Emil Wilhelm Frommel
Aus der Chronik eines geistlichen Herrn
Emil Wilhelm Frommel

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Zweites Kapitel

Etliches vom Großvater und Großmüttern, Paten und andern

Der hundertundsiebenundzwanzigste Psalm, in welchem geschrieben steht: »Wo der Herr das Haus nicht bauet, arbeiten umsonst, die daran bauen,« gilt nicht sowohl dem Hause, das der Zimmermann mitsamt dem Maurer baut, als vielmehr dem, das aus lebendigen Bausteinen, alten und jungen, aus Großvätern, Vätern und Enkeln besteht (wiewohl es allwege eine gute Sitte bei den Zimmerleuten ist, den Hut zu lüften und den großen Baumeister der Welt zu bitten, beim Aufschlagen des Hauses gegenwärtig zu sein). In das Haus der Familie wächst aber das Kind hinein und weiß nicht wie, aber gut ist's, wenn es hinterher sich drum kümmert und von der Familie zu sagen weiß.

Zu Frankfurt am Main residierte noch zu Anfang dieses Jahrhunderts eine Großtante des Vaters, die sich dorthin verheiratet hatte. Als sie deshalb aus dem Badischen verzog, stellten ihr des »durchlauchtigsten Herrn Markgrafen zu Baden und Hochberg, hochfürstlichen Oberamts Durlach gnädigst verordnete Oberbeamte« auf kunstvoll geschriebenem Pergament den Geleit- und Empfehlungsbrief aus, »dem hochwohlweisen, hochedelgeboren, »hochstrengen Rat der freien Stadt Frankfurt kund zu »wissen gethan, daß die Juliane Margarete Frommel »ein rechtmäßig Kind sei. und in heiliger Taufe der »lutherischen Kirche einverleibt, mithin von uns allen »als ein wahres, rechtes Ehekind gehalten worden ist »und noch jetzt gehalten wird. Sie ist auch weder diesseitiger »höchster Landesherrschaft noch sonsten jemand »mit einiger Leibeigenschaft anverwandt und zugethan, »sondern derselben vollkommen frei, los und ledig, daß »sie also Bürgerrecht suchen und annehmen kann, wenn »und wo ihr gefällig. Was übrigens ihre Aufführung »betrifft, so ist uns davon nichts Widriges, sondern »alles Gutes bekannt, daher wir auch dieselbe der hoch»löblichen p.p. Obrigkeit zu Frankfurt am Main zu »geneigtester Aufnahme bestens rekommandieren.« So war sie ausgewandert mit ihrem Manne, dem Herrn Cornelius Pilgram, und hatte ihre Hochzeitreise in Begleitung des Friseurs Mack gemacht, der von Frankfurt entgegengereiset kam, um das Landmädchen mit reglementsmäßigen Toupées zu versehen, damit sie würdig in Frankfurt einziehe in das Haus »zum trierischen Eck.« Herr Pilgram aber trug »bei solcher Gelegenheit einen himmelblauen Frack, knappe Beinkleider und seidene Strümpfe,« laut der Hochzeitschronik.

