfschüttelnd Hing die Frau hinaus, und bald hörte man das Gewinsel des Hahns. Sie brachte die Federn. Der Bäckermeister nahm sie, setzte eine um die andere auf das Haupt seiner schwarzen Legion und wartete, bis er den ersten »Buben« zur Schule, gehen sah. Den rief er herein und gab ihm eins von den Prachtexemplaren zum Präsent und sagte: »Büble, heut ist Dreikönigstag, da hat's lauter Mohrenköpf gegeben, da hast du einen; sag's nur den andern.« Das Büblein bewunderte den schwarzen Mohren und zeigte ihn zum hohen Ergötzen in der Schule. Um zehn Uhr aber stürmte die Jugend die Bäckerei; alle wollten »Mohrenköpfe« haben. In wenig Minuten war der ganze Vorrat aufgeräumt. Schmunzelnd sagte aber der Bäcker: »Siehst du, Mutter, es kommt halt nur auf den Namen an, den man einer Sache giebt« – womit derselbe eine große und zwar nicht bloß eine »Bäckerwahrheit«»ausgesprochen. – So trocken und philisterhaft die damalige Stadtjugend aussah, so spukte doch in den pomadisierten, zopfbehafteten Köpfen allerhand Bubenmutwillen. In der Residenz war auch ein Theater und da hineinzugehen eine Hauptfreude. Aber woher das Geld nehmen und doch nicht stehlen? Da gab's nur ein Mittel, das war: selbst mitspielen. Freilich stand keiner von den Buben auf dem Theaterzettel, sondern sie kamen unter die Rubrik: »Volk etc.« Unter anderem war ein beliebtes Stück: »Die Donauweibchen,« in welchem tanzende Säcke vorkommen. Schnell waren die Hunsrücker Jungen bei der Hand, einen solchen mit Empfindung zu spielen. Also hinein in den Sack und dafür das nächstemal ein Freiplatz auf dem »Juchhe« im Theater. Aber der verschmitzte Sack war nicht festgenäht und platzte mitten in der Vorstellung beim Tanzen. Der Onkel, der Bruder des Vaters purzelte aus dem betreffenden Sacke heraus vor die zuschauende Menge, die ihn sofort erkannte und aus einem Munde erstaunt rief: »Das ist ja Frommels Edeward!« Das gab zu Hause eine Scene und die Bretter wurden für lange Zeit verboten. – Aber das Theaterspielen war doch zu verlockend. Schillers »Räuber« waren dazumal ein höchst beliebtes Stück, und vornehmlich das Räuberleben ein Ideal der Schulbuben. Mit »hoher obrigkeitlicher Bewilligung« wurden denn auch auf einem Liebhabertheater in der damaligen »Affengasse« von Schülern die Räuber aufgeführt. Die Hauptschwierigkeit bestand allerdings darin, die einzige weibliche Person, die in dem Stücke spielt, zu engagieren, sich unter die Räuber zu wagen. Endlich unter vielen Versprechungen verstand sich auch die Cousine eines Räubers dazu, die Rolle der »Amalia« zu übernehmen. Die Zettel wurden ausgegeben, ein mäßiges Eintrittsgeld festgesetzt, das Haus war ausverkauft und die Vorstellung begann. Im dritten Akte aber wäre fast gar das Stück zu Falle gekommen. Als die Räuber ihren großen Gewinn überschlugen, wollten sie sich dafür Würste und Schinken und Bier als »räuberwürdiges« Mahl kaufen, Amalia aber wollte für sich Torten und Eingemachtes haben, und als die Jungen das nicht wollten, lief sie hinüber auf den Hof und setzte sich auf eine Holzbeuge, weinte und sagte: »Ich spiel nimmer mit.« Es bedurfte des ganzen Aufwands der Beredsamkeit Karl Moors (meines Onkels), um sie zu bewegen wieder zu kommen; sie sollte »ihr Sach' apart haben.« Das Stück ging dann zu Ende. – Aber das Ende war noch nicht da. Bei der großen Mehrzahl hatten die Räuber festen Fuß gefaßt. Die Flinten und Säbel, die Schlapphüte waren ja schon vorhanden, Geld auch, das Räuberlied einstudiert – was fehlte da noch? Nichts, als daß man die wohlgelungene Sache auch einmal im Ernst ausführte. Etwa fünf Stunden von Karlsruhe lag die alte verfallene Burg Ebersteinburg, damals im dichtesten Wald liegend, ein herrlicher Schlupfwinkel für Räuber. – Die Kleider wurden in ein einsames Wirtshaus vor dem Stadtthor gebracht; damit der Thorwart nichts merke, zog man zu verschiedenen Stadtthoren einzeln hinaus und sammelte sich in jenem Wirtshause. Dort