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XIV

Am andern Morgen erwachte sie freudig. Leise verließ sie ihr Bett und das Zimmer und eilte im Morgengewand in den Erker des Salons, durch dessen große Fenster das Sonnenlicht einströmte. Sie mußte es öffnen und die feuchte kalte Märzluft atmen. Sie wunderte sich, daß kein Brief für sie kam. In ihr war ein ungeduldiges Bedürfnis, dem, der ihr so viel gebracht, ihre Dankbarkeit zu zeigen. Sie wußte nicht, was sie für ihn tun sollte; aber sie begriff, daß alle, die um ihn lebten, ihn dankbar verehrten, der sie die Welt schön und sinnvoll sehen ließ.

Berauschende Worte fielen ihr ein, die er in ihre Seele gegossen, Worte einer großen Freiheit, daß der Mensch, der sich seiner Handlungen bewußt, und ihre Folgen auf sich zu nehmen bereit ist, niemanden zu fragen, niemanden zu fürchten brauche. Daß Gärten voll blühender Blumen des Glücks um uns sind und nur Mut nötig ist, um die Blumen zu brechen. Und plötzlich fielen ihr die Worte ein, die er in Venedig zu ihr gesprochen, und sie fühlte den heftigen Wunsch und eine nahe Hoffnung, dorthin mit ihm zurückzukehren, wo sie sich zuerst getroffen hatten. Nach dem Platz vor der in Gold und Farben strahlenden Kirche, wo die Kerzen am hellen Tage in die Luft flackerten, »wie unruhige Seelen, die sich in eine Welt verloren, in die sie nicht gehörten.«

Noch andre Worte fielen ihr ein, und sie suchte sie kindisch nachzusprechen mit seinem Tonfall. »Sie Wunderbare!« Und sie errötete, da sie sich bewußt ward, wie oft diese Worte sich seither an die Schwelle ihres Bewußtseins gedrängt hatten und von ihr zurückgedrängt worden waren.

Sie grübelte nicht, was werden sollte. In ihr war nur der tiefe Wunsch, zu ihm zu gehen und zu seinen Füßen zu knieen, auf ihn zu hören, und den Mund zu küssen, der so holde Worte sprach. Und sie fühlte seine Küsse wieder auf ihren Lippen, und die Hände, die die ihren so heiß umklammert hatten.

Um 10 Uhr kam ein Brief von Marquart. Aber er war nicht, was sie erwartete. Marquart redete sie darin mit »Verehrte gnädige Frau« an, er fragte, wann er sie sprechen könne, ob er kommen, oder auf ihren Besuch hoffen sollte; eine gewisse besorgliche Vorsicht sprach aus dem Brief, und sie hätte sich geärgert – doch zwischen den Blättern lag auch ein Papier, auf dem Verse standen, klingende Verse, die sonderbarerweise von jenen flackernden Kerzen sprachen, die zur hellen Flamme wurden – sehr süß klingende Verse. Wie seltsam, das galt ihr! Für sie wurden die Worte zu diesen seinen, sprühenden, schön zusammengesetzten Edelsteinen, sodaß sie einen neuen Sinn gaben! Und er hatte dies getan. Nun mußte sie zu ihm gehen. –

Er selbst öffnete ihr und führte sie in sein Arbeitszimmer. Dort nahm er ihre beiden Hände, sah ihr in die Augen. Dann zog er sie an sich und küßte sie auf Wangen und Mund. Sie schloß die Augen und nahm und erwiderte seine Küsse.

Er sprach zärtliche Worte. Sie wollte den Weg für ihre Zukunft wissen und wartete, daß er davon sprechen sollte.

Er aber sagte, was sie ihm die ganze Zeit über gewesen, wie sie seine Arbeiten beeinflußt hätte, wie er bei allem an sie gedacht, wie sie ihm Kraft gegeben und ihm noch mehr geben werde; wie er nun schaffen wollte, wie es nun schön und perlend aus ihm quellen müsse, doppelt geweiht und erleuchtet, wenn er alles erst mit ihr, der Geliebten besprechen könnte.