Diese besagte Großtante Pilgram war das Familienorakel in Betreff der Verwandtschaft. Wehe, wenn einer der Familie unter dem Heer von Onkeln, Tanten und Vettern sich nicht zurecht zu finden wußte! Das war zehnmal schlimmer, als wenn ein Büblein in der Schule aus Angst die deutschen Kaiser unter einander schmeißt. Der Vater hatte einst bei einem Besuche in Frankfurt von der Tante eine saftige Ohrfeige empfangen, weil er im Familien-Stammbaum nicht Bescheid wußte, er warnte im Andenken daran vor Schaden und weihte uns möglichst in die Stammtafel der Familie ein. Mit Ehrfurcht sahen wir daher in Durlach an dem Marktplatze an dem Markgrafen mit der roten Tasche hinauf, (der weiland dort auf dem Brunnen stand und leider vor etlichen Jahren auswandern mußte) – denn mit diesem Markgrafen sollte auch unser Familienbaum und erste sichere Kunde über das Haupt der Familie beginnen. Über den hinaus aber ging eine dunkle, graue Sage. Die einen behaupteten: aus Italien sei der erste des Namens gekommen, natürlich ein tapferer Ritter und Edelmann; die andern aber, aus Schweden sei er her. Bis zum heutigen Tage ist der Streit noch nicht geschlichtet. Fußend aber auf einer dunkeln Mär, daß früher auf den Kornsäcken der Söllinger Urväter des Geschlechts sich der Name »Frommheld« befunden, wurde das Wappen acceptiert: Kreuz und Schwert, im blauen und roten Felde. Tante Pilgram aber wußte das alles genau und hielt darauf, daß andere es auch wußten und jeder den gehörigen Respekt vor der Familie habe. Das kommt einem nun heutzutag freilich ziemlich altmodisch vor, wo man kaum noch das Geschwisterkind als »Verwandtes« gelten läßt und man durch das leidige Herumwandern in der Welt einander kaum mehr kennt, so daß es leicht passieren kann, daß sich zwei Vettern im Eisenbahncoupé die schönsten Grobheiten sagen, und schließlich mit »einiger Befriedigung« merken, daß sie denselben Großvater hatten, der sich gewiß wenig über die Enkel gefreut hätte. Damals spannte man aber den Zirkel weiter und hieß in den Familienkreis noch viele kommen, wenn sie auch kaum mehr einen Tropfen Familienblut in sich hatten. Waren sie auch Nach-Nach-Nachgeschwisterkind und angeheiratet dazu, so hießen sie doch immer noch »Herr Vetter« oder »Jungfer Nase,« und man »vetterte und baste« sich leichter durch die Welt, als wenn man heutigen Tages so wildfremd an die Häuser klopft. Dem heurigen Geschlecht thut aber ein wenig mehr Familienachtung und Liebe not, wenn es nicht ganz zerfahren soll. 'S ist eben doch was andres, wenn man weiß, auf welchem Ast des Familienbaumes man als Blättlein festsitzt, als wenn man so geschichtelos vom Winde verweht wird.

Darum horchten mir auch hoch auf, wenn der Vater von dem alten, ehrwürdigen »Schulz« von Söllingen sprach, von welchem ich in einer badischen Chronik vor kurzem zu meiner Freude unter dem Titel:

»Von einigen besonders verdienten Einheimischen und wenigen Fremden bezüglich auf die Zeit Karl Friedrichs,« folgendes fand: »Frommel, Schultheiß zu »Söllingen, ein denkender Kopf, nicht nur mit ausgezeichneter Anwendung seiner praktischen Kenntnisse in »der Landwirtschaft, sondern auch mit Sinn für alle »bürgerliche Ordnung. Der Markgraf ehrte ihn mit »öftern Unterhaltungen. Frommel war voll Anhänglichkeit »zu seinen Fürsten, hielt übrigens fest an seiner »einfachen Lebensweise des Landmanns. Starb in den »1750 er Jahren« – das war aber der Vater der gefürchteten Tante Pilgram zu Frankfurt und der Urgroßvater meines Vaters.

Alle Jahre wurde drum eine Fahrt nach Söllingen gemacht zum alten Stammhause, das ich noch lebendig vor mir sehe, mit seinem breiten, handfesten Hofthor, dem weiten Hof und den großen Scheunen. Wohl war's schon in fremdem Besitz, aber die Namenszüge der Familie, die einst drin gewohnt, standen noch über dem Thor.

Einen richtigen Buben interessiert freilich die lebendige Gegenwart mehr als die Vergangenheit, und erst später konnte ich mich freuen, von den Alten zu hören. Zunächst aber ragte die Gestalt des Großvaters ehrwürdig und mild herein ins junge Leben.

'S ist ein wunderbar Ding um solch einen Großvater und seinen Enkel. Sie haben beide einen eigenen Zug zu einander. Das Kind fühlt sich da so sicher und gut aufgehaben, nicht so rasch und derb angefaßt und aus seinem Spiel gerissen, wie manchmal der Herr Vater thut, der eben von der Arbeit kommt und nun auch »seine Freude« an dem Buben haben will. Bei beiden liegt die Röte über dem Lebenshimmel, bei dem Großvater die Abendröte und beim Enkel die Morgenröte. Beide haben einander nichts vorzuwerfen. Hat der Großvater seine Haare verloren, so hat sie der Enkel noch nicht bekommen und die zwei Kahlköpfe schauen einander vertraulich an; fehlt dem Großvater so mancher liebe Zahn – so weist der Enkel das zahnlose Mündchen. Der eine hat Schmerzen beim Kommen, der andere beim Gehen der weißen Müller. Der eine hat nicht weit vom Himmel, denn in des Enkels Auge glänzt so was von oben her, und der Großvater nicht weit zum Himmel, und solch ein Auge leuchtet auch – kurz die vier Augen schauen sich verständnisvoll an, und wenn der Großvater den Enkel auf dem Schoße hat, und dieser mit seinen Ärmchen hinaufgreift, ist's nicht anders, als wenn der junge, grüne Epheu sich um einen alten Stamm oder Gemäuer schlingt, und als wollten die beiden sagen:

Mein Herz und auch das deine
Verstehen sich gar gut!

