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VII

Es war Johanna, als sei ihr Leben in diesen Jahren in der reichsten Blüte aufgegangen – mehr, weit mehr, als sie je erwartet hatte. Ja, alle die Kämpfe und Quälereien jenes Halblebens, das ihnen vorausgegangen, schienen ihr wie notwendige Vorstufen, wie Zeichen am Wege, wie Schatten, die die Schönheit des Bildes erhöhten. Sie bangte nach Ausdruck für die Fülle, die sie empfand. Sie sagte Lux oft, sie wünschte, sie hätte mehr Musik getrieben. »Sie ist dafür in dein Wesen übergegangen,« gab er zur Antwort.

Sie waren in diesem Sommer in Wien geblieben, der Ersparnis halber, und nur gegen Ende August, als die Hitze unerträglich ward, für zwei Wochen aufs Land gezogen.

Sie saß allein auf dem Balkon und erwartete ihn. Vor ihr lagen geöffnete Briefe, Erinnerungen aus den Kapiteln ihres Lebens. Auch Briefe an Lux waren darunter, einer von seiner Mutter, zärtlich und dennoch stolz zurückhaltend; nie stand ein Wort über das Vorgefallene darin; eine zürnende Liebe sprach daraus, die ihren Zorn nicht in Worten sagte, die dennoch um den Sohn sorgte und nicht aufhörte für ihn und von ihm zu hoffen – und zugleich ein starkes Ertragen der eigenen Sorgen. Johanna zürnte der Frau nicht, von der sie verurteilt wurde: sie begriff und beklagte das Mißverständnis. Und sie fragte sich manchmal, ob sie nicht imstande sein würde, ihr zu schreiben, ihr in einer Weise zu schreiben, die das Mißverständnis lösen müßte. Sie hatte einmal einen Brief begonnen, aber Lux hatte ihn verworfen.

Dann Briefe an sie selbst: von Annita, die krank lag und ihrer oft bedurfte, von der Gielowska, die gleichfalls viel leidend war und sie in Anspruch nahm, von ihren Eltern, die alt wurden und immer dieselbe halb gleichgültige, halb verstehende Liebe für die unberechenbare Tochter hatten.

Sie sah auf den fernen Sommer zurück, in dem sie über den See gefahren und in Berkheims Haus getreten war.

Über dem Tal ging die Sonne leuchtend unter. Eine große, an ihren Rändern rotglühende Wolke breitete sich piniengleich, wie die Flammensäule eines Vulkans oder wie ein Adler mit geöffneten Schwingen aus.

Sie begann zu singen, kunstlos, mit ungeschulter schöner Stimme – ein Lied von der silbernen Harfe der Zeit, die durch die schweigenden Nächte klingt, von dem goldenen Vogel des Tags, der die leuchtenden Früchte bringt ...

Auf dem Rande des Balkongeländers stand ein Glas mit Narzissen, Treibhausblumen aus dem Garten des Direktors, die Lux ihr gebracht hatte.

»Diese Blumen sind unfruchtbar,« waren seine Worte gewesen, als er ihr die eigentümlich gezogenen Kelche wies und sie erklärte.

»Unfruchtbar? Was ist unfruchtbar?« hatte sie darauf erwidert. »Denke der Worte des Buddhisten: ›Keine Saat kann sterben‹ ... Und alles im Leben ist Saat!«

Er kam unten über die Wiese gegangen, »gleich dem Säemann« dachte sie.

Es war ihr sonderbar, daß er nach der ersten Begrüßung wieder von seiner großen Sehnsucht nach wirklicher Tätigkeit, anstatt immer nur zu lernen, seiner Sehnsucht nach der Arbeit an der Erde sprach, und sie fragte, ob sie nicht mit ihm auswandern wollte? In irgend eine halbwilde Gegend: alles Nötige könne er ganz wohl vom Leben auf dem Gute des Vaters und vom Militärdienst her. Er zweifelte nicht, daß er dabei bald Gelegenheit finden würde, sich praktisch zum Baumeister oder Ingenieur auszubilden.

Sie lächelte meist zu diesen Plänen und wies ihm die Unmöglichkeit nach – diesmal aber sprach er so ernst und heftig davon, daß sie die Hand in die seine legte und sagte:

»Sicherlich, Lux – wenn es sein muß – wohin sollten wir nicht zusammen gehen?«

Seine nervöse Heftigkeit machte ihr Sorge; er sah blaß und überarbeitet aus, obwohl er es ihr nicht zugestand. Er trug vielleicht mehr, als er ihr mitteilte.

Sie scherzten bereits wieder, als der Postbote noch einen Brief brachte. Er war von Elinor.

»Liebe Johanna!

Tante Karoline ist vor fünf Tagen gestorben. Ich bin frei. Oder eigentlich, ich bin nicht frei. Ich bin traurig über ihren Tod. Ich habe sie lieb gehabt und sie mich auch. Aber vieles werde ich ihr nicht verzeihen. Sie hat mich nicht gekannt. Sie hat sich gewundert, daß ich sie in diesen Monaten gepflegt habe.

Es tut mir weh, wenn ich an sie denke. Sie war so weiß in ihrem Bett. Sie hat gewußt, daß sie stirbt. Sie hat sich operieren lassen, und man hat sie nicht narkotisieren können. Und sie hat vorher alles selbst geordnet. Nicht nur das Testament – das war schon lange, sondern das Begräbnis, jeden Schritt, jedes Trinkgeld, alles! Sie ist immer sehr stark und tapfer gewesen.

Sie hat noch im Tod über mich bestimmt. Alles gehört mir und Maria, nach ihrem Testament, wenn wir so heiraten, wie sie will. Das hat Maria getan. Wenn ich aber Gulbrandson nicht heirate oder sonst einen ›ernsten Menschen‹, den Onkel Wilhelm billigt, so bekomme ich nur sehr wenig.

Und ich bin mit Gulbrandson verlobt, Johanna! Und jetzt kann ich doch nicht zurück! Schon weil Tante Karoline in diesem Glauben gestorben ist und ich es versprochen habe!

Immer deine
Elinor.«

 

Der Abend dunkelte. Ein rötlicher Dunst lag über der Stadt; weiß schimmerten die Häuser im Tale aus den grünen Büschen; oben glänzte am Rande dunkler Wolken ein letzter rotgoldener Streif, und in der Ferne, weit über dem Gebirge im Osten, zuckte Wetterleuchten auf. Funkelnd erhoben sich die ersten Lichter, um sich allmählich sprühend über das Meer der Häuser auszubreiten. Der Himmel wurde fahl und der Dunst schwerer und trüber.

Lux und Johanna standen Hand in Hand auf dem Balkon und dachten naher und ferner Schicksale.

Das war im August. Zwei Wochen später war Maria mit Elinor am Achsee und lud Johanna ein, zu ihr zu kommen. Aber sie konnte sich nicht entschließen, fortzugehen, weil sie so viele Kranke zu pflegen hatte, die ihrer bedurften. Sie wollte, daß Lux statt ihrer gehe. Maria hatte ihn längst eingeladen, und er ergab sich schließlich darein.


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