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VII

Als sie an einem sonnigen Herbsttag durch die Stadt ging, sah sie ein paar junge Leute aus einem Caféhaus in der Nähe der Oper treten. Sie waren elegant gekleidet und sprachen vom Rennen. Über den glänzenden Asphalt fuhr kein Wagen, die jungen Leute gingen vor Johanna her und sprachen ziemlich laut.

»Komm mit, Obrist, du mußt mitkommen!«

Johanna, überrascht, ging schneller, so daß sie jene überholte, und sah dann zurück. War es möglich, daß dieser junge Mann vor ihr ... »Lux!« rief sie.

Alle Blicke wendeten sich nach ihr, so daß sie errötete. Der Angerufene errötete gleichfalls und trat grüßend auf sie zu. Nun grüßten auch die andern, musterten Johanna mit raschen eindringlichen Blicken und gingen ein paar Schritte weiter, während Lux stehen blieb. Sie wechselten rasche Erkundigungen. Johanna fragte, ob er sie nicht ein Stück Weges begleiten wollte. Er verabschiedete sich von den jungen Leuten, die an der nächsten Straßenecke gewartet und mit ihren Stöcken gespielt hatten, und kam zu ihr zurück.

»Lux, lieber Lux, nein wie ich mich freue, daß ich dich getroffen; ich habe ja so lange nichts von dir gehört! Was tust du? Studierst du viel?«

»Nein«, antwortete er lachend, »das kann ich gerade nicht behaupten!« Sie erkundigte sich unbefangen nach Richard Berkheim und seinen Töchtern; hörte, daß Lux nicht mehr bei ihnen wohne. Sie fragte ihn, womit er seine Tage hinbringe.

»Mit nicht viel«, sagte er gleichgültig.

»Ist das nicht schade. Lux?«

»Weiß nicht!« sagte er.

Sie sah ihn an – das Profil war sein und kühn, wie es gewesen, wenn auch die fast mädchenhafte Weichheit gewichen war. Die blonden Haare trug er noch immer ziemlich lang, über seinen Lippen lag der leichteste Anflug eines Schnurrbarts, aber um den Mund spielte ein unsicherer Ausdruck; von Zeit zu Zeit warf er die Lippen trotzig auf.

»Waren das deine Freunde?« fragte Johanna.

»Ich weiß nicht ... ich glaube.«

»Du glaubst? ... was sind es für Menschen, von denen du glaubst, daß sie deine Freunde sind?«

Ein rascher, lustiger Blick auf sie, – dann versicherte er sie, daß alle drei sich gut anzuziehen verstünden, daß Hainzinger eine glänzende Terz schlage, während Verhave ein famoser Billardspieler sei, der Serien von fünfzig mache – »der dritte ist mein edler Cousin Hugo Zimmermann, hast du ihn nicht erkannt?« Es war unmöglich, auf irgend eine Frage eine ernste Antwort von ihm zu erhalten, vergeblich spielte Johanna auf einstige Gespräche an.

»Unterricht für die reifere Jugend?« fragte er lachend.

Sie mußte mitlachen, aber im Herzen war sie betrübt. Lux redete nichts von selbst, und sie gingen schweigend neben einander. Die Herbstsonne schien auf die weißen Straßen der Stadt, »die dafür sorgt, daß aus ihren jungen Leuten nichts wird«, wie Marquart zu sagen pflegte. Johanna war vor der Wohnung der Gielowska angekommen.

»Ich muß hier ins Haus. Aber ich möchte gern einmal mit dir reden. Willst du mich besuchen? Oder hat man dir vielleicht gesagt ...?

Er errötete ein wenig. »Man hat mir nichts gesagt ... Ich tue, was ich will ...«

»So komm, wenn du willst.« Sie sagte ihm ihre Adresse und wann sie zu treffen sei.

Er antwortete irgend etwas und versprach zu kommen.

Aber er kam nicht.

Ein paar Wochen später traf sie Robert Biber. Sie fragte ihn sogleich nach Lux. Der Verlegene und Unbehilfliche kam nicht so bald zum Wort, weil ein junger Doktor der Philosophie es ihm wegnahm, sobald er den Namen hörte.

»Lux Obrist! ein prächtiger Junge«, sagte er, »ein bißchen zu verwöhnt, ein bißchen selbstherrlich – aber ein prächtiger Junge.«

»Das ist alles nur äußerlich«, sagte Robert Biber. Und er pries seines Zöglings Mut und seine Vorzüglichkeit in allen körperlichen Übungen mit der sehnsüchtigen Bewunderung des Unschönen für die Schönheit.

»Das ist doch auch nur äußerlich,« sagte Johanna lächelnd.

