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Drittes Buch

I

Johanna und Lux zogen die Alpenstraßen südwärts. Waren es die uralten Pässe, die Völkerwege, die Fahrstraßen für Postwagen und Saumtiere? – Johanna und Lux gingen Liebeswege.

Auf weißen stäubenden Straßen ziehend, an Wäldern und Dörfern vorbei, die zwischen Hügeln im milden Abendlicht unter rosigen Wolken lagen, kamen sie an einen kühlen, dampfenden, dunkelblauen See, dessen eisige Wasser in einem hohen Bergkessel an die mit Quadern geschützten Ufer schlugen ... Sie schritten durch einsame grüne Täler, durch weiße von raschen Flüssen durchströmte Städte und Dörfer, deren Häuser sich wie erschreckt zwischen ungeheure, grüne Bergwände duckten; und sie sahen von hoch oben, von schwindelnden Holzbrücken über nacktem, gelben Geröll, an dem weiß glitzernde Wasserstreifen niederschossen, in die winkligen weißen Gassen dieser Dörfer und Städte hinab, und sahen, wie dort tief unten kleine dunkle Gestalten schritten und winzige Pferdchen zierliche Wägelchen zogen. Sie kamen talaufwärts an zerklüftete Felswände, an ungeheures schroffes Gestein, in schreckhafte Einsamkeiten, über die dunkles drohendes Gewölk sich schob, und sie sahen leuchtende weiße Schneefelder in der Sonne blitzen.

Johanna ging unermüdlich, sechs, acht, zehn Stunden im Tag, ja mehr noch, wenn es sein mußte: neben ihr Lux, der den Rucksack trug, in dem außer allem Vorrat noch Bücher mitgeschleppt wurden.

Und je weiter sie wanderten, in eine desto fremdartigere Welt schienen sie zu gelangen, weit von den Menschen fort ... in einander versunken, eins im andern träumend und lebend.

Sie wandelten Liebeswege.

Bis sie in ein Tal kamen, von dem sie nie gehört, das von Fremden kaum besucht war, auch keine besonderen Reize hatte als den der Einsamkeit. Dort hielten sie Rast und blieben.

Lange nachher erinnerten sie sich einzelner Stunden und Abende, einzelner Stellen und Wege in diesem Tal, der dampfenden Morgennebel, einer Mondnacht, des schweigsamen Zitherspielers in der Bauernstube ... aber es waren Erinnerungen, die heraussprangen aus einem unentwirrbaren Traum, der sich aus Gold und Flammen wob, wie Morgenröten über ewigen Bergen und tosenden Strömen.

Waren sie es, Lux und Johanna, oder zwei jauchzende, schlanke Kinder einer Vorzeit, die hier spielten, die hier feierten, die sich hier vermählten?

Und der Zug der Resignation wich aus Johannas Gesicht, und eine Liebesfreude überwältigte sie, die sie nie gekannt. Jünger und erfahrener, weiser und törichter ward sie zugleich.

Wie sie sich an seiner Kraft und Schönheit erfreute, an seiner Geistesgegenwart und Tatbereitschaft, seiner gemsenhaften Behendigkeit, mit der er über die Felsen sprang, an den sicheren guten Worten, die er für Bauern wie für Städter hatte.

Wie er sich verändert hatte in diesen wenigen Wochen, zwiefach im Kontrast: Der trauervoll feierliche Ernst der letzten Monate war einem heiteren Übermut, die knabenhafte Unbestimmtheit einem sicheren Ernst des Wesens gewichen. Die doppelte Sonne dieses Sommers, die innere und die äußere, hatten ihn rasch zum Manne gebräunt. Die Demut ihr gegenüber hatte er abgestreift, und obgleich ihr niemand je mit solcher Zartheit begegnet war, so lag doch ein sehr bestimmtes Wollen in dieser Zartheit. Und obgleich er noch immer wunderbare Botschaften aus ihrem Munde vernahm, so fühlte sie doch manchmal den Widerspruch einer Kritik, die ihr von ihm neu, aber nicht unwillkommen war.

Und wie er sie necken, wie er lachen konnte!

Wie ihr Blick auf ihm ruhte, wenn sie auf der Holzbank unter der Laube saß, während er sich geschmeidig und behaglich im Grase streckte, hirtenmäßig rauh gekleidet, in Flanellhemd, Gurt und Lederhose – hell lachend über einen ganz mißglückten Kochversuch, den sie unternommen, um ihre ein wenig eintönig aus Wurst und Eiern, Milch, Käse und Kartoffeln bestehende Nahrung zu unterbrechen.

