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VIII

Es war wenige Tage nach Neujahr. Die ganze Nacht hindurch war leiser Schnee gefallen, und nun lag er weiß und hoch im Hof und auf den Gassen; geräuschlos fuhren die Wagen und hie und da klingelnd ein Schlitten durch die Straße. Im Hof schaufelte der Hausmeister einen schmalen Weg zur Treppe frei. Um acht Uhr war es noch dunkel; in den Läden, in den Küchen, in den Zimmern, in denen Menschen beim Frühstück saßen, brannte Licht.

Der Hofrat saß im Speisezimmer am Frühstückstisch, neben ihm saßen die beiden Mädchen und plauderten. Auf einmal sprang die Kleine in die Höhe und tanzte durch die Stube.

»Ich weiß etwas! Ich weiß etwas!« sang sie. »Morgen kommt der Lux!«

»Sei doch nicht so toll, Gerti«, sagte Ida, aber auch sie war interessiert und stand auf. Sie hatten ein kurzes, leises Gespräch, dann kam Gerti an den Tisch zurück und kniete auf den Stuhl, um die blaue Flamme unter der Kaffeemaschine besser beobachten zu können. Ida beugte sich über sie und sagte:

»Gerti, dein Kleid ist zerrissen!«

Die kleine Hand fuhr rasch nach rückwärts und das Gesicht verzog sich.

»Es ist eine Schande, wie sie herumgeht«, sagte Ida zum Vater.

Da sagte die Kleine trotzig: »Es kümmert sich eben niemand um mich.«

Der Hofrat sah über die Zeitung weg. Johannas Platz war leer.

Der Vater las während des Frühstücks; die Kinder waren damit zu Ende und saßen bereits wieder in Eintracht beim Kamin. Ida hatte den Arm um die Kleine gelegt. Ihr Haar war lang und fein, es hing offen herab, um den Kopf hatte sie ein blaues Seidenband gebunden. Der Hofrat sagte sich, daß seine Tochter hübsch wurde.

Da hörte er die halblaute Stimme der Kleineren:

»Sie kümmert sich ja doch um nix und versteht auch nix! Du hast's selbst gesagt!«

»Bst!« warnte die Ältere und sah nach dem Vater. Ihr Blick begegnete dem seinen, und beide schlugen die Augen nieder. Der Hofrat sah wieder in die Zeitung, aber nach einigen Minuten stand er auf und verließ das Zimmer.

Die Kinder blickten einander an, dann schnitt Gerti Gesichter und Ida verwies es ihr.

Der Hofrat war durch den Salon zum Schlafzimmer seiner Frau gegangen und hatte die Türe halb geöffnet: »Johanna!« sagte er.

Sie lag noch im Bett, den Kopf auf den Arm gestützt, und las.

»Was ist?« rief sie emporfahrend.

»Stehst du noch nicht auf?«

»Gleich, gleich!« sagte sie und versank wieder in ihr Buch.

Der Hofrat erwiderte nichts, er kämpfte eine Zeitlang mit sich selbst, dann schüttelte er den Kopf und ging langsam in sein Zimmer. Er gehörte zu den Menschen, denen ein heftiges Wort nicht leicht fällt und die über Dinge, die sie sonst Kleinigkeiten nennen würden, nicht gerne reden. Auch »Kleinigkeiten« haben ihre Bedeutung als »Symptome«, sagte er sich ... Zerbrochene Tassen und zerrissene Kleider! – er liebte es nicht, durch solche Dinge gestört zu werden. Aber waren sie nicht Zeichen eines Risses und Bruches, der tiefer ging?

Es war Zeit, zur Klinik zu fahren. Im Wagen wollte er überlegen, was zu tun war. Im Wagen pflegte er jeden Morgen den Tag zu überdenken, und in dieser Viertelstunde kamen ihm oft die besten Einfälle. Diesmal kam kein Einfall. Er sah seine Frau lesend in ihrem Bett liegen. Sie lebte ihr eigenes, ihm unbekanntes, ihm ganz unverständliches Leben, unverständlich, wenn er auch Worte dafür fand, wie »unreif« und »unverständig«, die er für eine Erklärung hielt. Er hatte wie immer im Winter sehr viel zu tun – und in den Minuten, die ihm zwischen der Arbeit blieben, war er sich eines Druckes und einer Erwartung bewußt. Doch jeder Tag brachte das Gleiche. Nichts wurde anders. Er hatte keine Freude mehr daran, am Abend nach Hause zu kommen; er fühlte, daß ihm irgendwie bitteres Unrecht geschah.