»Nein, ich meine die Selbstherrlichkeit. Er ist in einem Übergangsstadium. In seiner Gesellschaft ist er wohl selbstherrlich, aber er verbringt seine Abende und Nächte leider in sehr minderwertiger Gesellschaft.«

»Ist das möglich? Wie erklären Sie das.«

»Wer weiß, was in ihm vorgeht? und ich glaube«, fügte er lächelnd hinzu, »auch das ist nur äußerlich. Jetzt ist er übrigens gerade sehr still. Er hat sich auf dem Eis den Fuß verstaucht und liegt.«

Johanna trug ihm Grüße auf. An einem der nächsten Tage kam sie zufällig in die Nähe des Hauses. Einer plötzlichen freundlichen Regung folgend, trat sie in einen Laden, kaufte Blumen und schickte sie ohne Namen und ohne ein Geleitwort an Lux.

Es war, als wollte die Vergangenheit in diesen Tagen sich immer lebhafter in ihre Erinnerung rufen. Sie sah Richard Berkheim in seinem Wagen mit Ida vorüberfahren. Er war viel grauer und älter geworden, und Ida ein erwachsenes und sehr hübsches Mädchen. Er sah sie nicht, Ida hingegen sah sich nach ihr um, aber gleichsam ohne sie zu erblicken, als sähe sie nach ganz anderm. Johanna blieb davon unberührt. Das Unvermeidliche und Vergangene erregte nur ein kühles Erinnern in ihr. Sie hatte an der Gegenwart zu schmerzlich zu tragen. Sie wußte nicht, welch ein Zug von Resignation bereits in ihr Antlitz geschrieben war.

Aber daß aus Lux nichts werden sollte, als ein gewöhnlicher junger Mensch, wie die andern Söhne seiner Familien in Wien – das tat ihr leid. Sie hatte ein so gutes Gefühl für den Jungen: wie eine große Schwester. »Gewöhnlich?« fragte sie sich im nächsten Augenblick. »Was soll denn aus ihm werden? Was ist aus mir geworden? ... Ach, ich bin eine Frau und ohne besondere Talente ... Ja, warum sollte eine Frau nicht ...? Gewöhnlich? was ist denn ›gewöhnlich‹ und was ungewöhnlich? ...« so gingen ihre Gedanken, und wieder fielen ihr die Worte ein, die sie einst zu Lux gesprochen: »Große Ziele« und »Wollen und immer Wollen«! ... Ja, was denn? was wollen?

Diese Betrachtungen machten sie sehr mutlos und niedergeschlagen. Was sollte er wollen? Sie hatte für Marquart leben wollen, ihm helfen, große Werke zu schaffen. Aber sie fühlte bereits, das lag nicht in ihm. Er war ein Anreger, kein Schöpfer. War das nicht genug? Was hatte denn wirklichen Wert? Der Mensch selbst wohl – oder seine Leistungen ...? »Der Mensch seine Persönlichkeit, sein Leben« betonte Marquart immer wieder. War dann der Rittmeister von Hogerath, den sie jüngst wieder gesehen und trotz ihrer Antipathie bewundert hatte, nicht wertvoll?

Oder waren es nicht doch die Früchte? War dann Berkheim vielleicht der wertvolle Mensch, der so vielen geholfen, der wissenschaftliche Werke geschrieben, die in fünf oder sechs Sprachen übersetzt wurden?

Oder waren es Momente im Leben – und die Zahl dieser Momente?

Oh Gott, wo waren die Tage im Hochgebirge? verlodert und verglommen wie ein Höhenfeuer! Vielleicht fand sie Marquart in ihrem Zimmer, wenn sie nach Hause kam. Er kam um Liebe; er bedurfte ihres Spiegels, – seines Bildes, das sich in ihr spiegelte. Und sie bedurfte seiner. Aber war es noch etwas Großes, das er gab und nahm – war es nicht eine klägliche Hilfe, die sie von einander erbettelten?

War das das allgemeine Elend? Sie hatte die Gielowska erzählen gehört; sie erinnerte sich an Gespräche mit Annita, die sie früher nicht verstanden; Worte von Frauen und Männern, die sie in Gesellschaft gehört, als sie noch Hofrätin Berkheim gewesen, und die sie gleichfalls nicht verstanden; Worte, die sie in Romanen gelesen hatte und die auch ohne wirklichen Sinn für sie gewesen waren. Alle hatten die Herabwürdigung, das Alltäglichwerden der Liebe beklagt. Auf die Sinne hatten alle einen wahren Haß geworfen, ohne sich vom Lechzen befreien zu können. War das das unvermeidliche Ende, wenn die eine glühende erste Hingabe nicht ein unwiederholter Augenblick blieb?

Sie sah Maria, die schönste, zarteste Frau, die sie je gesehen, in unheimlichen Irrungen und vermählt mit einem Manne, den sie sich als zu ihr gehörig nicht vorstellen konnte.