Das war wunderbar und süß zu hören.

Da rief Annitas Stimme aus einem entfernteren Zimmer: »Heinrich!«

Johanna riß sich los. Ein heftiges fortgesetztes Zittern lief durch ihren Körper. Ein fliegendes Grauen kam über sie, sie wollte hinausstürzen ...

»Still!« sagte Marquart und drückte sie sanft in einen Stuhl; dann ging er aus dem Zimmer. Sie hörte ihn, wie er das nächste Zimmer durchschreitend mit lauter Stimme rief: »Liebchen, Johanna Berkheim ist da!«

Sie machte ein paar Schritte zur Türe. Da empfand sie, daß es sinnlos und feige war, so wegzulaufen. Sie fühlte auch, daß sie nicht verzichten konnte. Wäre die kranke Frau nur nicht ihre Freundin und nicht krank gewesen. Gleichzeitig empörte sich aber etwas dagegen in ihr, daß die Kranke ihn festhalten wollte.

»Freiheit für mich und ihn! Freiheit für alle –« sagte sie laut. Und schon trat sie langsam, wie von unsichtbaren Mächten gedrängt zwischen die Türe, um gleich die Entscheidung herbeizuführen. Da kam Marquart zurück. Er sah aufgeregt aus, aber er lächelte und sagte: »Es ist nichts.« Er gewahrte das entschlossene Funkeln ihrer Augen und faßte abhaltend ihren Arm. »Sie ist sehr schwach und unwohl!« sagte er.

Johanna wurde blaß. Es konnte nicht sein.

»Wie schrecklich, Marquart!«

»Ja, es ist schrecklich! aber es ist auch süß. Eines ist sicher, Geliebte: wir gehören zu einander und sind zu einander gezwungen, wie schwer auch die Fesseln sein mögen, die uns halten ...«

»Mich hält keine!« sagte Johanna.

Marquart sah sie erstaunt, fast bestürzt fragend an.

»Ich habe Richard gesagt, daß ich nicht bei ihm bleiben kann.«

»Oh,« rief er, und sah sie mit einem ganz merkwürdigen Ausdruck an. Er wollte etwas sagen, aber er verstand, daß er das nicht sagen durfte.

»Was willst du tun?« fragte er und stockte.

Sie achtete gar nicht darauf, sondern fragte: »Und du?!« und sah ihn gespannt an.

»Oh, ich! – wir werden darüber sprechen – aber du zunächst! Wohin willst du gehen, wie leben?«

Wie sonderbar, daß er das fragte. »Das wollte ich von dir hören,« sagte sie und senkte den Kopf.

»Heinrich!« rief Annitas Stimme wiederum.

»Gleich, Liebchen!« rief er ein wenig ärgerlich.

Johanna trat zurück.

»Sie will dich sprechen,« sagte er, als er zurückkam. »Willst du auf einen Augenblick zu ihr gehen?«

Johanna sah ihn starr an. Wieder lief das Zittern über sie. »Ich kann nicht,« sagte sie, »oder ich muß ihr alles sagen ... auch wenn ich kein Wort spreche.«

»Um Gotteswillen! Nein!« rief er, »das könnte sie töten!«

Johanna zitterte so, daß Marquart den Arm um sie legte, um sie zu stützen.

Aber sie zwang sich gewaltsam zur Ruhe. Sie ergriff seine Hand und drückte sie heftig: »Wir müssen klar werden,« sagte sie nachdrücklich.

»Ja,« antwortete er fest.

Sie nickten einander zu und verstanden sich. Aber sie fühlten, daß sie hier nicht weiter sprechen konnten. Er bat sie, ihn in einer halben Stunde hinter dem Rathaus zu erwarten.

Als Johanna die Treppe hinabstieg, war es ihr, als ob sie keine Kraft mehr hätte; und ein Gefühl von dunklerem Unheilsahnen war über ihr, als am Abend vorher. Die große Empfindung schien zerrissen; was sie erwartet hatte, war nicht gekommen, und aus den Zimmern, dem Haus und über die Treppe folgte ihr irgend etwas, was dumpf, klein und widerlich war.

