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VII

Richard,« sagte sie eines Morgens zu ihrem Mann: »Ich möchte lernen! Ich weiß zu wenig. Ich muß lernen. Ich weiß gar nichts ordentliches. Ich kann nicht einmal den Unterricht der Kinder überwachen.«

»Du kannst ja an ihrem Unterricht teilnehmen. Das wird für alle vorteilhaft sein.«

Das war es aber nicht. Herr Gimsel wurde furchtbar verlegen, wenn Johanna eintrat, und sprach dann so pathetisch und verworren zugleich, daß sie ihn nicht anhören konnte, und die Kinder erst lachten und dann zornig wurden. Sie verstanden nichts mehr, und die Stunden wurden für alle gleich unangenehm. Auch die Französin verstummte und fand keine Gesprächsthemen mehr; und die Engländerin, Miß Reeze, schlug Johanna sogleich vor, sie möge besondere Stunden nehmen, so gehe es nicht.

»Ich werde dir Bücher zum Lesen geben,« sagte der Professor, und gab ihr populäre naturwissenschaftliche Werke. »Mit Energie und wirklichem Wissensdrang kommt man über alle Hindernisse ans Ziel.«

Er sprach auch mit ihr über diese Werke, suchte ihr Urbegriffe beizubringen; aber es war hoffnungslos, sie konnte ihm nicht folgen; er setzte zuviel voraus, er konnte nur für seine Hörer sprechen. Nur eines gelang ihm: ihren kleinen Christenglauben zerstörte er mit seinen Bemerkungen über die Naturkräfte und medizinischrationalistischen Erklärungen.

»Ach, die Seele?! Du meinst Gehirnfunktionen ... wo ist die Seele?« Hierüber sprach er viel mit ihr, denn alles Unbewiesene, Problematische war ihm verhaßt als die Basis endloser Unwahrhaftigkeit, und er brachte ihr jene kleinen schlagenden Argumente von der Gehirnrinde, anatomische und physiologische Zerlegungen dessen vor, was sie für ihr Ich, für ihren Geist, ihre Seele gehalten. Er wies ihr das Werden und den Verfall alles stofflichen Lebens. Sie wurde verwirrt von solchen Gesprächen und suchte sich innerlich zu wehren. Es waren Brocken, nicht der ersehnten Speise, hart und bitter, die sie verletzten, aber nicht nährten.

Der Zufall führte ihr in diesen Tagen den älteren ihrer venezianischen Bekannten wieder in den Weg. Sie traf ihn im Hause eines Bankiers und fragte ihn sogleich nach dem schönen jungen Künstler. Sie wußte kaum mehr recht, welcher von beiden die Worte gesprochen hatte, die in ihrem Gedächtnis geblieben waren.

Die Antwort war, er sei noch immer im Süden und werde erst im nächsten Jahr zurückkommen; er fange an, wundervolle Werke zu schaffen und werde ein ganz großer Künstler werden.

»Und Sie gnädige Frau?« sagte Doktor Marquart.

»Ich bin noch immer so unwissend wie damals!«

»Sagen Sie das nicht! Wir haben Sie um Ihre Unbefangenheit beneidet. Sie sahen alle Herrlichkeiten wie ein kluges Kind – die Engel als Engel, die Heiligen als Heiligen, die Menschen als Menschen ... Glauben Sie, jene Maler wollten das anders? Inbrünstige Menschen wollten sie vor ihren Bildern ... Wir wissen zu viel!«

»Ach nein, ach nein!« sagte Johanna. Sie gestand ihm die Sorgen dieser Wochen, ihre Sehnsucht nach Wissen.

Er geriet sogleich in Feuer und erbot sich, ihr die Wege zu weisen; er nannte Bücher, die sie lesen, Vorlesungen, die sie besuchen sollte. »Wir können das zusammen lesen,« unterbrach er sich selbst. »Ich lese es mit Ihnen und erkläre es Ihnen.«

Sie wurde ein wenig rot, sie gedachte der Herren auf dem Eise.

Er schien zu erraten, was in ihr vorging. »Wir werden es mit meiner Frau zusammen lesen. Sie wird sich so sehr freuen, Ihre Bekanntschaft zu machen. Sie ist heute nicht da, weil sie leidend ist.«

»Oh, dann komme ich zu ihr,« sagte Johanna gutwillig.

»Sie wird sich sehr freuen und ich auch.« Er stand auf und trat vor eines der an der Wand hängenden Gemälde, und Johanna trat neben ihn.

Er war mittelgroß und ziemlich breit; ein zarter dunkler Bart umrahmte die farblosen Wangen eines Gesichts, dessen weiche Züge durch zwei große blaue Augen, die beständig etwas zu sagen schienen, und durch ein unaufhörliches Mienenspiel belebt wurden.

Als Johanna nach Hause ging, dachte sie, daß Frau Zimmermann ihr Versprechen, Frau Marquart den ersten Besuch zu machen, gewiß voreilig finden werde. Über diese Dinge erhielt sie so viele Belehrungen.