Sie dachte Hedwigs: »Wenn ich nur schon alt wäre, um über alle Quälereien hinaus zu sein!« Johanna hörte den Ausruf noch! In dem stillen, so freudig scheinenden Geschöpf die gleichen bitteren Kämpfe!

Sie dachte Elinors, sie sah ihren herrlichen jungen Leib im Grase liegen, und hörte sie den Wunsch flüstern: »einmal ganz glücklich zu sein.«

War das sinnlos? war es nichts als der erste Trieb der Lebenskräfte, der jedes junge Menschenkind in wildrankende Hoffnungen und in ein goldenes Gewebe von Träumen hüllt – – ein Schimmer, der der Jugend entströmt, wie der Duft der unverwelkten Blüte und mit ihr schwindet?

Wofür dann leben? Wie zwecklos ihr alles in diesen Tagen schien, in denen solche Gedanken sie mehr und mehr quälten.

Marquart hatte sie jüngst darauf aufmerksam gemacht, daß sie ihre Kleidung vernachlässigte. Ach, sie wünschte sich an ihren See und ohne alle Kleider in seinen Wellen sich rein zu baden. Was lag ihr an ihrer Kleidung, was lag ihr daran, ob sie gefiel?

In solchen und ähnlichen Gedanken saß sie des Abends allein in ihrem Zimmer, die Hände um die Knie gelegt und zum trüben Fenster starrend. Da läutete die Glocke an der Wohnungstüre. Eine frische Stimme fragte nach ihr, und mit großer Freude sah sie Lux ins Zimmer treten.

Er schien befangen. Er hatte offenbar mit sich gerungen. ehe er gekommen war. Sie wunderte sich, was ihn wohl zurückgehalten haben mochte. Sie selbst war unbefangen wie immer.

Wieder fragte sie nach seinem Leben und seinen Freunden. Aber er wich ihren Fragen aus und suchte das Gespräch auf gleichgültige oder scherzhafte Dinge zu lenken. Sie fühlte wohl, daß unter seiner beherrschten Art andre Empfindungen sich verbargen, aber es war ihm nicht beizukommen. Er war in dem Alter, in dem man schwer beichtet.

Nur ganz allmählich ward er vertraulicher. Sie fand, daß auch ihn die brennenden Fragen des »Wozu« und »Wofür«? quälten, und daß viel Sehnsucht und Zweifel in ihm war. Aber eine Frage, die ihn beschäftigte, merkte sie nicht.

Sie ermaß auch nicht, wieviel Kämpfe ihn verheerten, wieviel Skepsis mit seiner Jugend rang, der der Sohn einer hoffnungsarmen Zeit und eines fast hoffnungslosen Landes war. Sie freute sich jetzt, ihn anders zu finden, als sie gefürchtet hatte.

Sie redete von Zielen ... künftigen Werken. Er wehrte sich gegen diese »großen Worte«. »Ich habe keine Talente«, sagte er, »Erich zeichnet, Biber schreibt. Ich habe nichts ... ich kann gut fechten und schwimmen, das ist alles! Das will ich ausbilden.«

Die medizinischen Studien verdrossen ihn, stießen ihn ab.

»Aber da bin ich versorgt ... durch den Hofrat ...«

»Du denkst heute schon an deine Versorgung, Lux?«

Er zuckte die Achseln. »Da fall ich dem Vater nicht mehr zur Last!«

»Glaubst du, daß dein Vater so gedacht hätte?«

»Sie haben's besser gehabt, die Alten, sie haben an Dinge geglaubt, an die wir nicht mehr glauben können. Wir sehen ja, was daraus geworden ist. Unter uns, ihre Ideale waren billig.«

»Du irrst,« sagte Johanna, »wenn du glaubst, daß es keine großen Aufgaben mehr in der Welt gibt! Noch gar nichts ist erreicht worden, und alles ist erst noch zu erobern. Und du bist einer von denen, die mitkämpfen müssen. Heute hast du dich nur zu entwickeln, jede Stunde und jeden Tag mußt du für kostbar halten, jung wie du bist, und gar nichts darfst du tun, was deinem Körper oder Geist schaden kann. Du hast das Werkzeug auszubilden, das du bist. Oh, Lux, wie herrliche Dinge gibt es, für die jeder Mensch kämpfen muß, der sie erkennt!«

Sie fand einen Glauben für ihn und einen Idealismus, den sie für sich selbst nicht gefunden hatte, und fast mehr für sich, als für ihn sprach sie die Worte:

»Und man findet immer neuen Sinn im Leben.«

Ihr war das in diesem Augenblick klar. Er aber erwiderte heftig:

»Oh, das Leben ...!« dann aber hielt er inne. Er fühlte, daß er all das, was er sagen wollte, doch nicht aussprechen konnte, den Durst und das Ringen, und die Unkenntnis des Weges, das blinde Hin- und Herstürmen der Jugend und die Unzufriedenheit mit seinem Beruf, die ihn in Hoffnungslosigkeit gestürzt hatten.

