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IX

So begann jenes eigentümliche »Noviziat«, wie er diese Zeit seines Lebens später nannte, die er in heroischer Arbeit und Einsamkeit verbrachte. In Einsamkeit bis auf die Abende bei Johanna. Wundersame Abende! Mit keinem Worte wurde je wieder erwähnt, was zwischen ihnen vorgefallen war, aber keinen Augenblick wich es aus ihrem Leben; ihr Verhältnis war ganz verändert, sie waren einander fremd geworden und dennoch viel viel näher gekommen – in ihren Worten lag eine gewisse Zurückhaltung, ein Beben war in ihrem Scherz und was sie immer miteinander sprachen, drang tief in beider Seelen. Gehorsam wie Wachs formte sich sein Geist unter ihrem Einfluß, weil sie ihm brachte, was seinem Wesen entsprach und wonach ihn hungerte.

Wie oft saß er bis in den grauenden Morgen vor seinen Büchern, erregt von der Arbeit bei Lampenlicht, in heller Freude bereits denkend, was ihm aufgefallen war, was er ihr abends sagen wollte.

Nur selten kam es vor, daß Marquarts Name zwischen ihnen ausgesprochen wurde, aber daran, daß er ihn vermied, erkannte sie, daß er die Wahrheit ahnte. Er ging bisweilen in Marquarts Haus oder besuchte ihn an der Universität – er war entschlossen, auch dies groß zu beurteilen, und sein Verhältnis zu ihm bekam dadurch gleichfalls etwas Feierliches und schmerzlich Gesteigertes. Zwei Wochen ungefähr waren so vergangen, als er folgenden Brief erhielt:

»Lieber Lux! Ich sende dir beiliegend ein Klageschreiben ein, das Onkel Richard an mich gerichtet hat.

Auf die erste seiner Klagen, daß du zu wenig arbeitest, habe ich dir folgendes zu sagen: Du weißt, es liegt nicht in meiner Natur, mit dem – moralischen – Stock hinter dir zu stehen. Du mußt heute selbst wissen, was du tust. Wir, die Mutter und ich, arbeiten schwer. Ich zweifle nicht, daß wir zuletzt Erfolg haben werden – aber im besten Fall werde ich lange abzuzahlen haben und euch nie ein nennenswertes Kapital hinterlassen können. Ich will dir deine Jugend nicht verkümmern. Ich habe meine eigene Studentenzeit sehr lustig verbracht und habe als alter Kettenhund nicht vergessen, wie einem jungen Jagdhund zu Mute ist. Aber ganz unväterlich, in guter Freundschaft sage ich dir: nimm die Sache ernst! Und da du einmal die Medizin gewählt, die viel Arbeit gibt – so denk auch daran, daß Onkel Richard den Brotkorb in der Hand hat. Die Hälfte des Satzes: »klug wie die Schlangen« ist auch nicht zu verachten.

Ad 2. Über deinen Verkehr geb ich dir natürlich gleichfalls keine Vorschriften. Ich habe mit den Leuten, um die es sich handelt, selbst verkehrt. Aber von R. B.s persönlichen Gründen gereizt zu sein, abgesehen – ich liebe die Gattung auch nicht besonders. Ich weiß ja nicht, ob es noch dieselben Größen sind, denn da ist Ablauf und Zulauf wie bei einem See. Der See selbst bleibt. Der Hecht im Karpfenteich wird wohl auch noch immer der gleiche sein. Er fand einst, daß dein Vater »sich zu elegant kleide«. Der Prophet geht in einem ungebürsteten Rock.

Sie sind nicht uninteressant, und ich sage auch nicht, daß sie ganz unbedeutend sind, aber sie lügen sich und andern zu viel vor. Gehe unter sie und mißtraue! Du wirst dich durch die schönsten Worte nicht zu Gemeinheiten verführen lassen (sie streuen ihren Goldstaub auch auf Gemeinheiten): und das wäre das einzige, was uns entzweien könnte. Aber das ist ausgeschlossen.