Oder hat der Großvater oder die Großmutter nicht so ein verborgenes Schublädlein im Schreibtisch, wo »Gutzele« drin sind? Und haben sie nicht ein blankes Gröschlein oder Kreuzerlein, das ihnen in den Weg kam, arretiert und aufgehoben, dem Enkel bei einer feierlichen Gelegenheit zu überreichen? Zumeist giebt's auch dort keine Schläge und keine Rüben noch Bohnen zu Mittag und das Kind braucht nicht zu singen, wie wir so manchmal zu Hause:

Rüben, Rüben, Rüben!
Die haben mich vertrieben;
Hätt' meine Mutter Fleisch gekocht,
War' ich länger blieben!
Bohnen, Bohnen, Bohnen
Sind meines Herzens Kronen!

So ist denn das Großelternhaus allewege ein vom Kinde gesegnetes. –

Der Großvater väterlicherseits, meines Vaters Vater, steht mir noch lebendig vor der Seele. Sein Zimmer lag nach dem Garten hinaus, freundlich und heiter wie er selbst. Der Großvater war von imposanter Figur; das volle silberweiße Haar deckte den männlich schönen Kopf des hohen Siebzigers; unter den dichten Augenbraunen schauten zwei kluge, sinnende Augen voll Milde und Freundlichkeit hervor; um den Mund spielte ein schalkhafter Humor, mit größtem Wohlwollen gepaart. Ich sah ihn nie anders, als im langen Rocke und weißer hoher Halsbinde und stehender Weste, die lange Pfeife rauchend. Auf seinem Schreibtisch stand das für mich so geheimnisvolle Ding, eine Zündmaschine. Nicht oft genug konnte er mir das Experiment machen, daß der Platinaschwamm glühte und der Fidibus brannte, nachdem der kleine Knall vor sich gegangen. Auf dem Ofen stand die Kaffeemaschine; den ganzen Tag rauchte er und trank langsam den selbstbereiteten Kaffee. Wie oft mußte später, als die Mutter behauptete, das Rauchen verkürze die Lebenszeit, als Beweismittel dienen, daß man beim Rauchen siebenundsiebzig Jahre alt werden könne, wie der Großvater selig! Der Mutter fiel freilich nicht jener durchschlagende Beweis einer Tante ein, die ihrem Neffen auch das Schädliche des Rauchens vorhielt, indem es das Leben verkürze. »Aber,« sagte der Neffe, »der Großonkel raucht doch auch immer noch und ist schon achtzig Jahre alt.« »Ach,« entgegnete die Tante, »dummes Zeug! der wäre schon neunzig, wenn er nicht rauchen thäte!« Womit also das Rauchen, als ein abscheuliches Laster, gebrandmarkt sein soll. Aber das Schnupfen ist noch viel abscheulicher, meint der Verfasser, der leider an dem ersten leidet.