Welch eine Intensität alle Dinge in dieser Zeit für sie gewannen, Farben und Licht und Luft, Bilder und Worte! wie die Gespräche, die sie führten, unvergessene Spuren in ihre Seele gruben, wie sie erstaunten über den Reichtum, mit dem die Welt die Einsamen überschüttete. Welch ein glücklicher Gesang durch die Bergtäler zu hallen schien, ein geheimes Lachen der Lust, das Tränen zerdrückte ... seltsame Tränen über die unwiederbringlichen Minuten, über den unaufhaltsamen Strom des Daseins, der auch jetzt verrann, – obwohl sie weder rückwärts noch vorwärts schauten – furchtbar rasch verrann! Der August ging zu Ende, ehe sie sich versahen, – das Gras war verbrannt und gelb, die Steine glühten, die Bergwasser wollten versiegen; und die Gewitter rollten wie eine furchtbare Musik über den nahen Klüften.

Und ihre Blicke sagten einander: »Es ist Zeit!«

Sie hatten ursprünglich noch durch die Pässe des Südens auf italienischen Boden vordringen wollen. Aber es blieben ihnen nicht mehr so viele Tage. Lux mußte die letzten Ferienwochen bei den Eltern verbringen.

Sie nahmen einen heißen und bitteren Abschied: wie reich das Leben vor ihnen lag – diese Zeit kam nicht wieder. Sie hätten es nicht empfunden, wenn sie sich nicht hätten trennen müssen. So aber gingen sie in jener unbestimmten, sehnsuchtsvollen Angst und Sorge der Liebenden von einander. Er sah sie fast umsinken, als der Zug aus der Halle fuhr.

 

Er hatte den Eltern mitgeteilt, daß er in den Ferien eine Fußwanderung durch die Alpen zu machen gedenke und erst im September in Klein-Lostitz eintreffen werde. Er schrieb gelegentlich; sie wußten wo er war, mit wem er war, wußten sie nicht.

Man vermeidet es in den österreichischen Alpen im Sommer nicht, gesehen zu werden, wenn man in Wien viele Bekannte hat; der junge Obrist war in Rottenmann vor dem Gasthaus zur Post mit einer Dame gesehen worden; wer die Dame war, wußten die, die ihn gesehen hatten, nicht.

Übrigens hatte das vorläufig keine Bedeutung.

Er kam spät abends an; er sprang aus dem Wagen, der Kutscher trug den Mantelsack in den Torweg, der breit war wie eine Halle, und Lux beugte sich herab, die Mutter zu küssen, die die Treppe herunterkam und beim Schein der Laterne, die von der weißen Decke hing und den Torweg erleuchtete, in sein Gesicht sah.

Niemand konnte sich verhehlen, wie verändert er war: die Stimme, der entschlossene Zug um den Mund, der freudige Glanz in den Augen. Der Schimmer seines Glücks umsprühte ihn, jene Atmosphäre schwebender Kraft, die den Menschen umgibt, der liebt und geliebt wird ... gedämpft vom Ernst der Trennung, und dem Bewußtsein eines Schicksals. Die fest tönende Stimme vor allem, die Bestimmtheit in allem, was er tat und sprach – Helene wußte, das er ihr nicht mehr gehörte.

Wenn er gesprochen hätte! ... Er erzählte, um seine Reiseerlebnisse befragt, nur kurz und lückenhaft, erging sich in Landschaftsschilderungen. Einmal geschah es, daß er »wir« statt »ich« sagte.

»Wir?« fragte Hermann.

»Ich war nicht immer allein,« antwortete er schroff.

»Das dachte ich mir,« sagte Hermann ruhig. Trotz ihrer Sorge mußten beide Eltern lächeln. Lux hörte mit dem Erzählen auf. –

 

»Was mich kränkt, ist seine Unaufrichtigkeit,« sagte Helene zu ihrem Mann.

»Du wünschest doch nicht, daß er den schlechten Geschmack hätte, von seinen Liebesabenteuern zu reden?« erwiderte er.

»Würde er nicht sprechen, wenn es eine reine und gute Sache wäre?«

»Kind!« sagte er ein wenig ungeduldig, »du tust, als ob du nie einen Roman gelesen hättest. Woher diese Intoleranz für Lux?«

»Intoleranz!« rief sie, betrübt, so mißverstanden zu werden.