Aber es war nichts zu tun ... die Dinge mußten ihren Weg gehen.

Der Wagen hielt. Berkheim stand im Saal, Beifallklatschen empfing ihn: es war die erste Vorlesung nach den Ferien, und die Studenten bereiteten dem beliebten Lehrer eine Ovation zu seinem neuen Titel.

Er sprach ein paar Worte des Dankes, sagte, daß er in der Ernennung eine Ehrung des Faches sehe, das er vertrete, und daß er für seine Schüler stets derselbe bleibe. Erneutes Händeklatschen und Rufen ertönte, und in gehobener Stimmung begann er zu sprechen.

 

Johanna las und las: sie war wie in einem Rausch und lebte ganz und gar in der Welt des Buches, das auf ihrem Kissen lag; sie, die sonst mit dem frühesten Morgen aufstand, blieb heute im Bett; so oft sie ein neues Kapitel aufschlug, fühlte sie, daß sie eigentlich aufhören sollte und nahm sich vor, nur dieses eine noch zu lesen; und dieses Schuldbewußtsein erhöhte das Gefühl des Rausches, des unnatürlichen Zustandes, in dem sie sich befand. Als sie das Buch beiseite schob, war es zwölf Uhr. Noch einmal schloß sie die Augen und streckte sich behaglich aus – aber das empfand nur ihr Leib – ihre Seele zitterte noch in jener Welt, bei den Menschen, deren Leben an ihr vorübergezogen war. –

Dann sprang sie aus dem Bett. Als sie angekleidet war, ging sie durch die Zimmer, mit einem unbeschreiblichen Gefühl der Neuheit des Lebens, das ihr in reichen Farben entgegen schimmerte, Farben, die ihr, ohne daß sie sich dessen bewußt war, aus den großen bewegten Szenen kamen, die die Seiten des Buchs ihr vorgespiegelt hatten. Sie hatte nur den einen Wunsch, niemand aus dem Hause zu begegnen, der sie mit verhaltenem Vorwurf anstarren und ihre Empfindung stören könnte. Sie eilte in das Wartezimmer ihres Mannes, in das um diese Zeit kein Mensch zu kommen pflegte. Diesmal war es aber nicht leer. Ein etwa fünfzehnjähriger Knabe in einem grauen Lodenanzug mit grünen Aufschlägen stand am Fenster und sah auf die Straße hinaus. Als sie eintrat, wendete er sich rasch um, verbeugte sich und sagte, indem er auf sie zutrat: »Ich bin Lucian Obrist – sind Sie Tante Johanna?« und streckte ihr die Hand entgegen. Der Gruß war so unbefangen und frei, die Verbeugung anmutig und sicher, die Stimme klang so hell, und das Gesicht, in das sie schaute, war ein so feines, vornehmes Knabengesicht, daß ihre Freude wuchs.

»Ja,« sagte sie ebenso freundlich, »ich bin Johanna Berkheim. Sie also sind der Lux, der Neffe meines Mannes? Wir haben Sie erst morgen erwartet.«

»Ist denn das Telegramm nicht gekommen? Der Vater hat telegraphiert!«

»Ich weiß es nicht,« sagte Johanna, »aber es macht jedenfalls nichts. Sie werden bei uns wohnen? Haben Sie die Kinder schon gesehen?«

»Sie sind ausgegangen, und der Onkel auch.«

»Kommen Sie,« sagte Johanna,»Sie werden hungrig sein; wir werden zusammen frühstücken, und ich werde Ihnen Ihr Zimmer zeigen.«

Er folgte ihr. »Der Vater läßt grüßen und die Mutter auch, und ein Korb mit Äpfeln ist da, und zwei Hasen und zwei Fasanen, die der Vater geschossen hat. Und Sie sollen sich gar nicht um mich bekümmern, ich kann schon für mich sorgen.«

Sie waren im Augenblick Kameraden, und bei den fröhlichen Erzählungen des Knaben vom Leben auf dem Lande, von den Wald- und Bergausflügen mit seinem Bruder, seinen ersten Reit- und Jagdversuchen mit dem Vater, den Spielen und lustigen Ereignissen, fühlte sich Johanna wieder als halbwüchsiges Mädchen, in der Zeit, da sie mit ihren Knabenfreunden spielte und tolle Streiche trieb; nur waren diese nicht so fein und vornehm gewesen. Je mehr sie Lux ansah, desto überzeugter war sie, nie einen so schönen Jungen gesehen zu haben. Mund und Nase waren außerordentlich zierlich und fein, die Augen groß und hell, und zusammen mit dem dichten, glänzenden dunkelblonden Haar, gaben sie ihm etwas rehartiges; die frischen Wangen zeigten, wenn er sprach, zwei Grübchen. Er sah fast mädchenhaft zart und doch kräftig aus. Sie waren sehr vergnügt beim Frühstück, und als Lux das siebente Butterbrot verzehrte und sie versicherte, daß er für das Mittagessen dennoch genug Appetit behalten werde, lachten sie beide so fröhlich, daß Miß Reeze und die Kinder, die eben vom Spaziergang heimkamen, ganz erstaunt in der Türe stehen blieben.