Der Großvater hatte ein Angesicht wie eine schöne Abendlandschaft, die im Sonnenstrahl nach einem Gewitter vor einem liegt. Denn gewettert hatte es ja freilich in diesem Leben, und über der schönen Stirne hin lagen noch so ein paar Wölklein stille gelagert. – Droben im Oberlande geboren, ein munterer Pfarrersbub, wanderte er ins Gymnasium zu Lörrach. Da geschah's in seinem vierzehnten Jahre, daß der Markgraf Karl Friedrich, der seinen zwei Augen und Ohren mehr traute als denen andrer Leute, selbst das Gymnasium visitierte und Examen abhielt. War's doch die Jugend, auf die er hoffte, um sein Volk zu einem wahrhaft »christlichen, glücklichen und opulenten« zu machen. Da traf er denn auch den Pfarrersbuben an und fühlte ihm auf den Zahn. Als der klug und geschickt antwortete und in mathematicis und physicis ordentlich Bescheid wußte, notierte sich ihn der selige Markgraf, und bald kam ein Brief aus der geheimen Kanzlei an den Pfarrer zu Bettberg, des Inhalts: Ob er Willens sei, seinen Wilhelm herzugeben, dann wolle der Herr Markgraf ihn nach England senden, damit er dort die Rechenkunst und Sternseherei gründlich lerne. – Der Pfarrer von Bettberg dachte aber: »Das kommt nicht von ungefähr sondern von dem Herrn, der der Menschen Herzen lenkt wie Wasserbäche.« Hatte er doch acht Kinder, die alle etwas werden wollten und dem Vater bis dahin noch die Füße unter den Tisch streckten und alle Mittag nach ihrem Löffel griffen, ohne zu fragen, wie teuer der Malter Weizen und das Pfündlein Butter auf dem Lörracher Markt stehe. – So schrieb er denn einen Dankbrief nach Karlsruhe, und der kaum fünfzehnjährige Knabe ging aufs Schiff nach England und verblieb dort etliche Jahre. Das war aber für sein ganzes Leben von Segen. Er sah, daß die Welt noch größer sei, als die obere Markgrafschaft, und es noch andere Leute in der Welt gebe, als den Herrn Obervogt von Lörrach. Das eben aber wollte der selige Markgraf, der selbst weit gereist war und einen großen, freien Blick hatte für alles Gute, was in andern Ländern sich fand. – Dann war er heimgekommen und sollte auf der Sternwarte in Mannheim nach den Sternen schauen, ob sie alle in der Ordnung seien und keiner die Kreuz und die Quer laufe. Aber das sagte ihm doch auf die Länge nicht zu und sein Sinn stand zur Baumeistern. So ward er denn Baumeister und zog als markgräflicher Beamter hinauf nach Birkenfeld, wo wir ihn im vorigen Kapitel trafen. Nachdem er fast alle Habe im Kriege verloren, kam er wieder ins Land nach Karlsruhe und wurde zuletzt Oberbaurat. Dort verlor er seine Frau, die mit ihm treulich alle Not geteilt. In der Blockade von Straßburg stürzte sein jüngster Sohn mit dem Pferde und sank nach langen Leiden im blühenden Alter ins Grab, nachdem er ahnungsvoll in einem Gedicht sein eigenes Begräbnis, Wochen zuvor, aufs genaueste beschrieben. Dort in Baden-Baden auf dem Kirchhofe in der Seufzerallee liegt er zu Füßen des schönen Kruzifixes begraben. Dieser Tod war ihm nahe zu Herzen gegangen. In dies Dunkel hinein blickte aber wie ein lichter Sonnenstrahl unser Vater, der im innigsten Freundschaftsverhältnis zu seinem Vater stand. Gegen die Sitte der damaligen Zeit, da man die Eltern aus Ehrfurcht »Sie« nannte, hatten die beiden das trauliche »Du« behalten. Jeden Tag ging Vater zum Großvater, Jahr aus Jahr ein. Der Großvater war des Vaters bester Freund. Wenn ich die beiden sah und später meinen Vater davon reden hörte, war's mein innigster Wunsch, ich möchte doch auch meines Vaters Freund so werden, wie es beim Großvater war. Und es ist gottlob auch so geworden, und die Liebe nimmt dabei nicht ab noch die Ehrerbietung; und wenn man gleich selber alt wird und sein eignes Haus und Kinder hat, so ist's doch was Besonderes von Güte Gottes, solch einen betagten Vater und Mutter noch zu haben, die einen von Jugend auf kennen und daher vieles an den Augen schon abmerken, ohne daß man ein Wörtlein zu ihnen sagt. Aber wenn solch zwei alte, treue Augen, die uns von Jugend an angeschaut und geleitet, brechen, da bricht eben vieles mit und man fühlt dann erst recht, daß man in dieser Welt keine Heimat hat. –