 

Sie ging auf den breiten Fliesen hinter dem Rathaus auf und ab. Die Menschen bekümmerten sie gar nicht.

Als Marquart kam, strahlte er so, und seine Worte waren des Glücks so voll, daß auch ihre Stimmung sich hob. »Über alles hinwegschreiten«, war die Losung, die er gab. »Über alles – Wölsungenblut!« sagte er. Zunächst wollte er das Praktische erledigen. Da sie einmal beschlossen hätte, ihren Mann zu verlassen, – ob sie zu ihren Eltern ziehen wollte?

»Nein,« sagte Johanna.

Also müsse sie eine Wohnung suchen. Und wovon sie leben wollte? Er wußte sehr gut, daß sie nichts besaß.

An all diese Dinge hatte Johanna gar nicht gedacht. Und auch jetzt, obwohl sie die Notwendigkeit begriff, erschienen sie ihr als umständlich und unangenehm, aber keineswegs als Sorgen. Heiß rauschte die Leidenschaft in beiden empor, und sie vergaßen alles andre über der glühenden Sehnsucht, beisammen zu sein.

In diesem Augenblick – sie erinnerte sich des später sehr gut – dort an dieser Stelle ergriff sie ein unbekannter Rausch, und alles um sie her begann unwesentlich und unwirklich zu scheinen. Gleichgültig die Menschen und was sie sagen mochten, gleichgültig das Haus mit den öden Zimmern, in das sie zunächst zurückkehren mußte.

Gerne wäre sie niemandem begegnet, aber das ließ sich nicht vermeiden. Die Stimmen schlugen fremd an ihr Ohr, und fremd waren die Gesichter, die sie solange um sich gesehen hatte. Sonderbare Blicke sahen in ihr Gesicht, jeder im Haus wußte, daß etwas vorgefallen war. Es war eine Erregung, ein Gehen und Flüstern, wie in einem Hause, in dem ein Schwerkranker liegt.

Bei Tische sah sie Luxens Augen mit gespannter Aufmerksamkeit auf sich gerichtet.

Ihr Mann verlangte, daß sie mit ihren Eltern spreche. Er war zu stolz, sie selbst zu Hilfe zu rufen. Da sie es jedenfalls erfahren mußten, ging Johanna hin. Sie küßte Vater und Mutter, setzte sich, starrte einen Augenblick zur Erde und sagte dann, daß sie von ihrem Mann fortginge.

»Jesus Maria!« sagte die alte Frau ganz leise.

»Es ist nicht recht«, sagte der Vater. »Das hättest du früher überlegen sollen. Wir haben dir keinen Zwang angetan.«

»Und der Mann ist so gut«, fügte die Mutter hinzu.

»Darum muß ich fort«, antwortete Johanna.

So redeten sie eine Weile. Mit jenem sonderbaren Gefühl, das sie für einander hatten, jener Toleranz, die halb Gleichgültigkeit, halb Liebe war, drangen sie nicht mehr in die Tochter. Es war eben so. Sie seufzten und nahmen es hin.

Es war ziemlich spät, als Johanna zurückkam.

Das Mädchen sagte ihr, daß eine Dame im Salon auf sie warte.

Johanna war erstaunt, Frau Zimmermann zu sehen. Die schlanke Frau mit dem ergrauenden Haar und dem schmalen, blassen, fast gelben Gesicht kam rasch auf sie zu und faßte sie freundlich bei der Hand. Sie zog sie in den Erker und sprach zu ihr mit weichen Worten, mit der Lebensklugheit der erfahrenen Frau, die eine jüngere, der sie wohl will, vor einem verhängnisvollen Schritt bewahren will.

Sie merkte bald, daß sie ebensogut zu einer steinernen Wand hätte sprechen können.

Johanna gab ihr stets dieselbe Antwort. Ein bitterer und finsterer Zug kam in das Gesicht der Hofrätin.