Er war sich ja selbst nicht klar darüber. Aber das war ihm klar, daß hier hohe Hoffnungen mit klangvoller Stimme ausgesprochen waren, von einer Frau, die mit erhobenem Haupt und strahlenden Augen vor ihm saß. So viele Empfindungen schlangen sich da in einander, und die Begeisterung kam auf einem zauberhaften Weg, auf dem ihr zu widerstreben schwer möglich war. Und es tat ihm bald wohl zu sprechen, und er begann ihr zu erzählen ... Dabei geriet er aus dem Schmerz ins Lachen und erzählte Scherze und Tollheiten, bei denen er mitgetan, und sie lachte mit ihm.

»Wollen wir nächstens einen Spaziergang mit einander machen?« fragte sie, »einen langen aufs Land, daß wir ordentlich plauschen können?«

Er war sehr bereit.

»Eine Frage, wenn du erlaubst, Johanna,« sagte er, ehe er ging. »Waren die Blumen von dir?«

»Ja,« sagte sie freundlich, »ich dachte, daß du zu Bett seist, du armer Bub, und Schmerzen hast; da wollte ich dir eine Freude machen!«

»Es war sehr lieb von dir; erst war ich ganz überrascht, dann hab ich's mir gedacht, daß du's warst.«

»Gar keinen andern Verdacht, Lux?«fragte sie lachend.

Er errötete und schüttelte den Kopf.

 

Er kam nun öfter und bald regelmäßig; da sie einander manchmal verfehlten, kamen sie überein, daß Lux an bestimmten Tagen zu ihr kommen, und wieder wie einst mit ihr lateinisch lernen sollte. Das ging so einige Wochen. Zwischen Grammatik und Übungsbuch führten sie lange Gespräche.

Sie hatten die Brücke über die zweieinhalb Jahre gefunden, in denen sie sich nicht gesehen hatten, aber sie wußten wohl, daß sie als zwei ganz andre Menschen vor einander saßen, und die Veränderungen in Lux machten sie ganz bestürzt.

»Wie siehst du aus, Lux? du warst die ganze Nacht auf? du hast getrunken! Ist das nicht Wahnsinn? ist das nicht ganz kindisch?«

Er lächelte und ärgerte sich zugleich, so vor ihr zu stehen.

»Tust du es, weil die Andern es tun? Ich hätte nicht gedacht, daß du so schwach bist!«

»Es schadet mir nichts!«

»Ach, Lux, ich verstehe dich ganz gut.«

»Dann sage nichts, edle Erzieherin.«

Sie gingen nebeneinander durch die gelben Wiesen und Stoppelfelder, die sich, während sie gingen, mit frischem weichen, unter dem Winde wirbelnden Schnee bedeckten.

»Du mußt die Medizin aufgeben. Lux, wenn sie dir zuwider ist!«

»Vor dem Semesterschlusse ist doch nichts zu machen – und dann sind anderthalb Jahre verloren!«

»Man weiß nie, ob eine Zeit verloren war. Lux, als lange nachher, und an die Versorgung darfst du nicht denken ... Brot? du kannst es im Notfall als Taglöhner verdienen, groß und stark wie du bist!«

»Dazu tauge ich jedenfalls besser als zum Arzt. Ein Leben wie Onkel Richard es führt ... Kannst du dir mich so vorstellen? Als Gymnasiast habe ich an unseren Landarzt gedacht, aber es waren doch nur seine zwei schönen Braunen, die er selbst kutschiert und seine Schlittenfahrten im Schnee ... Nein, nein, ich mag mein Leben nicht an Spitälern und an Krankenbetten verbringen. Das ist nichts für mich!«

»Du hast ganz recht – man soll zuerst für die Gesunden arbeiten. Mit den Kranken ist ohnedies nicht mehr viel anzufangen. Wenn wir nach Hause kommen, werde ich dir etwas zu lesen geben!«

Da sprang er über einen Graben, und sie folgte ihm durch das Stoppelfeld.

»Du gehst noch immer so gut wie früher,« sagte er anerkennend.

»Ja, das geht – aber ich bin viel älter geworden. Lux.«

»Weiß nicht,« sagte er.