Des Großvaters Lebensabend neigte sich. Noch erinnere ich mich dunkel des Ehrentages, den er als letzten Sonnenblick erlebte, seines fünfzigjährigen Dienstjubiläums. Wir wurden festlich gekleidet und mit Blumensträußen bewaffnet, und kamen des Morgens in der Frühe zur Akademiestraße, wo der Großvater wohnte. Der Großvater sah so feierlich und so friedlich aus und dankte jedem so herzlich für alle Liebe. Den tiefsten Eindruck machte mir aber, daß der selige Großherzog Leopold ihm den Zähringer Löwenorden verliehen, der im roten Kästchen auf dem Tische lag. So wußte ich in der Jugend schon, was das zu bedeuten hatte: »der Zähringer Löwe,« und kam nicht in die Verlegenheit, in die einst eine gute Landsmännin geriet, als ihr Mann freudestrahlend nach Hause kam und rief: »Mutter, ich hab' den Zähringer Löw' bekommen!« »Ach,« sagte sie höchst aufgeregt: »ach Vater, wie kannsch du denn so'n Tier mitbringen, wir hawwen ja gar kein Schtall derfür.« Der gute Großvater hatte ihn nach fünfzig Jahren wohl verdient und trug ihn nicht mehr lange. – Nach seinem Jubiläum legte er sein Amt nieder. Sein Bild war ihm und der Familie zum Andenken geschenkt worden, ein treffliches Bild, das in unserer »guten Stube« hing und mich mit seinen Blicken wahrhaft verfolgte, wenn ich was Böses im Sinne hatte. An dem Tage des Jubiläums schrieb er an seine Untergebenen folgenden Brief, der den Großvater ganz bezeichnet:

»Nach dem höchsten Befehl S. K. Hoheit, den ich höchlich dankend verehre, trete ich nach fünfzigjähriger Dienstzeit in den Ruhestand und trete außer Geschäftsverbindung mit Ihnen. Wenn wir auch in unsern Meinungen über Dienstgegenstände nicht immer gleicher Ansicht waren, so bitte ich, wenn ich Anlaß zu Unzufriedenheit gab, um desfallsige Nachsicht und völlige Vergessenheit, zugleich aber auch um Fortdauer der gegenseitigen Freundschaft, womit ich mich bestens zu empfehlen die Ehre habe ec.

Karlsruhe 1836, am 50sten Jubiläumstage 1836.«

Die Antwort der Beamten ist rührend, voll Dank und Anhänglichkeit. – Sein Leben ging von da an still, in der Bereitung zur Ewigkeit. Großvater war ein frommer Mann und voll Verlangen und Sehnsucht nach göttlicher Wahrheit. In einer Zeit aufgewachsen, wo das Gold des Evangeliums selten war, mußte er sich durchkämpfen zum Lichte. Kurz vor seinem Tode schrieb er noch an einen Neffen, den er herzlich liebte, den spätern Dekan in Pforzheim:

»Recht herzlichen Dank für deine guten Wünsche und für dein Gebet um mich. An dem Grab, vor dem ich so nahe stehe, finde ich es so tröstlich, wenn Gute im Gebet sich meiner erinnern und mich mit einschließen; da ich es fühle, wie weit ich mit meinem Werke zur Seligkeit zurück bin, so bitte ich: Zeige mir den Weg, den ich wandeln soll zur Seligkeit, um sie zu erlangen; löse in mir die trüben Zweifel, um mit heiterem Blick und froher Zuversicht mit der Bitte endigen zu können: HERR, in deine Hände befehle ich meinen Geist.« –

Etliche Monate vor seinem Tode hatte er sein Haus bestellt, alles geordnet und wartete auf sein Feierabendstündlein. In seinem Testamente hatte er zu Anfang desselben etliche Worte vorgesetzt, in denen er den Dank gegen seinen Gott niederlegte.

»Wenn es,« so sagt er darin, »der weise Wille unsers gnädigen Vaters im Himmel ist, daß wir, liebe Gattin (seine zweite Frau) und Kinder! uns nach seinem hohen Rate trennen, so laßt uns vor allem kindlich danken für das viele Herrliche, Schöne und Gute, das Er uns verliehen, auch für die Prüfungen, die Er uns, als zum Besten führend, so schonend gab.

Der HErr hat alles wohlgemacht!
Gebt unserm Gott die Ehre!

Wenn wir die vielen vorangegangenen Jahre unseres Vereins wieder durchlaufen, das Schwere und Harte, was Zeitumstände mit sich führten, das Herrliche, das uns daraus zu teil ward, wenn auch das Menschliche nie das Vollkommene zu erreichen vermag, so müssen wir doch mit vollem und gerührtem Herzen sagen:

Er hat alles wohl gemacht,
Er führt uns auf guten Bahnen zum bessern Ziel.
Ehre sei Gott in der Höhe!