Jedenfalls: es wird gut sein, du arbeitest! Man muß die zahlreichen kleinen Reizungen und Lockungen des Lebens unterkriegen. Sie sind die Todfeinde in der Großstadt. Konzentration, Lux! und Onkel Richard gegenüber Takt und Diskretion!

Dein alter Vater.

Bayard frißt sein Gnadenbrot und hinkt noch immer aus dem Stall und in den Stall.«

 

»Mein geliebter Lux! Ich grüße dich von ganzem Herzen und küsse und umarme dich tausendmal. Meine Sorge und meine Freude gehen mit dir. Ich weiß, daß mein gerader Junge gerade durchs Leben gehen wird.

Lieber Junge, es sprüht und spritzt an die Fenster, und deine Mutter hat eine Menge zu tun. Hermann tobt durchs Haus wie ein Unbändiger, will dich noch grüßen lassen. Die Post geht, leb wohl! Wollen dich alle zu Ostern hier haben und ans Herz drücken.

Schreibt's der Vater, kann's die Mutter auch sagen: Deine alte Mutter

Helene Obrist.«

Lux schrieb zurück:

»Lieber alter Vater! Dein Brief hat mich gerührt. Ich kann mit gutem Gewissen sagen, daß ich sehr viel arbeite – aber nicht Medizin. Ich habe mich entschlossen, Jus zu studieren. Die Gründe sage ich euch zu Ostern mündlich. Ich weiß, ihr werdet mir kein Hindernis in den Weg legen.

Mit Onkel Richard dürfte der Bruch unheilbar sein. Übrigens steht mein Lebensziel so fest, daß kein Mensch mich irre machen kann.

Ich kann jetzt keinen langen Brief schreiben, tausend Grüße an Mutter und Hermann.

Euer Lux.«

»Oho,« sagte Carl Obrist, als er den Brief las, »sein Lebensziel steht fest, das heißt er ist verliebt. Da haben wir's, Gott weiß, an welche Göttin dieses verdammten Olymps er geraten ist!«

Helene machte ein tief besorgtes Gesicht und sah ihren Mann an; für sie lag kein Brief bei – sonst kamen die Briefe an sie, mit Grüßen für den Vater. Sie hatte Lust nach Wien zu fahren.

»Sollen wir ihn nicht gleich unter Polizeiaufsicht stellen? Aber Lentschi! Da können wir nichts machen, nein! nein! vorläufig arbeitet er ja! –

Übrigens in vierzehn Tagen fahre ich wegen der Maschinen nach Wien – da werd ich ja sehen.«

Helene Obrist schlief in diesen Nächten nicht. Eine unsagbare Sorge war in ihr und ein unbezwinglicher Schmerz; vergeblich sagte sie sich selbst, daß ihre Sorge sich ja möglicherweise in Freude auflösen konnte.

Bei der Doppelrolle, die Marquart in seinem Leben spielte, der einen sichtbaren als wohlwollender Freund und Mentor, der andern unsichtbaren als der Mann im Mantel, der heimlich zur vergötterten Frau kam, regten diese Warnungen Lux auf. –

Frau Gielowska, die viel von ihn erzählen gehört, hatte gewünscht, ihn kennen zu lernen, und Johanna hatte ihn hinauf gebracht. Die hatte er sofort nicht leiden können und Johanna gebeten, ihn, wenn es nicht unbedingt nötig wäre, zu diesem »Weiberquatsch« nicht mehr mitzunehmen.

»Unsre Madonna hat sich einen kleinen Johannes zugelegt,« sagte die Krüsselberg am nächsten Abend, und alles lachte.