 

Sie traf eine kleine blasse Frau mit großen müden Augen und gewölbten Lippen; ihr braunes Haar fiel um ihre Schultern in langen gedrehten Locken, wie sie damals hie und da getragen wurden. Dies sowie der Schnitt ihres Kleides gab ihr ein zierliches und altmodisches Aussehen.

Sie begrüßte Johanna herzlich. »Mein Mann hat mir schon viel von Ihnen erzählt,« sagte sie. Doktor Marquart trat selbst ein und bat für einen Augenblick um Entschuldigung, er werde mit seiner Arbeit sogleich fertig sein. »Du könntest unterdessen den Tee machen, Annita!«

Frau Marquart pries ihren Mann. Beim Sprechen hatte sie ein fliegendes, ein wenig schmerzliches Lächeln, das ihrem Gesichtchen Reiz gab. »Was er schreibt, höre ich zuerst,« sagte sie, »und wenn er etwas Herrliches Neues – oder Altes – findet in seinen Welten, die so voll Schönheit sind, dann bringt er es mir, oder liest es mir vor ... Freilich, er hat so wenig Zeit! Er hat die Vorlesungen auf der Universität, und nun soll er auch welche im Museum halten, – und die Privatstunden, und seine Bücher, – er muß die Nacht zum Schreiben benutzen. Da liege ich auf dem Sofa – denn ich schlafe dann auch nicht – und schaue ihm zu, wie er auf und ab geht und denkt und vor sich hinspricht. Da tu ich ihm gut. Er braucht einen Menschen, der für ihn wie ein Echo ist, auch wenn das Echo schweigt.«

Ein Knabe von etwa vier Jahren mit langen Locken lief herein. Er grüßte scheu, und als Johanna ihn an sich ziehen wollte, drückte er sich ängstlich an seine Mutter und rief:

»Nein, nein! Bitte nicht!«

Ein peinliches Gefühl ergriff Johanna: Warum waren alle Kinder gegen sie? – Sie sah sich in dem Zimmer um; die Möbel waren alt, aus rötlich poliertem, lichtem Holz und hatten zum Teil ein schadhaftes Aussehen. Hinter dem Klavier stand auf einer Säule, mit einem roten mattgewordenen Stoff drapiert, eine Büste Richard Wagners. Stiche mit den Köpfen berühmter Musiker hingen an den Wänden.

»Seit so vielen Jahren hab ich nicht Klavier gespielt!« sagte Frau Marquart. Ihre Finger krümmten sich, und sie sah aufgeregt nach Johanna. »Können Sie Klavier spielen?« fragte sie mit gespanntem Ausdruck.

»Nein, das heißt sehr schlecht. Ich habe ein bißchen gelernt, aber ich habe nie ordentlich geübt.«

»Mir ist es verboten, und ich möchte so gern, – es hat mir viel Leiden gebracht.«

In diesem Augenblick trat ihr Mann ins Zimmer. Er hielt eine Zigarre in der Hand. Frau Marquart begann zu husten.

»Oh, ich gehe vielleicht so lange in mein Zimmer,« sagte er, »sie ist gleich zu Ende, Annita! Wollen Sie mein Arbeitszimmer ansehen, gnädige Frau?«

Johanna folgte ihm neugierig. Hier waren die Wände von Büchergestellen fast bedeckt. Über der Türe lief ein Gesimse, auf dem Figürchen, Krüge, große seltsam geformte Steine und Töpfe standen, aus denen getrocknete langblättrige Pflanzen und Gräser quollen. Und, wo es nur möglich war, fanden sich ähnliche Dinge. An allen freien Stellen der Wände, in den Fenstervertiefungen hingen Stiche und Holzschnitte: auf dem einen saßen Bauern bei einem wüsten Mahl, auf einem andern waren ungeschlachte Figuren, Kriegsknechte, die um Christi Kleider würfelten; dort ritt ein stummer ernster Reiter durch eine Schlucht neben zwei unheimlichen Geschöpfen hin. Die Apostel saßen um den Heiland, und Magdalene salbte seine Füße mit dem Nardenöl. Über dem alten, mit schwarzem, schadhaften Leder überzogenen Schreibtisch, auf dem zahllose Photographien standen, hing ein hölzernes gemaltes Kruzifix. Schnitzerei und Farbe waren ungeschlacht und doch voll Wirkung. Grau war das Fleisch des gemarterten Körpers, aus dessen Wunden schwere rote Blutstropfen quollen, und der Ausdruck des Gesichts war der unsäglicher Qual. Aber an der andern Wand gerade gegenüber hing ein griechischer Fries, auf dem Männer und Frauen und Kentauren kämpften, und die Linien schlangen sich wie Musik mit leisen Schatten über den weißgrauen Gips.

Johanna hatte nie ein ähnliches Zimmer gesehen. Sie fühlte sich wie in einem abenteuerlichen Märchen oder wie im Theater. Sie sah die Photographien auf dem Schreibtisch an. Ein schönes Frauengesicht neben einem ganz von langem Haar umwallten, finster blickenden Kinderkopf fiel ihr auf. »Das ist Maria Hogerath, eine ehemalige Schülerin,« sagte Marquart, »mit ihrer kleinen Schwester. Das ist der Hofrat Eitelberger, der Direktor des Museums ...« sagte er vor einer andren, die eine Widmung trug.