Sie gab ihm eine Dichtung Marquarts, »Chiron«, zu lesen. Das Büchlein gefiel ihm wohl. Er liebte den bärtigen Kentauren,

»... entsprossen aus der Wolkengöttin Blut,
»Die ein Gigant umarmt ...
»Halb Gott, halb Tier – in Kraft und Weisheit mehr als Mensch ...,«

den die göttliche Mutter zum Lehrer erwählt, um den Sohn zu erziehen,

»Den Heros, dem der Götter Gastgeschenk die Freiheit ist,
»Zu tun, was ihm der hochgemute Sinn gebeut,
»Gelöst von Menschensatzung und dem Vorurteil
»Der blinden Menge, die der Dinge Schatten schreckt ...«

Ihm gefiel der Satz des Kentauren:

»Gefährlich ist ein einzig Laster nur, die Furcht.«

Er wollte den Verfasser kennen lernen, und sie sandte ihn zu Marquart. Wie sie es vorausgesehen, faßte Lux eine feurige Verehrung für ihn. Er trat in das Haus ein, indem die geistigen Bewegungen der Zeit zum erstenmal unmittelbar an ihn heranfluteten, und wie einst für Johanna, so dämmerte auch für ihn eine neue Welt auf. Chiron-Marquart war von dem neuen Schüler entzückt. Er sprach viele Stunden mit Lux, mit jenem Eifer, den er beim Gewinnen jeder neuen Seele empfand – immer selbst hingerissen und darum hinreißend für die andren. Er war jetzt vor allem Sozialist.

Widerstandslos folgte Lux, von ihm und Johanna zu den gleichen Anschauungen geführt. Wie herrlich – – eine Hoffnung, auf eine völlige Umgestaltung der Erde – ein Aushören des Elends und der Ausbeutung – eine Lehre, die keine phantastischen Wortideale gab, sondern scharfe logische und ökonomisch-wissenschaftliche Begründungen. Ein Umsturz, eine Befreiung der Menschheit, die mit zwingender Notwendigkeit durch die unausbleibliche Entwicklung der Ereignisse von selbst erfolgen mußte. Lux schwärmte nicht, nur hie und da ein paar Worte, die er hinwarf, verrieten den Eindruck. Er lernte Menschen kennen, die an der Organisation mitarbeiteten, Menschen, die dafür gelitten hatten, die aus dem Gefängnis kamen, Menschen, die mit Hohn und mit absoluter Nichtachtung von allen bürgerlichen Autoritäten sprachen. Man fühlte sich gleichsam zu den Göttern der Unterwelt gehörig.

Sie waren ein sonderbares Volk, diese Hadesbewohner, und die verschiedensten Kreise und Menschengattungen stießen bei ihnen zusammen. Es gab sehr unerzogene unter ihnen, aber Lux hatte für aggressive Herren eine scharfe Ripost, die stets lachen machte, und eine souveräne Art, über schlechte Witze zur Tagesordnung überzugehen. Sonst war er aufmerksam und bescheiden, ließ sich gern belehren, und im Hause Marquarts sang man sein Lob.

Er tanzte und scherzte mit dem kleinen Jungen, lehrte ihn mit Rohrstöcken fechten, – erwies Annita kleine Ritterdienste.

Marquart nannte ihn seinen Achill – »kein griechischer Achill – sondern ein florentinischer Achill, wie ihn Botticelli als Seitenstück zu seiner Minerva gemalt hätte.« »Achill«, rief ihn Marquarts Knabe, mit unbeholfener Aussprache des »ch«, die alle lachen machte.

Es war beschlossene Sache, daß Lux zum Semesterschluß die Medizin aufgeben und Jus studieren sollte. Auf diese Weise lernte man alle Kniffe der herrschenden Klassen kennen und konnte sie mit ihren eigenen Waffen bekämpfen. Dadurch lernte man die Geheimsprache der Behörden und brauchte die Macht nicht mehr zu fürchten, als unbedingt nötig war. Er hatte einen Führer kennen gelernt, einen kleinen hageren Herrn, mit einem Gesicht, das ganz Augen und Schnurrbart zu sein schien. Diese Augen waren glänzend und stechend und schienen den, den sie ansahen, spöttisch zu durchschauen, zu sezieren, ihn umzublättern, wie ein leicht lesbares Buch – und der Mund, der langsam sprach, äußerte den beißendsten und den feinsten Witz. »Was er eigentlich denkt, weiß niemand,« sagte Marquart. »Seine Seele trägt sieben Schleier.« Aber für die Sache hatte er alles geopfert – er kam eben aus dem Gefängnis, und Lux hörte ihn einmal zu jemandem sagen, der ihm unverläßlich schien: »Wenn meine Frau und meine Kinder auf dem Sterbebette lägen, und die Partei riefe, ich würde keine Minute zögern ...