»Es ist schade, daß der Junge so schön ist,« fuhr sie fort, »und daß er es weiß.«

»Wie können Sie das sagen. Clementine?« erwiderte die Gielowska, »ich bin überzeugt, daß er es nicht weiß! Sie brauchen nur in seine klaren Augen zu sehen.«

Johanna lachte: »Es ist ganz gleichgültig, ob er es weiß, oder nicht – das wird ihm nichts anhaben.«

»Glücklich das Mädchen oder die Frau, die er einmal lieben wird,« sagte Frau Gielowska weich und bewegt. Diese Resignation, die sich mit der Hoffnung für andre mischte, stand gut zu ihrem schönen Gesicht und den weißen Haaren. Sie rief Hedwig Lederer zu sich, die in letzter Zeit ihr Günstling geworden und die sie ihr »Adoptivnichterl« nannte und lehnte ihre Wange an die des Mädchens. Johanna freute sich darüber, des Mädchens wegen, das so wenig Freude im Leben fand, und auch weil Frau Gielowskas Bedürfnis nach einem vertrauenden Schützling dadurch teilweise befriedigt und von ihr abgelenkt ward; aber unbegreiflich war ihr die eigentümliche Gereiztheit, mit der Hedwig ihr seit einiger Zeit begegnete. Dies hatte sich auch heute deutlich gezeigt, und als sie nach Hause ging, sann sie darüber nach. Bald aber glitten ihre Gedanken zu Lux. Die Worte, die Frau Gielowska von der Zukunft gesprochen, hallten in ihr. Natürlich würde es kommen. Wie mochte sie sein, die einst glücklich sein wird ... Aber um Gotteswillen, er liebte ja sie! Nein, das war Kinderei, das würde vorüber gehen (süß war dieser Gedanke nicht); und es war vielleicht gut, es bewahrte ihn vor vielem. Wenn es aber tief und ernst war! Und konnte sie daran zweifeln? Was sollte sie tun?! Die Dinge in ihrer Zweideutigkeit gewähren lassen, lag nicht in ihrer Art.

So kam sie nach Hause. Sie fand zwei Briefe, einen von Marquart, den andern von Elinor.

Elinor schrieb:

»Liebste Johanna! Ich kann dir nicht viel schreiben und soll dir nicht viel schreiben. Zu Ostern komm ich nach Wien – wie freue ich mich!!

Das meiste ist wie immer – ich warte.

Ich lerne kochen und habe mehrere Bücher gelesen, ich lerne auch wieder zeichnen, ich habe einen Professor, der mir recht gegeben hat und so hat Tante Karoline es wieder erlaubt –. Das macht mir viel Freude, aber es gibt andres, das mich nicht freut. *)

Maria war krank und ihr Kind auch – ich bin gesund wie immer.

Lache nicht über meine Briefe, Johanna, du weißt, ich kann nicht schreiben. Ich Hab dich lieb, ich sehe dich bald, liebe, liebe Johanna!

Immer deine
Elinor Hogerath.«

*) Ich meine nicht Marias Krankheit. Das hat mir natürlich auch sehr leid getan, aber es geht ihr schon wieder gut.

 

Aber Johannas Gedanken verweilten nicht bei dem Briefe. Sie kehrten zu Lux zurück und von ihm eilten sie zu Marquart.

Da kam Lux selbst. Er kam mit einem fröhlichen Ernst in ihr Zimmer, denn ihm war stets freudig zu Mut, wenn er bei ihr eintrat. Gedankenlos überflog sie Marquarts Brief, der offen auf dem Tisch lag. Das Wort »Bonn«, das darin vorkam, gab ihr eine Idee. Sie machten Zukunftspläne genug miteinander.

»Im nächsten Jahr mußt du an eine ausländische Universität, Lux. Am besten wäre es, du gingest schon jetzt.«

Er blickte sie an, blickte auf die Schrift vor ihr, die er erkannte. Immer das aufregende Beben seiner Lippen und Nasenflügel.