Er öffnete eine Mappe, die auf einem Tische lag und Photographien antiker Skulpturen enthielt.

Johanna stand neben ihm und folgte seinen Erläuterungen. Sie konnte ihn sehr gut verstehen. Dinge, die sie einst als leere Worte und Namen gehört, gewannen Sinn und Bedeutung.

Das war der Anfang ihrer Freundschaft mit Doktor Marquart. Während ihres Besuches kamen noch andre Leute; ein schüchterner und ungeschickter junger Mensch, namens Robert Biber, und ein blondes junges Mädchen mit sympathischer Stimme, lachenden Augen und heiteren Lippen, – Frau Marquart nannte sie Hedwig – blieben ihr in Erinnerung. Was sie überraschte und gefangen nahm, das war der Ton tief vertrauter Freundschaft, einer Welt für sich, in der diese Menschen zu leben schienen, und die Art, wie sie redeten und wovon sie redeten. Nichts Alltägliches ward hier erwähnt, außer im Scherz – und so wie die Armut der Zimmer durch schöne und bedeutsame Dinge, so wurde die Armut des Lebens durch schöne und bedeutsame Worte in Reichtum umgewandelt.

»Keine Zeit darf weniger verschwendet werden«, sagte Marquart später einmal zu ihr, »als die Stunden, in denen Menschen zu einander kommen.«

Sie fühlte, daß sie die gefunden hatte, die ihr helfen würden; eine freudige Unruhe kam über sie; und wenn ihr noch alles neu war und sie so hastige springende Gespräche über Fragen, die sie nie aufwerfen gehört und die sie tief ergriffen und verwirrten, nicht gewohnt war und ihnen nicht immer folgen konnte – so fühlte sie sich trotzdem wohl und blieb, solange sie irgend Zeit hatte ... Und sie fühlte, daß man sie ebenso gern hier hatte, sie nicht begönnerte, sie nicht neugierig beobachtete, sondern willkommen hieß. Sie sprach wenig, aber was sie sprach, fanden die Andern recht, und als sie endlich gehen mußte, bedauerten alle. Annita, die mit Hedwig auf dem Sofa saß, reichte ihr die schmale Hand.

»Kommen Sie bald wieder, liebste Frau, kommen Sie bald wieder. Ich möchte, daß Sie meine Freundin werden.«

Hedwig, die vor ihr knixte, sah sie mit ihren freudigen Augen freundlich an. Von allen Seiten strömte Wärme auf sie ein. Aus Marquarts wohllautender Stimme und aus den Augen der Frauen. Marquart begleitete sie hinaus:

»Nun waren Sie einmal hier«, sagte er, »nun werden Sie auch wiederkommen. Sehen Sie sich gut um und seien Sie auf der Hut! Man weiß nie, was für Geister in so einem alten winkligen Hause wohnen.«

 

Ihr Mann erwartete sie zu Hause mit Ungeduld. Sie hatte ganz vergessen, daß sie beide eingeladen waren und kleidete sich mit Hast an. Als sie mit ihm im Wagen saß, wie immer mit sehr sonderbaren Empfindungen in ihrem ausgeschnittenen hellgrauen Seidenkleid, teilte er ihr mit, daß seine Ernennung zum Hofrat bereits in der Zeitung stehe. Diesmal machte sie keinen Luftsprung. Sie sagte nur: »Ach wie gut, freust du dich?« Er erwiderte, es sei ein Vorteil, und versuchte ihr seine Stellung an der Fakultät zu erklären und was die Gunst des Ministers für ihn bedeutete. Johanna hörte zu und suchte sich dafür zu interessieren, aber sie dachte an ganz andre Dinge.

»Wo warst du heute nachmittag so lange?« fragte der Professor.

Sie begann zu erzählen. Er blickte auf und schüttelte den Kopf, aber sie sprach so ruhig fort, daß er sich nicht entschließen konnte, ihr über den unrichtigen Schritt Vorwürfe zu machen. Es war auch nicht mehr Zeit. Sie waren bereits angekommen. Glückwünsche empfingen sie und ihren Mann, Toaste wurden auf ihn ausgebracht, und Johanna wurde fast noch mehr gefeiert, als er. Welch ein ereignisreicher Tag, an dem sie überall Mittelpunkt war. Es tat ihr wohl und kam ihr doch sonderbar vor, am sonderbarsten, als sie wahrnahm, daß sie von vielen Frauen und jungen Mädchen beneidet wurde.

Mitten in den Festlichkeiten – denn es war um Weihnachten und eine Gesellschaft folgte der andern – befiel sie eine tiefe Traurigkeit.

»Sind wir denn froh, daß wir Feste feiern?« fragte sie ihren Mann.

»Wir sind dazu verpflichtet«, sagte er. »Nein, sehr froh sind wir nicht, Johanna, – aber wenn man nur Feste feiern wollte, wenn man froh ist ...!«


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