Die, die ihm nahe standen, hatten eine fanatische Ergebenheit für ihn. Er sah auch Lux an, als ob er aus Glas wäre und sagte: »Sie wollen also zu uns kommen, junger Mann; das ist sehr schön und gut. Aber ich will Ihnen einen Rat geben. Überlegen Sie sich's: Kommen Sie später, wir können warten. Je mehr sie vorerst lernen und je mehr Sie werden, desto nützlicher werden Sie uns sein. Aber kommen Sie später – das ist für uns beide besser, als wenn Sie sich jetzt begeistern und später abfallen.«

Lux ward ein wenig rot, dann lachte er. Er konnte ja warten.

 

Er sprang die Treppen zu Johannas Wohnung hinauf. Welche Freude, ihr von alledem zu erzählen, in ihr ernstes schönes Gesicht zu schauen, während sie über diese großen Fragen mit ihm sprach. Diesmal brachte er ihr Blumen, dunkle Rosen, die ein olivgrünes Samtband zusammenhielt. Sie dankte und lachte zu dem Geschenk, und statt Weisheit zu reden, scherzten sie miteinander. Sie lächelte über seine Aufmerksamkeiten: er hatte ihr auch ein Billet zu einer schwer zugänglichen Theatervorstellung besorgt, die sie sehen wollte.

»Du verlierst zu viel Zeit für mich, Lux!«

Sie begann das wirklich zu denken.

So heftig unterwarf er sich allen ihren Wünschen und Geboten, daß sie bestürzt ward.

War Gefahr für ihn vorhanden? Sollte sie ihn fortschicken? Der Gedanke war ihr sehr bitter, sie hatte solche Freude an ihm. Und sein Verkehr mit ihr war bisher zu seinem Besten gewesen. War es richtig, ihn abzubrechen? Vielleicht täuschte sie sich. Sie wollte beobachten.

Bei der Gielowska wurde in diesen Wochen – infolge von Romanen und theoretischen Schriften, die man gelesen hatte – beständig von der Liebe geredet, für Johanna das widerwärtigste Gespräch. Merkwürdig war ihr dabei, wie die empfindungsvolle alte Dame, die stets vom »Edelsten« und »Reinsten« zu reden liebte, sich mit der großen Derbheit ihrer Freundin Krüsselberg verständigte, über ihre Ausdrücke lachte und von ihrer »Frische« entzückt war. Diese, eine kleine runde Frau, die einen Kneifer trug und in allen möglichen Komitees saß, hatte für Johanna, die bei ihren oft zweideutigen Geschichten unbeweglich blieb, den Namen: »hölzerne Madonna« aufgebracht.

Wer bei diesen Gesprächen mußte Johanna wieder an Lux denken und was für Schicksale wohl vor ihm stehen mochten. Sie erinnerte sich, was sie über die ersten Erlebnisse junger Männer wußte, und ein wirbelnder Schreck ergriff sie.

Das konnte nicht sein.

Sie hatte eine so sichere Empfindung ihm gegenüber: nicht der Saum seiner Kleider sollte den Kot streifen. Er erschien ihr, wie einer von jenen, auf die die Menschen ihre Hoffnung setzen. Den ganzen Tag mußte sie an ihn denken.

Abends führte ihr Weg sie am Eislaufverein vorüber. Sie konnte schon lange nicht mehr teilnehmen; Zeit und Geld fehlten. Wider ihre Gewohnheit blieb sie unter den zahlreichen Menschen am Gitter stehen und sah jenseits der entlaubten Büsche den dunklen dichten Kreis vorübergleiten, Paare und vierfach verschlungene Gruppen schwebten langsam hin, einzelne schossen pfeilschnell im Bogen hindurch. Ein fahles kaltes Mondlicht fiel von den hohen Bogenlampen auf die weiße bläuliche Fläche, geräuschlos glitt der wechselnde Menschenstrom vorbei, bis die Musik rauschend einfiel und immer mehr und mehr Paare zu tanzen begannen.

Fast hätte sie »Lux« gerufen: da flog er vorbei, die Pelzkappe in den blonden Haaren, ein großes dunkelhaariges hübsches Mädchen an der Seite. Sie wartete, bis der große Kreis ihn wieder vorbeiführen sollte ... aber sie entdeckte ihn erst spät weit drinnen: er lief mit einer andern kleineren Gestalt in Gegenbogen – sie faßten einander und ließen sich wieder fahren.

Sie ging weiter.