Sie fragte ihn, ob er wisse, welche Wege sein Sohn gehe, ob er nicht für ihn verantwortlich sei.

»Verantwortlich?« sagte Carl Obrist. »Ich weiß nicht, ich meine, man hat an sich selber genug. Aber, mein liebes Mädel, die Sorge macht dich verwirrt: kein anständiger Mensch forscht den Liebesangelegenheiten eines Andern nach. Daß es der eigene Sohn ist, ändert daran nichts.«

Auch Lux ward das Schweigen nicht leicht. Aber er fühlte, daß von Johanna zu sprechen unmöglich war.

In Wien hatte Carl Obrist ihn noch unreif gefunden und die Sache leichter genommen. Aber nicht die Jahre reifen, sondern die Erschütterungen. – Lux zerstörte seine Pläne: er sollte sich eine Stellung erobern, die ihn zu einem großen Wirken befähigen würde. Und nun gab sich der Junge an ein Weib und an eine aussichtslose Utopie hin. Auch diese fand er tiefer wurzelnd, als er gedacht.

Sie waren über nichts mehr einig, Söhne verschiedener Generationen. Der Vater schien Lux zurückzubleiben. Carl Obrist sah keine andre Hoffnung mehr für Österreich, als in einem entschiedenen Absolutismus, zweifelte nicht, daß er kommen würde, meinte, daß Graf Taaffe, wenn man ihn hätte gewähren lassen, immerhin die richtigste Politik verfolgt hätte. Lux war an Österreich überhaupt nichts gelegen, er dachte an die Menschheit. An die sozialistische Bewegung glaubte der Vater nicht, er sah nichts davon. Die war nur in Deutschland, dem Land der Doktrinäre, möglich, bei denen, was immer in ein System gebracht werden konnte, Anhänger fand.

»Wenn du in Wien wärst, würdest du an der Universität allein sehen, welche Bedeutung sie gewinnt,« antwortete Lux. »Es ist wahr, es sind meistens Juden ...«

»Die zählen nur halb,« sagte der Vater lächelnd.

»Im Volk ist's anders.«

Ein Jugendfreund des Vaters, Professor von Bauer, kam für einige Tage zu Besuch. Es war ein hagerer Herr, von mittlerer Größe, mit einem kleinen viereckigen, von einem dunklen kurzen Bartrand umrahmten Kopf, um den klugen Mund zogen sich feine Falten, die Augen waren auffallend scharf und strahlend. Er war außerordentlicher Professor des Staatsrechts in Wien, von der Mutter her Slawe, ein Mensch, dessen originelle Anschauungen und Äußerungen bekannt waren. Ein ausgesprochen antiklerikaler Zug in seinen Schriften versperrte ihm den Weg zur ordentlichen Professur.

Nun wurde erst recht von Politik gesprochen. Vergeblich suchte Lux sich dem zu entziehen. Es ward dem Professor so leicht, alle seine Argumente und Daten zu widerlegen, ohne seine Empörung und seinen Glauben zerstören zu können.

»Aussichtslos?« sagte er zuletzt, »dann begreife ich die, welche die heutige Welt in die Luft sprengen wollen!«

»Also lieber so viel Kultur vernichten,« erwiderte der Professor, »als ein unvermeidliches Menschenelend in den Kauf nehmen? Sollen die Tiere herrschen?«

»Heute herrschen die Tiere!« sagte Lux heftig. »Wo herrschen heute die Menschen? Wie viel Menschen gibt es überhaupt in der Rasse? Die müssen erst werden.«

Eine Welt hoher Hoffnungen hatten sie in den Bergen erbaut: Shelleysche, durch Marquart vermittelte, Träume einer neuen Menschheit ... Lux ließ sich hinreißen, davon zu sprechen, so kalt und ruhig, als es ihm immer möglich war: »... Fünfzig Generationen? – – Wir zählen nicht! Wer es erkennt, muß als Schwertträger sein Leben dafür einsetzen. Wir wollen helfen, es zu realisieren.«

Die Tatbereitschaft leuchtete aus seinen Augen.

»Den lieb ich, der Unmögliches begehrt!« sagte der Professor lächelnd. Sie ahnten nicht, wie hoch er über allem Irdischen schwebte, zu schweben glaubte. Die Unbedenklichkeit war sein Programm geworden. Seine Wonne und Freiheit war in den letzten Monaten hoch gestiegen. Der Professor erlag dem Zauber seiner Persönlichkeit. »Ich bin in den Jungen verliebt,« sagte er. Sie gingen stundenlang in Gesprächen oder ritten miteinander aus; – Bauer war ehemals Offizier gewesen, – während Lux es ablehnte, mit dem Vater auf die Jagd zu gehen.