»In jedem Fall ist es gut für dich – und«, fuhr sie ungeduldig fort, »das ist alles ungesund und nicht gut!«

»Wenn du mich fortschickst, Johanna ...« sagte er demütig – »aber glaube nicht, daß es für mich gut ist ... nein!« unterbrach er sich, »ich gehe nicht von hier fort, solange ich nicht unbedingt muß ...«

Er hatte ihre Hand ergriffen; sie entzog sie ihm. »Du bist traurig, Johanna ...«

Und heftig erklärte er ihr, daß sie nicht über das traurig werden dürfe, was für ihn so unendliches Glück sei. Es war nicht Trauer – es war eine tiefe Aufregung; die Sorge um ihn, und das schmerzliche Bewußtsein der eigenen Unsicherheit. Es war Nacht in ihr und sie trieb auf Wogen, deren Flutrichtung sie nicht erfaßte. Allabendlich kam jetzt diese Aufregung über sie und mit ihr wieder der alte Kinderwunsch, der sie in solchen Zeiten der Ungewißheit immer wieder heftig ergriff – fortzugehen – weit fort – in eine Ferne, wo sie niemand kannte, in ein ungewisses demütiges Schicksal hinaus. Sie bemerkte nicht, daß sie dabei an Marquart kaum dachte, gab sich nicht Rechenschaft darüber, wie leicht das Band geworden war, das sie an ihn kettete.

Auch Lux ging in tiefer Erregung nach Hause – in einer Erregung, die manchmal in einem Schauer von Glück aufzitterte: er beobachtete Johanna scharf und glaubte Zeichen zu sehen, die ihm sagten, wie tief sie für ihn empfand. »Nichts, was dich betrifft, kann mir je gleichgültig sein, Lux.« Hatte sie diese Worte nicht ausgesprochen, und sagten sie nicht Unendliches? Im nächsten Augenblick durchzuckte ihn die schmerzliche Frage: Wenn das eben nur die Wärme einer liebevollen Freundschaft war, nicht jene Glut, die er empfand? – die er sich von ihr für ihn gar nicht vorstellen konnte. Die Liebe der Frau – etwas Unbegreifliches, Unerreichliches, Undenkbares scheint sie dem bescheiden und rein Empfindenden, der sie nicht kennt, und um so undenkbarer, je glühender er danach begehrt.

Zu Hause angekommen, hörte er, daß ein Herr nach ihm gefragt und seine Karte hinterlassen hatte. Als er Licht gemacht, las er den Namen seines Vaters, der ihn zum Abendbrot erwartete. Lux machte Toilette. Der Vater stieg stets in einem ersten Hotel ab. Als Lux in den erleuchteten kleinen Saal trat, saß Obrist bereits beim Nachtisch. Er stand lächelnd vom Sofa auf und begrüßte den spätgekommenen Sohn mit Scherzen, winkte ihm, das Weinglas zu füllen und bot ihm eine Zigarre.

»Ich fürchte. Lux, du hast auch nicht die richtigen Instinkte geerbt.«

»Ich denke, ich habe die richtigen Instinkte geerbt,« erwiderte Lux auf die Flasche Château Yquem weisend, in der nur noch ein Restchen glühte.

»Ja die! – aber zum Millionär wirst du's nicht bringen – und das andre taugt doch alles nicht. Sollen wir noch eine Flasche auffahren lassen? Übrigens, wie steht's mit dem Gleichgewicht im Staatshaushalt? Sind außerordentliche Deckungen nötig?«

Lux legte Rechnung ab. In den früheren Monaten hatte er sein Einkommen stark überschritten, in den beiden letzten hatte er fast nichts gebraucht. Die zweite Flasche löste Lux die Zunge. Der Vater hörte lächelnd, aber nicht ohne Sorge zu. Seinen Sarkasmus fürchtend, streifte Lux die neuen Ideen, die ihn beherrschten, so kühl und flüchtig als möglich. Der Sarkasmus blieb nicht aus.

