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V

Johanna und das Gepäck kamen zu spät, als daß sie den Mittagszug noch hätten benützen können. So mußten sie bis zum Abend warten.

Sie saßen einander in der Wirtsstube gegenüber; sie fanden kein Gespräch. Gequält sah Johanna den müden schmerzlichen Ausdruck auf Luxens Antlitz. Sie beschlossen einen Spaziergang zu machen und gingen durch die Dorfstraße zwischen Gärten und weiten grasbewachsenen Hügeln hin. Ein einsames zweistöckiges, städtisches Haus stand auf einer Anhöhe, das Bild eines verirrten und verlassenen Lebens.

Lux ging voraus, Johanna schweigend hinter ihm. Sie hatte Lux für sich behalten, und er hatte keine Felonie an ihr begangen – aber was war das Ende?

Das Ende! Hatte nicht schon manches in ihrem Leben geendet? Hatte sie nicht selbst vor einem Jahr gesagt: »Auch das endet!« Aber was sagt man nicht alles, dessen Wahrwerden uns mit starrem Entsetzen lähmt – Spricht man nicht vom Tode, kühl und gedankenvoll – wissend, daß er kommen muß? und mit der Empfindung doch, daß es unmöglich sei? Und er kommt unerbittlich!

Sie mußten sprechen und wechselten freundliche Bemerkungen über die Gegend, aber die Worte fielen schwer von ihren Lippen, und sie verstummten wieder.

Lux blieb zurück, Johanna schritt mit ihren raschen Schritten voraus. Er bemerkte, daß ihr Kleid schlecht saß und ohne Geschmack geschnitten war, daß sie ausgetretene Schuhe trug, daß ihr Haar schlecht frisiert war, daß graue Fäden darin sichtbar waren.

Er mochte gegen sich selbst empört sein, aber er sah dies, und hörte nicht auf, es zu sehen.

Als sie an der Kirche vorüber kamen, läuteten die Glocken, und auf dem Dorfplatz stand der dunkle Wagen; schwarzgekleidete Leute mit ländlichen Zylinderhüten bewegten sich vor dem Eingang eines Hauses; barfüßige Kinder und Frauen sahen zu. Die Glocken läuteten immerfort.

»Sie begraben unsere Liebe« sagte Johanna.

Sie konnten nicht so bis zum Abend warten. Um vier Uhr ging ein Zug in andrer Richtung, und sie nahmen ihn, fuhren eine Stunde ins Gebirge hinein und wanderten dann zu Fuß weiter; das schien das Klügste.

Sie kamen zu einer Herberge und bestellten das Abendbrot; die Lampe wurde auf den Tisch gestellt ... Lux rührte keinen Bissen an. Endlich stand er auf, trat ans Fenster und sah in die Dunkelheit hinaus. Dann ging er auf und nieder, rasch, nervös, ohne aufzuhören. Der Abschied, den er nicht genommen, peinigte ihn.

Johanna sah ihm zu. Ihre Hände hingen schlaff an ihrem Leibe herab.

»Lux!« sagte sie.

Er wandte sich um, der Ton machte ihn betroffen.

»Lux,« sagte sie noch einmal. »Es ist umsonst ... es ist nicht zu retten. Und das Kind geht daran zu Grunde. Geh zurück. Lux!«

»Nein!« rief er heftig. »Es ist an einem Mal genug, – soll die ganze Quälerei von vorne angehen?«

Aber schon stand er still, und sie sah einen Freudenstrahl auf seinem Gesicht ausblitzen.

»Geh zurück,« sagte sie und ihre Stimme klang weich und klagend, »du mußt zurückgehen. Früher oder später wirst du's doch tun. Ich bin selbst an allem schuld. Ich bin eine Törin gewesen. Ich war zu sicher. Es kommt, was kommen muß. Geh – sie erträgt es nicht ... geh jetzt ... denn gehen wirst du ja zuletzt doch!«

Er stand unbeweglich mit verbissenen Lippen und zuckenden Nüstern. Aber er fühlte das eherne Seil, die unsichtbaren Hände, die ihn fortzogen.

»Wir haben alles getan, was wir konnten, Lux ...« sagte sie ...

»Joh!« rief er »Johl« und küßte ihre Hände, ihren Mund, aber sie machte sich los und schüttelte den Kopf.