»Johanna«, sagte sie, »ich habe Sie nie leiden können. Ich bin aufrichtig. Ich habe es Richard kaum verziehen, daß er Sie in diese Zimmer gebracht hat. Und ich habe ihn gewarnt ...«

»Sie haben recht getan – nur hätte auch mich jemand warnen sollen!«

»Jetzt bitte ich Sie um der Kinder meiner Schwester willen, bleiben Sie bei uns! Sie dürfen alles, alles tun! Lieben Sie, wen Sie wollen! Wir werden nichts sehen – wir werden alles zudecken, wir werden gut zu Ihnen sein ... aber bleiben Sie da! ...«

Johanna erhob sich empört. »Hören Sie auf, Christine!« rief sie.

»Sie wollen nicht?! Sie wollen also den Skandal?« Ihre Stimme, die hohe Stimme einer alternden Frau, klang grell und schneidend – obschon sie nicht laut und immer beherrscht sprach. »Merken Sie sich das, – man wird auch für Sie weder Mitleid noch Schonung haben!«

»Ich verlange weder Mitleid noch Schonung«, sagte Johanna, »nur Freiheit ...« fügte sie leise hinzu.

»Ich hätte mich mit Ihnen nicht einlassen sollen ... Sie sind mannstoll ...«

Johanna wendete sich um und schritt durch das trüberleuchtete Zimmer zur Tür, ohne auf die halblauten, feindseligen Worte der Schwägerin weiter zu hören.

 

Sie hatte noch eine Unterredung mit ihrem Mann. Sie wollte gute Worte sprechen, aber er war kalt und abweisend.

»Wie du willst!« sagte er, »ich werde meine Schritte überlegen. Von deinem Verhalten wird es abhängen, was für ein Jahrgeld ich dir aussetzen werde ...«

»Nein, Richard«, erwiderte sie, »auch das geht nicht. Ich danke, aber ich kann nichts mehr von dir annehmen.«

»Wie du willst«, sagte er müde und verließ das Zimmer.

In dieser Nacht ging Johanna nicht zu Bette.

Am andern Morgen wollte sie fort.

Der Hofrat verließ das Haus und fuhr zur Klinik wie gewöhnlich. Johanna erhielt einen Brief von Marquart, sie las ihn und hielt ihn eine Zeitlang nachdenklich in der Hand. Später vermißte sie ihn. Niemand war im Zimmer gewesen, als Ida. Johanna fragte nach ihr; es hieß, sie sei im Bade.

Johanna pochte an die Tür, Ida rief, sie könne nicht öffnen. Die Türe war nie fest gewesen, und da Johanna zornig daran rüttelte, gab sie nach.

Kreischend warf das Mädchen den Bademantel um.

»Du hast den Brief genommen, Ida!«

Bald blutrot, bald blaß starrte das Kind sie an.

»Es ist gemein, fremde Briefe zu nehmen!« rief Johanna. Die Kleider Idas lagen vor ihr. »Gib mir ihn von selbst zurück. Ich will deine Sachen nicht durchsuchen.«

»Es ist gemein, solche Briefe zu bekommen!« rief Ida. Ihr magerer, frierender Körper zitterte unter dem Tuch.

Johanna hielt an sich. »Gib mir den Brief!« wiederholte sie.

»Ich hab ihn nicht.«

Johanna konnte sich nicht mehr beherrschen, sie faßte Ida beim Arm und schlug sie. Das Mädchen schrie auf und hielt die Hand vors Gesicht.

»Es ist gut!« sagte Johanna. – »Du wirst den Brief dem Vater geben, und er wird ihn mir zurückgeben.« Sie ging hinaus.

In heftiger Aufregung packte sie die nötigen Sachen. Ehe sie fertig ward, kam der Hofrat zurück und fand seine Tochter fiebernd im Bett.

Indessen verließ Johanna wie fliehend das Haus, in dem sie durch zweieinhalb Jahre gelebt hatte.


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