Dagegen, daß er zur Juristerei überging, hatte der Vater nichts einzuwenden. Es war ihm sogar aus manchen Gründen nicht unerwünscht.

»Aber das Lebensziel, Lux, das Lebensziel?«

»Wir wollen davon sprechen, wenn ich fertig bin, Papa ...«

»Wollen wir das als eine Abmachung betrachten: keine vorzeitige, unreife Aktivität, bevor du ausstudiert hast?«

Lux lächelte. »Weiß nicht!« antwortete er. »Das scheint mir selbstverständlich.«

Die revolutionären, sozialpolitischen Anschauungen seines Sohnes nahm Obrist nicht allzu ernst, obgleich er sich hütete, es zu zeigen. Aber er sah, daß ein verborgenes Feuer in ihm glühte, daß er verändert, daß er viel ernster und zugleich blasser, unruhiger geworden war. Er war zu vorsichtig und auch zu achtungsvoll diskret dem eigenen Sohn gegenüber, um eine Frage zu stellen, und ihr Gespräch verlor sich in Anekdoten und Scherzen.

Am folgenden Tag nahm Obrist einen Fiaker, und sie fuhren zusammen in den Prater. Lux war natürlich entschlossen, hinfort in spartanischer Einfachheit zu leben, aber sein Geschmack ging mit dem des Vaters; und soweit waren beide Wiener, daß ein schönes Gespann und eine rasche Fahrt sie hinriß.

Es war ein klarer Nachmittag, ein bleicher Himmel lag über den kahlen Alleen. Die beiden Obrist machten kritische Bemerkungen über die entgegenkommenden Pferde und Zeuge und hatten ernste Gespräche über die Zukunft Österreichs und die soziale Frage.

Als sie heimwärts fuhren und langsam die Hauptallee kreuzten, um der Kriau zuzufahren, sahen sie ein Paar auf dem Fußweg kommen: der Mann, bärtig und heftig gestikulierend, warf im Vorübergehen einen zerstreuten und doch forschenden Blick nach dem Wagen, und ein freundliches Lächeln des Erkennens flog über sein Gesicht. Es waren Marquart und Hedwig Lederer. Lux grüßte, und Marquart trat an den Wagen, den Obrist halten ließ. Man wechselte gleichgültige Worte über den Prater im Winter, und Marquart machte sie, mit einer Armbewegung auf das rötliche Licht des Abends, das durch die laublosen Zweige brach, aufmerksam. Lux sprach mit Hedwig, die blaß und ernst aussah. Eine Einladung, mitzufahren, lehnten beide ab.

Es war unausbleiblich, daß sie nun über Marquart sprechen mußten, und Lux erfuhr vieles, was ihn interessierte. Johannas Name blieb unerwähnt. Er erwiderte wenig. Er dachte, daß Johanna vermutlich allein zu Hause war; die Dämmerung und die Lichter des Abends erregten Sehnsucht in ihm. Sie fuhren schweigend. Die hinreißende Liebenswürdigkeit und Eleganz und die Güte des Vaters rührten ihn, dennoch fühlte er sich wie befreit, als er von ihm Abschied nahm. Der Gott, der ihn beherrschte, duldete keine Nebengötter.

Vierzehn Tage später fuhr er ungern genug nach Hause; es war unvermeidlich, und Johanna selbst drängte ihn dazu.

»Meine Schwester, bekomme ich keinen Kuß zum Abschied?«

Johanna zögerte, aber bei ihrem Zögern nahm Lux den Kuß.

Trotz der großen Seligkeit des Kusses – des schwesterlichen, des zweiten, den er genommen, schien der Abschied von ihr ihm das Bitterste und Härteste, was er erlebt, und er fuhr zu den Eltern, mit dem Bewußtsein, ihnen das größte Opfer gebracht zu haben, das er bringen konnte.