»Ich würde es tun, wenn ich hungerte, oder anders nicht Nahrung finden könnte.« Aber Tiere zum Vergnügen zu töten, fand er unerlaubt.

»Das Rehfilet ist ausgezeichnet, wenngleich unerlaubt,« sagte Hermann, als Lux von dem Wild aß, das auf den Tisch kam. Der Vater lächelte.

»Das ist doch die aufgelegte Sentimentalität,« sagte Hermann weiter.

Aber Lux war nicht mehr leicht zu reizen.

Ehe sein Besuch zu Ende ging, teilte er dem Vater mit, daß er das nächste Semester an einer deutschen Universität, vermutlich in Berlin, zu verbringen gedachte. Da dies längst beabsichtigt war, wurden keine Einwendungen dagegen erhoben.

Hermann ging nach München. Der einsame Winter lag vor Mann und Frau.

Die heißen Tränen, die Helene vergoß, sahen weder ihr Mann noch ihr Sohn. Eifersüchtig, wie ihre Liebe war, lag es nicht in ihrem Wesen, andre mit ihrer Qual zu quälen. Auch brachte ihr der Herbst alle Hände voll zu tun. Es galt die Heiterkeit im Hause zu erhalten bis zu Knechten und Mägden herab – wie sie wohl wußte, das einzige Mittel, damit die Arbeit gut von statten ging. Und soviel Freudigkeit lag in ihr, daß es gelang, trotz allem, was sie in sich Zerdrücken mußte.

Wenn die Frau kam, mit ihren fröhlichen, oder guten, immer sicheren Worten, ging alles gut. »Sunst sinds Schaf ohne Halter«, sagte die Wirtschafterin.

»Nein, Maruschka, das kannst du!« sagte Helene bewundernd, als die kleine Magd über den Trog sprang und verlegen stand, als sie die Frau bemerkte. Ihr war es lieb, wenn die Leute fröhlich waren und sangen oder scherzten, solange es in den Grenzen blieb. Und wenn es über die Grenzen hinaus ging, wußte sie Ordnung zu stiften und zu helfen.

Sie schritt aus dem sonnigen Hof, ein Stück den Waldweg entlang, auf dem Carl von einer Vermessung kommen mußte. Unten am Fluß sah sie zwei weiße Gestalten. Sie ging näher: Hermann und Lux badeten. Waren sie nicht prächtig?

»Es sind deine Jungen,« sagte sie, ihren Mann umhalsend, der sie vom Weg abbiegen gesehen und ihr nachgekommen war.

Der letzte Abend kam, ein langer Herbstabend unter der Lampe. Wieder erklangen die Lieder. »O alte Burschenherrlichkeit«! und »Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus«! bis alle darüber lachten, daß sie so gefühlvoll gewesen und den »Grafen von Luxemburg« anstimmten.

»Ein höchst passendes Lied für unser Geschlecht«, sagte der Vater und schlug den Takt mit seinem Spazierstock.

Helene hatte eine Bowle vorbereitet, und sie war die erste, die redete: »darauf daß ihr eure Wege als Obriste geht, wie euer Name sagt ... die ersten und tüchtigsten und anerkanntesten – als sorgsame Obriste für eure Sache und für eure Untergebenen, wie der Vater es ist ... nie eine Felonie an eurer Fahne begeht, rein und aufrichtig ...« hier erstickte ihre Stimme.

»Wir wollen nicht von Offizieren und Untergebenen reden, Mutterli«, erwiderte Lux. »Daß wir unsere Pflicht tun, als gemeine Soldaten ... Das, was wir im Herzen als unsere wahre Pflicht erkennen, als unsere Ausgabe, unbekümmert um alles sonst; weil wir nur so das höchste leisten können, zu dem wir bestimmt sind!«

»Wacker, wacker! Fahre nur so fort!« rief Hermann.

»Nicht gerade die Devise eines gemeinen Soldaten, Lux, was du gesagt,« meinte der Vater, »aber das macht nichts! Prosit, Jungens.«

»Prosit, alter Vater!« donnerten sie zurück, und ein gemeinsames »Prosit, Mutter! Hoch!« vereinte sie.


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