wurden die Kleider angezogen, in der Nachtstille durch die Ortschaften marschiert und in der Mitternacht langte die Bande oben auf Ebersteinburg an. Am frühen Morgen, nach den Schauern in dem alten Verließ, wurde die Burg in Verteidigungszustand gesetzt, der Eingang mit großen Steinen verrammelt und Wachen ausgestellt. Dann wurde ein Feuer angezündet, Eier gesotten und Kaffee gekocht und die Würste von der Vorstellung her vollends verzehrt. Am folgenden Tage wurde ein nächtlicher Ausfall auf das Dorf Ebersteinburg beschlossen, um dort einiger Gänse habhaft zu werden und diese dann kunstgerecht zu braten. Der Überfall wurde mit großer Schlauheit ausgeführt und gelang. Droben auf der Burg wirbelte der Rauch über der ermordeten Gans in die Luft und die Bauern wurden aufmerksam. Die beraubte Bäuerin erhob ein Wehegeschrei bei dem Vogt. Einer von den Bauern wollte sich hinauf zur Burg machen, wurde aber von der Wache mit einem blinden Schuß empfangen. Die Räuber stürzten gleich alle hervor und im Todesschrecken lief der Mann zum Vogt und schrie: »Es sind Räuber da oben, wahrhaftige Mordbrenner!" Der Vogt ließ Sturm läuten und holte den Gensdarmen, der bereits von der Residenz aus avisiert war, »ob man keine Buben gefunden hätte.« Langsam zog die Schar mit Dreschflegeln und Mistgabeln und alten Nachtwächterspießen unter Anführung des Gensdarmen hinauf zur Burg. Den »Räubern,« die vom Wartturm aus zusahen, wurde doch bänglich zu Mute. Nach kurzem Kriegsrate beschloß man, sich aus dem Staube zu machen. Aber der kriegskundige Gensdarm hatte wie ein kluger General den Bergkegel umstellen lassen, damit ihm keiner der Vögel entwische. So fielen denn die meisten den Bauern in die Hände, ihrer Sechse aber, und darunter mein Onkel, entwischten, indem sie von den hohen Tannen hinabkletterten und unten übel zerschunden ankamen. Dann liefen sie Karlsruhe zu. Kurz vor dem Thore trafen sie mit den andern Malefikanten zusammen, die per Schub gefahren wurden und ihnen zuriefen: »Mir hen doch noch fahren dürfen!« – Was es daheim absetzte, kann sich der geneigte Leser selber denken, nebst der Standrede in der Schule. Einer aber kam am schlechtesten dabei weg, der doch gar nicht dabei gewesen: das war der Dichter Friedrich von Schiller, der den jungen Leuten die Köpfe verrückt gemacht haben sollte. Mein Vater ist nicht mit dabei gewesen wegen eines kranken Fußes, und segnete sich, daß er am Fuße gepackt worden war. Von diesen Geschichten war uns die ganze Umgegend, in der wir wohnten, wie von einem lebendigen Sagenkreise umhüllt. Freilich fand sich vieles nicht mehr vor zu unserer Zeit, was damals noch existierte. Daß auf dem Marktplatz, wo jetzt die geheimnisvolle Pyramide steht, und drin das Herz des Erbauers der Stadt, um die nur trotz des Verbots so oft nach der Schule »Fangerles« spielten, die Stadtkirche stand und ein großer Kirchhof war, wollte uns nicht in den Sinn, noch daß der Wald ganze heutige Straßen einst bedeckte.

Dort am Spitalplatze wohnte der ehrwürdige Meister Haldenwang, der berühmte Kupferstecher und Lehrer des Vaters, und hinten dran lag der Zimmerplatz des Ratszimmermeisters, Herrn Küntzle, auf dem der Vater oft gespielt; in der nächsten Straße das Haus der einen Großmutter. Denn was nicht jedem passiert: ich hatte ihrer drei – während sonst jeder andere deutsche Mensch nur zwei hat. Wie das kam, erfährt der Leser im nächsten Kapitel. Nur so viel will ich noch sagen zu diesem ersten: als ich nach dreißig Jahren in meiner Vaterstadt angestellt wurde und die Stadt in besondere kirchliche Distrikte eingeteilt wurde, da fiel mir, als dem Jüngsten, dieses Stück Jugendland zu: »das Dörfle«, und es gereichte mir zur absonderlichen Freude und ist's bis zum heutigen Tage noch, daß ich einen Teil der Liebesschuld meiner lieben Vaterstadt abtragen konnte und der »Dörflespfarrer« geheißen wurde.


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