Lasset uns unsern Verein diesseits so beschließen, wie wir wünschen, daß er jenseits fortgesetzt werde.

Friede auf Erden!

Denn der Friede ist's, unter dessen Schirm und Schatten das Kleine und das Große gedeiht, er giebt uns die Heiterkeit unseres Wandels in diesem Leben, die Freudigkeit unseres Thuns, den reinen Genuß des vielen Köstlichen, das uns so reich geboten wird.

Den Menschen ein Wohlgefallen;

Alle Güter der Erde, was sind sie? Ein Rauch, der vergeht, wenn sie nicht fruchttragend waren. Geist und Herz sind Rauch, wenn sie ohne das Feuer der Liebe sind. Bedenket es, liebe Kinder und Enkel! – – Laßt mich heimgehen, ihr Lieben, in dem für mich so seligen Gedanken und der Hoffnung, daß ihr auch fernerhin das Band der Liebe erhaltet, wie bisher, daß ihr es noch fester schlingen möchtet! –

Vergebet euch unter einander, wenn ihr fehlt. Tröstet die Traurigen, stehet den Dürftigen bei – liebet euch unter einander, denn Gott ist die Liebe.

Der Friede Gottes, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christo Jesu. Amen.

So kam auch sein Ende. »Weinet nicht und lasset mich ruhen,« das waren seine letzten Worte. Darauf schlief er stille ein. – Am Tage vor der Beerdigung nahm mich der Vater mit ins Sterbehaus. Da stand der Sarg aufgedeckt. Der liebe Großvater lag drin im weißen langen Kleide, die Hände über die Brust gefaltet. Es, war, als schliefe er. – Ich hatte noch keinen Toten bis dahin gesehen, aber ich danke es dem Vater heute noch, daß er mich mitgenommen. Das Bild des lieben, stillen Mannes im Sarge hat mich durchs Leben begleitet. Ich weinte damals, wie Kinder weinen. Sie weinen, weil sie andre weinen sehen, sie ahnen den Verlust nicht; das Leben behält sein Recht, und nach etlichen Tagen, ach vielleicht schon nach Stunden sind die Thränen versiegt und das kleine Herz getröstet. »Wann kommt der Großvater wieder?« so fragte ich und so fragen heute noch die Kinder. – Ach, verstünden wir's recht – wir würden auch so thun, wie die Kinder, und uns müßte sein, wenn eins der Unsern geht, als sei es nur aufgestanden von der Arbeit und ins andere Zimmer gegangen und käme bald wieder. So war der Großvater eine der ersten Gestalten, die ins Leben hinein geragt – und es war eine lichte Gestalt. –


Nur dunkel erinnere ich mich der Großmutter väterlicherseits, der Witwe des Großvaters. Aber das eine vergesse ich ihr nie: daß sie uns Jungen zu Weihnachten hellrote Westen mit Glasknöpfen schenkte, die größte »Neuheit« damals. Wie stolzierte man auf dem Marktplatze am folgenden Tage, mit dem fröhlichen, fragenden Gesicht: Seht ihr denn gar nicht, was ich für eine Weste habe? Sie hätte uns weiß was schenken können, nichts hätte diese Wirkung gehabt.