Ida reichte Lux mit damenhafter Ruhe die Hand, Gerti sprang an ihm empor; aber für Küsse hatte der Vetter keinen Sinn, obgleich er einen artig ertrug.

Johanna überließ ihn der Fürsorge Idas und ging aus.

Eine erhöhte Freudigkeit war in ihr. Die Sonne hatte die Nebel besiegt, über dem Platz vor der Votiv-Kirche und vor dem Rathaus lag es wie weißer Glanz. Arbeiter hatten den Schnee längs den kahlen Alleen zu hohen weißen Schanzen aufgetürmt, und in das Klingeln der Pferdebahnen mischte sich das regelmäßige Klirren ihrer Schaufeln. Johanna fuhr zu ihren Eltern. Sie sprang die Treppen hinauf, klopfte, winkte dem Mädchen zu schweigen und schlich leise ins Wohnzimmer. Ihr jüngster Bruder saß am Tisch – sie legte die Hände von rückwärts über seine Augen. Er wollte sie entfernen, aber sie hielt ihn fest und küßte ihn.

»Oh, die Hofrätin,« rief er, »die Frau Hofrätin!«

»Franz, lieber Kerl,« sagte sie, »ich wünsche dir ein glückliches neues Jahr! Warum bist du gestern nicht gekommen?«

»Letzter Ferientag,« sagte er, »hab die Aufgaben machen müssen.«

Die Eltern traten ins Zimmer.

»Ich wünsche euch ein gesegnetes neues Jahr!« rief Johanna und küßte beide mit einer bei ihr ganz seltenen Zärtlichkeit.

Der kleine Tisch war gedeckt, wie einst; dieselben Blumentöpfe standen am Fenster, dieselben alten Alabastervasen auf dem braunpolierten Spiegeltisch, über dem die gehäkelte Decke lag; durch die halbgeöffnete weiße Türe des Nebenzimmers sah sie das Bett, in dem sie einst geschlafen, und das Muttergottesbild, das darüber hing – alles war, wie es immer gewesen. Aber die Enge schien ihr heute so heimlich und freundlich, die Eltern so teuer, ihre Fragen zartfühlend und lieb. »Am Ende zurück?« fragte sie sich selbst.

»Ich muß gleich wieder fort«, sagte sie, »der Professor kommt pünktlich zum Essen. – Sonntag speist ihr alle mit uns; Franz, wenn du nicht kommst, bin ich böse!«

»Bei euch sind mir zu viel gescheite Leut«, sagte er, »da kann man gar nicht reden.«

»Aber ich bin doch da.«

»Du wirst auch so furchtbar gescheit!«

Sie gab ihm einen Nasenstüber. »Aber du bist noch alleweil derselbe dumme Bub! Nicht aufstehen, Mutter, nicht aufstehen!« rief sie und zog die Türe zu, als sie hinaus eilte. Sie hatte die Pelzjacke gar nicht abgelegt und lief bereits wieder die Treppe hinunter.

 

Ganz verändert war der Mittagstisch. Das helle Lachen des Knaben und seine Scherze belebten ihn. Er ahmte den Dialekt der böhmischen Gutsleute nach und erzählte Jagdabenteuer des Vaters; er schilderte die Wege durch den Schnee des Wintermorgens bei Laternenlicht zum Gymnasium. Die Mädchen hörten ihm eifrig zu. Gerti neigte von Zeit zu Zeit den Kopf auf die Hand, um ihn besser anzusehen. Ida versuchte vergeblich ihre Würde zu wahren, denn im Augenblick war zwischen Gerti und Lux eine stumme Verschwörung gegen sie entstanden, und so oft sie »erwachsen« sprach, lispelte Lux seine Antwort mit übertriebener Höflichkeit und bot ihr mit tiefster Ergebenheit Brot oder Wasser an, – daß alle lächelten und sie selbst nicht böse sein konnte. Mademoiselle Toudinot, die in der Regel mitspeiste, flüsterte Ida allerlei Bemerkungen über »ce charmant petit cousin« zu, und beide lachten. Der Hofrat sah wohlwollend auf den Neffen; aber eigentlich führte Johanna das Gespräch mit ihm, für sie schien er zu erzählen, und an sie alle seine Antworten zu richten. Nach dem Essen stürmten die Kinder sogleich in Hast über den Gang in Luxens Zimmer.