Er verbrachte die Tage in tiefer Ungeduld. Weder die einst so traulichen Mahlzeiten in dem großen niederen, gedielten Saal, vor dessen Fenstern die Linden des Hofes standen, jetzt noch frierend und laublos, im Sommer schattig und so nah, daß sie sich als Knaben oft genug hinaus in die Äste geschwungen hatten, – nicht die Jagd, kaum ein wilder Ritt oder ein raschestes Traben auf den gewundenen Wegen, die bewaldeten Täler und Hügel hinab und hinan – nichts bezwang die unstillbare, quälende Sehnsucht und die bitteren Bilder und brennenden Gedanken, die in seiner Phantasie emporstiegen. Und die Mutter fühlte den Abgrund, der sich aufgetan; zum ersten Male sah sie, daß das kein Knabe mehr war, sondern ein junger Mann, dessen verschlossene Lippen sich ungefragt nicht öffneten und zum Fragen nicht ermutigten. Und sie konnte sich sagen, was sie wollte, sie war verletzt. Vielleicht hätte ein offenes Wort sie ganz auf seine Seite gezogen – so fühlte sie nur die Qual, daß der geliebte Sohn als ein Fremder an ihrem Tisch saß, der nicht mehr nach dem Hause als seinem Zentrum, sondern nach irgend einer unbekannten Anziehung hinstrebte.

Sein jüngerer Bruder Hermann, der kleiner als er, breitschultrig und breitstirnig war, mit schlichtem schwarzen Haar, das in der Mitte geteilt zu beiden Seiten lang herabfiel, saß ebenfalls zumeist schweigend am Tisch. Er hatte die ein wenig starken schönen Lippen der Mutter, nur war ihr Ausdruck trotziger und wilder, und auch wenn er sprach, war es immer unerwartet und stoßweise. Er war ganz entschlossen, nicht auf die landwirtschaftliche Schule zu gehen, sondern Künstler zu werden.

Lux bedauerte, daß keiner mit dem Vater arbeiten sollte, und pries die Landwirtschaft.

»Warum nimmst du sie nicht?« fragte Hermann.

Vor drei Monaten wäre Lux vielleicht noch dazu bereit gewesen, jetzt nicht mehr. Der Vater hatte ihn zum Studium bestimmt, weil er der Zartere, vielleicht auch, weil er der Ältere war. Es hätte alles anders kommen können.

Dies Gespräch wurde geführt, als Lux bereits im Bett lag – Hermann entkleidete sich nicht. »Lösche nur aus,« sagte er, »der Mond gibt Licht genug.« Als Lux regelmäßig zu atmen schien, schwang er sich geräuschlos in der wohlbekannten Weise hinaus in die Baumäste und verschwand.

Lux hielt es für recht, ihm am andern Morgen zu sagen, daß er ihn beobachtet hatte. Hermann war nicht sehr betroffen. Er erzählte ihm ohne weiteres, daß er seine Geliebte aufgesucht – ein prachtvolles Bauernmädchen, eine Halbslawin, – er sprach von ihrer Schönheit in einer Weise, die Lux derb erschien und zeigte ihm Zeichnungen, die er von ihr gemacht.

»Willst du sie – heiraten?« fragte Lux.

»Heiraten? Nein! daran denke ich überhaupt nicht. Ich will mein ganzes Leben lang frei sein. Wenn ich auf die Schule gehe, kommt sie vielleicht mit mir. Wenn der Vater nicht nachgibt, gehe ich durch.«

Lux erinnerte sich mit einem gewissen Unbehagen, wie viel strenger beide Eltern stets gegen Hermann gewesen waren, als gegen ihn. Immer war er verwöhnt und bevorzugt, auf Reisen sei er stets mitgenommen worden – es war nie beabsichtigt, aber es war so. Hermann war immer ein störrischer und weinerlicher Junge gewesen. Um so rücksichtsloser schien er sich nun innerlich bereits von den Eltern getrennt zu haben.