Er stand noch immer still. »Überlege dir, Johanna ...« sagte er.

»Hast du keinen Willen?« gab sie zurück.

Er erbebte ... »Ich will solch ein Opfer nicht,« sagte sie leise.

»Du willst dich selbst opfern ... du ... Johanna! ...«

»Opfern?! ich will nur dich frei geben – du sollst tun, was du am tiefsten fühlst ...«

Sein Gesicht flammte. Er nahm seinen Mantel.

Da warf sie sich in seine Arme und küßte ihn heiß und brach in ein wildes Schluchzen aus.

Jetzt sagte er finster: »Es ist das Schicksal, Joh, und ich muß gehen – du hast ganz recht – früher früher oder später müßte ich es tun. Aber dem Glück gehe ich nicht entgegen.«

Draußen fragte er nach dem Weg zum Achsee. Man wies ihn in die Berge, und er schritt in die Nacht hinaus.

 

Wie er den Weg durch die Finsternis über Felsen und Brücken und Waldstraßen gefunden, ohne sich zu verirren, ohne zu Tode zu stürzen, das wußte er nachher nicht, und er begriff es auch nicht. Er ging, wie von Schwingen getragen, wie berauscht, in heißer Sicherheit, ohne Müdigkeit zu fühlen, ohne zu zweifeln. Der Dämon, der von ihm Besitz ergriffen hatte, führte ihn. Und sein Weg ward hell und heller; der Mond kam hervor und legte sein Licht über Tal und Wald, und die Brücken und Wege lagen in weißem Glanz und in schwarzem Schatten. Der Fluß, der unten toste, blitzte in Funken auf, bis er ihn verließ und höher stieg über freie glänzende Matten. Weiße Häuser und einsame Höfe lagen in träumendem Schweigen.

Er wußte nicht, wie lange er schon gegangen war – da erkannte er die Wiesen mit den Haselstauden und den einsamen Teich, an dem der tote Wald begann. Bläulich schimmerte das dürre Gezweige und die unzähligen Spinnefäden glänzten hell im Licht ... Nun sah er den See zu seinen Füßen glänzen, der Mond schien voll auf den Tannenwald; der Steg und die weißen Stufen der Treppe, an die das Wasser schlug, sahen aus wie zierliches Spielzeug – die einzelnen Bäume am Ufer warfen ihre violetten Schatten, und hoch oben wob sich das blaue Licht wie ein schimmernder Schleier um die silberne Leuchte.

Das Haus lag weiß und still im Mondlicht vor ihm. Er schritt darauf zu. Das Tor war geschlossen – er wollte nicht rufen. Er ging rund um das Haus herum. Der Hund schlug an, nicht heftig, da er ihn kannte; von Zeit zu Zeit ertönte sein tiefes Bellen.

Elinors Fenster waren offen – er blieb darunter stehen und rief leise ihren Namen. War sie wirklich ans Fenster gekommen? Täuschte er sich nicht? – Sie stand auf dem Balkon. »Bist du's Lux? Ich will dir die Haustüre öffnen.«

Sie stand vor ihm in der weißen Nacht, ein entzücktes Lächeln auf dem Angesicht.

»Ich habe dich gerufen,« sagte sie, »und du bist gekommen.«

Sie ging leicht vor ihm die dunkle Treppe hinauf. Sie hatte kein Licht in Händen. Durch die Fenster des Saales fiel das Mondlicht. Er sah, daß sie auf bloßen Füßen ging und nur einen Mantel über das Hemd geworfen hatte; ihr Haar hing offen herab.

Sie standen einen Augenblick stille.

»Bist du müde?« fragte sie ...

Er gab keine Antwort und stand noch immer regungslos. Dann ging sie leicht zurückweichend in ihr Zimmer. Er folgte ihr.

»Das ist mein Schlafzimmer,« sagte sie stammelnd. Aber sie verschloß die Türe nicht.

Sie setzte sich nieder. Immer noch sprachen beide kein Wort. Sie wollte ihre Füße unter dem Mantel verbergen. Sie zitterte am ganzen Körper und atmete tief. Und jetzt warf er sich vor sie hin und küßte ihre bebenden Hände, ihre Füße, ihre Brust ... und mit einem tiefen Stöhnen sank sie zurück.


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