»Der Junge ist ganz die Mutter,« sagte der Hofrat, »hoffentlich gerät er dem Vater nicht nach.«

»Warum soll er das nicht?« fragte Johanna.

»Weil der nicht normal ist,« antwortete ihr Mann.

Johanna sah ihn fragend, fast erschrocken an.

»In einem Gutachten vor Gericht würde ich nicht sagen, daß Carl Obrist anders behandelt werden soll, als andre Personen. Aber, wenn wir Menschen im Leben beurteilen, müssen wir eine gewisse Norm, eine gewisse Summe von Durchschnittseigenschaften annehmen, – die eine gewisse mittlere Leistungsfähigkeit und Erfolgssumme nach sich ziehen. Man beurteilt den Menschen in der Regel nach seinem Erfolg ...«

»Hat man da auch recht?« fragte Johanna. Wie immer fühlte sie eine qualvolle Spannung in ihrem Hirn, wenn sie den Erklärungen ihres Mannes zu folgen versuchte. Sie war froh, ihn zu unterbrechen.

»Im gewöhnlichen Leben, gewiß,« erwiderte er. »Wenn jemand auf den gewöhnlichen Lebensgebieten, trotz allen Fähigkeiten nie Erfolg hat, so muß ein Defekt vorhanden sein – und wenn sich dieser Defekt noch dazu stets in Überspanntheiten und Handlungen äußert, die jeder nüchterne Mensch in dieser Lage vermeiden würde, wenn dieser Defekt sich durch das ganze Leben zieht, wie in diesem Fall, so nenne ich das anormal.

Carl Obrist hat erst nie zu Ende studiert, das sagt genug; ein Mensch muß doch wenigstens sein Doktorat machen können. Dann hat er die Mitgift seiner Frau ausgeschlagen ...«

»Warum? ...«

»Weil er einen Streit mit ihrem Vater gehabt hatte ... aber heute ist es zu spät, alle seine Narrheiten zu erzählen ...«

Johanna fühlte sich durch all dies nicht gegen den Mann eingenommen. Sie kannte seine Photographie, und die Erzählungen Luxens ließen sie einen kühnen, stattlichen und freigebigen Gutsherrn sehen: sie empfand für den Vater dieses schönen Jungen nur Sympathie.

Der Hofrat stand auf. »Johanna«, sagte er noch, »Ida liest abends zu lange. Das darf nicht sein. Sie ist ohnedies zart und nervös und im Wachsen. Ich kam gestern um ein Uhr von der Arbeit, und sie hatte noch Licht!«

»Was soll ich tun?« fragte Johanna.

»Nachsehen und auslöschen.«

»Du darfst nicht von mir verlangen, daß ich den Polizeimann mache. Ich kann die Kinder nicht an mich ziehen. Du siehst es. Ich verstehe es gewiß nicht. Aber um dir und uns unangenehmes zu ersparen, weiche ich jedem Streit aus ...«

»Das heißt, du läßt sie tun, was sie wollen!«

Johanna hob den Kopf und erwiderte nichts.

»Meine liebe Johanna, das kann nicht sein.«

»Ich kann nicht die böse Kinderfrau sein,« sagte Johanna ruhig.

»Was denkst du eigentlich, Johanna, wie soll das Haus weitergehen?«

»Ich habe dir gesagt und die Mutter hat es dir gesagt, daß ich von der Wirtschaft nichts verstehe und eigentlich nichts ordentlich verstehe.«

»Ja, also, was denkst du?«

»Daß ich lernen muß.«

Der Hofrat lächelte gezwungen. Johanna sah in diesem Augenblick sehr schön aus. Er küßte ihre kühlen Lippen.

»Also lerne, du dummes Kind.« sagte er. – »Aber Romane lesen ist nicht lernen. Was ist das für ein Buch, das heute den Tag so aus jeder Ordnung gebracht hat?«

»Anna Karenina, von einem Russen,« sagte Johanna und wurde ein wenig rot. »Ich habe nur den ersten Band gelesen.«

Der Hofrat kannte das Buch nicht.


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