 

Hätte er gewußt, was sie sorgte! Vielleicht hätte es ihn bei der großen Gärung, die in ihm war, nicht einmal tief berührt. Die Kämpfe und Träume in ihm waren so heftig, daß er sein tägliches Leben mechanisch weiterführen konnte, daß die Menschen, mit denen er zusammenkam, die Veränderung kaum bemerkten. Der Doppelgänger in ihm, der ihm zusah, stellte sich erst ein, wenn er allein war – dann sprach er um so bitterer und qualvoller. In welche Wirrsal sah er sich gezogen? Wann, in welcher knabenhaften Vergangenheit hatte er gleichsam ein erstes Kristallfunkeln gesehen, das jetzt wie eine große reine furchtbare Flamme brannte? Begriff er es ganz? Schwand nicht jeder Boden unter seinen Füßen, wenn er die realen Verhältnisse überdenken, Menschen und Dinge bei ihren Namen nennen wollte?

Vieles hatte ihn umflattert in diesen Jahren; vieles gequält. Seine Eltern hatten ihn vernünftig erzogen, sein Vater hatte ihm nichts verschwiegen, als er zur Reife gelangt war – aber wem können die wilden Kämpfe dieser Zeit ganz erspart werden?

Jetzt war das alles wie vergessen ... in dem Fieber, das ihn erregte, waren jene Bitternisse, die nur den Rand seines Wesens berührt hatten, geschwunden. Wann und wie plötzlich war es so heftig geworden? Er wußte es nicht. Durch ein Wort, eine Bewegung, eine Ablehnung, ein Lachen über sein Geschenk ... oder durch alles zusammen, durch all die Dinge, die sich ereignet hatten.

Da gab es keine besseren Stunden, als über das Eis zu jagen, – allein oder mit den Mädchen, mit denen er ausgelassen scherzte, ohne an sie zu denken, so weit von ihnen entfernt, daß sie es manchmal mitten im Lachen schmollend merken mußten – oder weite einsame Spaziergänge durch den Schnee zu machen, oder auf dem Fechtboden so heftige Assauts zu schlagen, daß die Kameraden »der Obrist ist wieder einmal toll« sagten.

 

Nach ein paar Tagen stieg er wieder die lichte kleine Treppe hinauf. Ein neunjähriger Knabe konnte sich nicht geringer und verwirrter fühlen. Wenn er schon die Träume von sich wies, weil sie als Träume unträumbar schienen, die Wirklichkeit war kalt und grau wie der Schnee im Hof, wie die fensterlose Mauer gegenüber ...

Man kommt an bestimmten Tagen zu Menschen, die Klingel läutet, die Tür wird geöffnet, und man begrüßt sich wie sonst, es sind dieselben Zimmer, es scheint der gleiche Tag ... und doch liegt etwas sonderbares in Luft und Licht, und die Bewegungen der Menschen haben etwas Ungewisses und Schattenhaftes. Oder scheint es nur dem Aufgeregten und Übernächtigten so?

Johanna fühlte sich nicht frei ... in ihr wollte sich etwas nicht lösen, was gelöst werden mußte. Sie sah zusammengepreßte Lippen – sie fühlte, daß leuchtende Augen auf ihr ruhten, fühlte es, wenn sie abgewendet war. Sie mußte ein Ende machen und sie tat es ungeschickt, weil es ihr nicht leicht fiel.

Sie warf ihm vor, daß er seine Studien vernachlässige. Er empfand, daß sich in den Worten verbarg, was kommen sollte ...

»Meine Studien! ...« brachte er hervor.

»Du mußt mehr studieren, Lux. Ich meine das ganz ernst. Du mußt schon jetzt anfangen, du hast so viel Zeit versäumt – du darfst keine mehr verlieren.«

Er sagte: »Wenn du es sehr wünschest, werde ich schon jetzt anfangen, zu studieren.«

»Und dazu wird gut sein, daß du weniger zu mir kommst. Ich nehme dir die Zeit.«

Etwas wie Zorn war in seinen Augen, und seine Nasenflügel und Lippen bebten; aber er sagte gefaßt und demütig:

»Du nimmst mir die Zeit nicht ... du gibst mir die Zeit.«

»Geistreich, Lux?«

»Was hast du mir nicht alles gegeben, Johanna!« fuhr er bebend fort.

»Das ist gut, und ich freue mich, mein lieber Junge, wenn ich das getan habe, das wollte ich. Denn ich erwarte so viel, so viel von dir, Lux!«

»Erwarte, was du willst, von mir, Johanna. Ich glaube manchmal, ich kann alles ... aber ... nur mit dir ...« stieß er hervor.

»Lux ...«

Er war auf sie zugeschritten und stand dicht vor ihr, ohne sie zu berühren. Seine Augen blickten wild und zärtlich in die ihren.

»Immer hab ich dich lieb gehabt, Johanna!« flüsterte er.

Sie berührte ihn ganz leicht mit dem Finger, um ihn zum Zurückweichen zu bewegen, denn für sie war kein Platz mehr.