Lebendiger steht die zweite Großmutter vor mir. Mein Vater hatte seine erste Frau verloren, und aus dieser Ehe stammten Bruder Karl und Schwester Bianca – wir drei Buben waren aus zweiter Ehe. Aber die Mutter der ersten Frau lebte noch und war gegen uns nachgeborne Kinder sehr freundlich und lieb. Sie war damals schon im hohen Alter, die Frau Geheimrätin, ein kleines, zusammengegangenes Mütterlein, in großer gefältelter Haube. Mir fiel immer die Großmutter im Rotkäppchen dabei ein, die der Wolf so ohne weiteres verschlang, und bekam für die dichterische Bemerkung, daß der Wolf es leicht gehabt, wenn sie nur so klein und dürr gewesen wäre, wie unsere Großmutter – von der Mutter eine Ohrfeige. In ihrem Hause war alles höchst altertümlich. Wir aßen je zwei alle Dienstage bei ihr zu Mittag und freuten uns drauf, denn es wurde da »auf Zinn« gegessen, was tiefen Eindruck machte; dann kochte die Großmutter jedesmal das betreffende »Leibessen,« was bei der Verschiedenartigkeit von uns fünfen je nach der Roheit des Geschmacks ausfiel. Bruder Karl blieb beständig bei den »Leberknöpfle.« Sodann hatte die Großmutter frisches Kartoffelbrot, was zu Hause nie erschien; denn die Mutter hielt frisches Brot für »gemeinschädlich,« wir aber für ausgezeichnet und »gar nicht so arg gefährlich.« Die altertümlichen Schränke, die Zimmer mit den großblumigten Tapeten, der beständige Geruch von Wollblumenthee, die behagliche Wärme im Winter und die tiefe Stille im Hause gegenüber unserem unruhigen Treiben, und dazu die stille, gute Frau mit dem etwas wackelnden Kopfe und der zitternden Stimme – das alles verlieh, mitsamt der großen Rassel an der Hausthüre und dem eisernen Klöpfel dran, die jedermanns Kommen avisierten, dem Hause einen eigentümlichen Reiz. Und trotz der Ohrfeige: es war eben doch wie bei Rotkäppchens Großmutter!

Wir waren auch da möglichst brav und still, und hielten uns am liebsten in der Küche auf bei der alten Magd, der Haan (Hanna) und ihrer Freundin »Applone« (Apollonia). War doch die Alte auch schon Ende der Sechziger und hatte bereits das fünfzigjährige Jubiläum bei der Herrschaft gefeiert. Am liebsten war es uns, wenn sie von ihrem Bruder erzählte, der mit den badischen weißen Husaren nach Rußland unter Napoleon gezogen und nicht mehr heimgekommen, sondern dort an der Beresina erfroren sein mußte. Grade dies Dunkel, in das sich dies Leben verlor, was nun allen Phantasien Spielraum ließ, war das Interessanteste dabei. Konnte er denn nicht am Ende gefangen und nach Sibirien verbracht, dort ein reicher Pelzhändler geworden sein und an einem schönen Tage zu seiner Haan – und der Applone, die seine Braut war, heimkehren? Als ich später Bürgers Leonore »um das Morgenrot herumfahren« sah, dachte ich immer an den weißen Husaren an der Beresina und die »Applone.« – Bei der Großmutter wohnte noch eine alte Tante, eine verwitwete Frau Doktorin, die mit uns Buben ihre kleinen Späße hatte und auch nach der Großmutter Tode uns noch eine Weile erlaubte zu kommen. – Dann wurde das alte Haus verkauft mit seinem schönen terrassierten Garten und den herrlichen Stachelbeeren und Johannistrauben drin – eine kleine, stille Welt verschloß sich für uns! Ach, wie manches Haus hat sich seit jener Zeit für uns geschlossen! 'S war immer ein interessantes Spiel, am Abend ein altes Papier zu verbrennen und dann in dem verkohlten Papier die einzelnen Sternlein laufen und verschwinden zu sehen; »die Nonnen, die in ihren Zellen ins Bett gehen, und die letzte, die's Kloster zumacht,« sagte die alte Wartfrau. So ist mir's jetzt, – ein Fünklein nach dem andern erlischt, jedes sucht nach dem andern sein Ruhebettlein; es kommt der Letzte, der schließt das Haus zu.

Aus diesem Hause stammte auch mein Herr Pate, ein tüchtiger, treuer Mann, still und friedfertig lebte er in Straßburg. Von ihm habe ich sechs silberne Löffel als Patengeschenk erhalten, die mir an hohen Festtagen gezeigt wurden, um dann wieder zu verschwinden. Zogen mir gen Straßburg, dann ward's mir eingebunden: »Besuch' auch den Herrn Paten und vergiß es nicht.« Das that ich redlich, wiewohl ich mich von den beiden dort postierten Hunden immer unangenehm berührt sah. Aber dann nahm mich der Pate mit ins altstraßburgische kleine Wirtshaus am Thomasplatz, wo mit uns noch etliche andere alte Junggesellen vortrefflich »Mümphele« (Mundvoll), d.h. auf Straßburgisch: »gute Bissen« aßen.

Dort in Straßburg wohnte die dritte Großmutter, die Mutter unserer Mutter. – Diese aber flicht sich tiefer ins Leben hinein und von ihr darf ich ein andermal reden.


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