Bei jedem Zusammensein war unter den herzlichen Gesprächen, den Anekdoten und Scherzen der doppelte Riß allen fühlbar. Der Vater pfiff seine Lieblingsmärsche wie immer und erzählte Lux die Erwerbung der neuesten Jagdtrophäen, die in der Vorhalle an den Wänden hingen. Die Mutter setzte sich ans Klavier, und Hermann holte seine Violine, oder der Vater und beide Söhne sangen Studentenlieder und rieben sogar einmal einen Salamander der Mutter zu Ehren ... aber der Schatten wich nicht aus dem Hause. Hie und da funkelte in Carl Obrist die Phantastik auf und er entwarf Pläne, wie sie alle nach Südamerika oder nach dem Transvaal gehen und eine große neue Unternehmung versuchen sollten – dann war es Helene peinlich, die wohlerzogen lauschenden, aber skeptischen Gesichter der Söhne zu sehen. Und sie fand kein Wort, – denn sie fühlte, sie würde heftig werden, und das konnte nichts Gutes stiften.

Lux stand am Fenster und sah in den Hof hinab. Ochsenwagen wurden angeschirrt, um nach der Fabrik zu fahren. Die Pfützen im Hof waren noch halb gefroren, der Himmel und der laublose Wald waren weißgrau, der Wind jagte Strohhalme und welkes Laub vom Vorjahr umher. Seine Gedanken flogen über all das hinweg, dem Bahngeleise nach, und flogen in Träumen in die Zukunft, die so geheimnisreich schien, eine endlose Reihe von Jahren, ein unabsehbarer Weg, der ihm farblos und neblig schien, wie dieser Winternachmittag.

»Träumst du, Lux?« fragte eine weiche Stimme. Die Hand der Mutter lag auf seiner Schulter. Etwas schwoll in seiner Brust, und er küßte die Hand. Aber sie redeten beide nur vom Hof, und über die Knechte und Mägde, die unten schafften.

Die Verhältnisse auf dem Gut interessierten ihn – er sah alles in einem neuen Licht. Der Vater antwortete gern auf seine Fragen, und er selbst verstand mit den Leuten zu reden. Aber fast alle Erfahrungen waren zuletzt schmerzlich und abstoßend: Geiz, Schmutz, Unverläßlichkeit und Unfähigkeit überall. Derbe Kraft war das beste, was zu finden war.

Diese Welt, diese Menschen zu ändern, – sie erst zu Menschen umzuschaffen, welche furchtbare, welche hoffnungslose Aufgabe! Er erinnerte sich der Worte des scharfen kleinen Herrn, der ihn warten geheißen: »Bei uns gibt es keine Offiziere und keine Karriere; jeder hat sich für einen gemeinen Soldaten zu halten – Millionen werden zu kämpfen und zu verbluten haben, ehe etwas kommt, was einem Sieg ähnlich ist.« Er war bereit, – als gemeiner Soldat bereit. Er gehörte nicht mehr sich selbst, sondern einer Sache. Auch die Eltern hatten kein Recht mehr an ihn.

Hermann kam vorbei, den Stutzen in der Hand. »Es wird eine Mondnacht,« sagte er, »kommst du aus? Wir können vielleicht ein Raubzeug schießen; es kommt bis in den Hof.«

Als sie an einer Scheune vorüber schlichen, floh jemand um die Ecke in den Schatten. Hermann, der scharf hingesehen, flog hinterher. Lux hörte flüstern und ahnte, daß er die Schöne des Bruders zu Gesicht bekommen sollte, die entflohen war, als sie ihn gesehen. Ohne Umstände und ohne viel Worte zog Hermann sie an der Hand hervor. Lux streckte ihr die seine herzlich hin; es blieb ihr nichts übrig, als sie verlegen zu berühren. Sie betrachtete Lux verstohlen und machte Miene, wieder auszureißen; ein Gespräch kam nicht zustande, soweit nicht Hermann es führte.