»Setze dich, Lux«, sagte sie schweratmend, »wir müssen miteinander reden.«

Er wich nicht zurück – er stand dicht vor ihr – er zitterte eben so sehr, sie zu berühren, wie es ihn wild zu ihr zog ... erst allmählich kamen ihm die Worte zum Bewußtsein, die sie eben gesprochen hatte – und langsam trat er einen Schritt nach rückwärts. Sein Gesicht war so bleich, daß Johanna erschrak.

»Lux, ich bitte dich, lieber Lux«, sagte sie »höre mich, das hätte alles nicht sein sollen ... du bist so jung ... du mußt das überwinden ...«

Ihm war, als ob der Raum sich verfinsterte, und als ob irgend etwas davon flöge, was eben noch alles mit Wärme und Leben erfüllt hatte.

»Mein lieber, lieber, vernünftiger Freund«, sagte sie, »höre mich ... nimm dich zusammen ... nein, nein ... du glaubst das jetzt ...«

»Ich habe dich immer lieb gehabt, Johanna!« wiederholte er.

»Du sollst mich auch lieb haben«, antwortete sie, »aber als mein Freund, auf den ich stolz bin ...« was sie für Unsinn redete! Tränen traten ihr in die Augen, als sie dachte, wie viel er leiden mußte.

»Bin ich schuld?« rief sie verzweifelt.

»Nein, Johanna«, sagte er »du kannst an nichts schuld sein. – Vielleicht bin ich ein Dummkopf.«

»Nein, das sollst du nicht glauben. Das ist alles ganz recht und schön, und ich bin froh, sehr froh, daß du mich lieb hast. Es macht mich stolz. Aber du mußt es doch überwinden. Es kostet viel Schmerz, aber es geht ...«

Lux sprang heftig aus.

»Ja, ja, das geht vorüber ... das auch ...«

»Das geht nicht vorüber, Johanna.«

Sie lächelte, es war ein ganz trauriges Lächeln, das leicht und bitter um ihre Lippen lag – und in einen Ausdruck heftigsten Schmerzes überging. Aber über sein Gesicht fuhr etwas wie ein Leuchten.

»Warum, Johanna? warum?« rief er. »Muß es vorübergehen ... weil ich ... Sag es nicht ... Noch weißt du nichts von mir ...«

Sie winkte ihm Schweigen und stand auf, sie ging jetzt gerade auf ihn zu, legte die Hände auf seine Schultern und sah ihm in die Augen.

»Es muß vorübergehen. Lux«, sagte sie sehr ernst, »verstehst du? weil ich nicht frei bin, weil ich einem andern Manne angehöre.«

Ein neuer rasender Schmerz durchtobte ihn ... dann ward er ruhig ... Ihre Hände lagen noch auf seiner Schulter, – jetzt entfernte sie sich sanft ... er sah sie mit einem unbeschreiblichen Ausdruck an.

»Ich kann dir nicht alles erzählen, aber du sollst mich begreifen.«

Sie erzählte ihm vieles ... in raschen Zügen ihre Geschichte ... Sie nannte den Mann nicht, den sie liebte sie dachte, er müßte ihn erraten – aber er folgte jetzt nur bebend ihren Worten, den Wegen ihres Lebens, die ihm wichtiger, süßer, schmerzlicher waren, als sein eigener. Er lauschte ihr gequält und doch voll eines eigentümlich unseligen Glücksgefühls über ihr Vertrauen, darüber, daß er in das Innerste ihrer Seele – so schien es ihm – schauen durfte. Groß und wunderbar erschien sie ihm und rein und kühn.

Als sie zum Schlusse verlangte, daß er sie nun nicht mehr sehen sollte, zum mindesten lange nicht, da antwortete er ein stürmisches »Nein!«

»Ich bin dein Freund und du bist meine Freundin«, sagte er. »Aber das wollen wir bleiben. Ich komme wie bisher. Keine Gewalt der Erde hindert mich. Ich verlange nichts von dir ... du sollst nur meine Freundin bleiben. Ich brauche dich, Johanna ... Ich gehe zu Grunde, wenn ich dich verliere ... das fühl ich ... und das willst du nicht, das darfst du nicht wollen ...«

Sie fühlte, es war Unrecht, aber sie hatte nicht den Mut, Nein zu sagen.

»Ich bin dein Bruder und du bist meine Schwester.«

»Wahnsinn!« rief sie.

»Wahnsinn!« rief auch er, »vielleicht! aber ein Wahnsinn, der sein soll – sein muß! – Johanna! Johanna!«

Er sah ihr in heftiger Erregung in die Augen; sie hatte sich vorgebeugt, fast ohne es zu wissen, und seine Lippen begegneten den ihren; es war ein leiser, schwesterlicher Kuß von ihr, aber er küßte sie heftig und zitternd.

Dann ging er ... und sie sank traurig und zu Tode erschöpft auf das Sofa.


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