Sonderbar schien Lux diese illegitime Schwägerin. Hermann nahm die Sache mit einer erstaunlichen Natürlichkeit, ernst, aber ohne jede Sentimentalität. Wenn Lux an seine Liebe dachte, war er geneigt, auf Hermann herabzusehen; aber wie ein Widerhaken quälte ihn die Erkenntnis: Hermann hatte eine Geliebte – er nicht. Es war ein Sieg, nach dem er nicht begehrte, – aber der, den er begehrte, war ihm versagt.

Er saß in nicht sehr fröhlichen Gedanken bei Tische, als der Vater die Frage hinwarf:

»Du weißt, daß Doktor Marquart sich von seiner Frau scheiden läßt?«

Lux erblaßte; aber er behielt seine Fassung. »Nein, – ich wußte es nicht,« sagte er.

»Ich hätte es nicht gedacht, denn die Frau hat ja zu erben. Nun, vielleicht hat die neue noch mehr.«

In Lux war ein Stöhnen – aber er bezwang es und sagte:

»Ich glaube, man kennt ihn nicht und man tut ihm unrecht!«

»Sehr reif bemerkt!« sagte Hermann.

»Du kennst ihn gewiß nicht!« rief Lux heftig.

»Kennst du ihn?« fragte die Mutter ernst.

»Ich dachte, du weißt vielleicht, wer die Nachfolgerin werden soll – Ist es eine aus dem Serail?«

Lux fühlte, die Qual wollte unerträglich werden. Wer zog ihn in einen Morast? Er haßte seinen Vater in diesem Augenblick.

»Ich weiß von gar nichts,« sagte er fast tonlos. Alle sahen, wie blaß er war. Johannas klares Angesicht tauchte vor ihm auf – und seine Augen glänzten wieder.

»Es soll eine ehemalige Schülerin sein, eine sehr elegante junge Person, die sich in ihn vernarrt hat ... Namen und Näheres weiß ich nicht. Ich dachte, du wärst an der Quelle und müßtest's wissen ...«

»Ich weiß von gar nichts,« sagte Lux noch einmal.

Helene änderte das Thema absichtlich, indem sie eine Wirtschaftsfrage stellte.

Sie warf ihrem Mann nachher vor, daß er mit dem Verderben scherze, statt den Dingen auf den Grund zu gehen. Sie sah ihren Sohn in einer großen unbestimmten Gefahr.

Carl lächelte. »Er kann vor seinem vierundzwanzigsten Jahr nicht heiraten, ohne daß ich vorher davon erfahre. Und was es sonst ist, das muß er durchmachen.«

In dem Augenblick trat Lux ein und sagte, daß er am nächsten Tag reisen müsse. Nur mit großer Mühe ließ er sich bestimmen, seine Abreise um weitere vierundzwanzig Stunden zu verschieben.

»Es ist offenbar eine von den sieben Frauen des Propheten«, sagte Carl Obrist, als Lux das Zimmer verlassen hatte. »Hol der Teufel die Liebesgeschichten! Aber zu machen ist da nichts.«

Er war nicht so ruhig, wie er scheinen wollte.

Es war warm geworden; Tauwetter und Hochwasser waren in diesen Tagen eingetreten; im Augenblick hatten sich alle Bäume mit Knospen von zartestem Grün bedeckt, der Fluß hatte die Wiesen überschwemmt und wogte an den Waldrand und bis in die Nähe des Hauses – ungefährlich, aber prächtig anzuschauen. Die Räder des Wagens, in dem Lux nach dem Bahnhof fuhr, rollten stellenweise durch das Wasser, das die Straße verbarg und unter den Hufen der Pferde aufspritzte, und wie der warme Frühlingswind über die weite graue Fläche fuhr, brauste es ungeduldig gleich dem Frühling durch Luxens Adern. Seit langem hatte er keine so freudige und aufgeregte Fahrt gemacht.


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