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II

Der Professor saß mit seinen Töchtern beim Abendessen. Er hatte ihnen gerade erklärt, daß die Engerlinge keine Würmer, sondern Larven seien, und er ärgerte sich sanftmütig über den Schulunterricht, der den Kindern von der Natur erzählte, anstatt sie sehen zu lehren. »In diesem Winter werdet ihr zu Hause lernen,« sagte er, »und ich werde von nun an mit euch botanisieren gehen, und ihr werdet Pflanzen bestimmen lernen ...«

Die Mädchen hörten zu, wie Kinder zuhören, die in dem, was Erwachsene ihnen sagen, ganz andre Dinge vernehmen, als die Redenden sagen wollen. Ob die Engerlinge Würmer waren, oder Larven, war ihnen höchst gleichgültig – sie sahen ja doch wie Würmer aus, und das schien genügend. Aber daß sie nicht mehr zur Schule gehen sollten, sondern zu Hause lernen, das beschäftigte sie sehr. Aus dem Botanisieren mit dem Vater wurde nichts, das wußten sie, er hatte ja nie Zeit. Aber sie sagten es nicht, weil sie wußten, daß es ihn verdrießen würde. Die Schwestern sahen einander an, es schien ihnen nötig, erst mit einander zu reden, ehe sie dem Vater Fragen stellten, und indessen war der Tee fertig, und die Ältere füllte die Tassen.

Aber die Gedanken des Vaters waren bereits vom Unterricht zu Erziehungsfragen fortgeglitten, und zu der, die fehlte, um die Kinder zu erziehen. Die ungleichen Teetassen, die feinen, die aus der Zeit stammten, da seine Frau noch lebte, die plumpen und häßlichen, die die Wirtschafterin nach ihrem Geschmack ergänzt hatte, rissen die Wunde auf. Er hatte auf solche Dinge früher gelehrtenhaft wenig geachtet. Er sah sie nun, weil sie seinem älteren Kinde, das die empfindlichen Augen der Mutter geerbt hatte, peinlich aufzufallen begannen. Und auch Helenen war es während ihres Besuches aufgefallen. Schöne Dinge, die er nicht geschätzt, über die er gelächelt, die er zu kostspielig gefunden, als Magda sie sammelte, sie waren ihm plötzlich bedeutsam geworden, als er sah, wie unfehlbar Helene vor jedem Stück erkannte: das hat Magda selbst angeschafft und das nicht. Er wußte nun erst, wie wohl ihre seinen Sinne ihm getan. Und er vergaß Störungen und Disharmonien der Zeit, da sie noch lebte – er konnte sie leicht vergessen, denn er hatte sie kaum gefühlt, den ganzen Tag vom Beruf ausgefüllt und zu Hause ermüdet, geliebt und geschont – aber nun ... Überall riß eine Zerstörung und Verödung um ihn ein, gegen die er hilflos war, in seinem äußeren wie in seinem inneren Leben. Und die Kinder! ...

In diesem Augenblick begann draußen ein Hund zu bellen, dann läutete es heftig an der Glastüre, die zum Garten und zum See hinab führte; und triefend von Wasser, eine Kapuze über den Kopf geschlagen, trat jemand ein und blieb an der Türe stehen. Die Kinder starrten die Erscheinung an, die wie ein junger entflohener Mönch aussah. Die Stimme verriet ein Mädchen.

»Ach, verzeihen Sie, daß ich so eindringe,« sagte sie, »aber ich habe eine Bitte, Herr Professor, und bitte, sagen Sie nicht nein! Meine Mutter ist plötzlich sehr krank geworden, furchtbar krank, wir haben keinen Arzt – wenn Sie doch zu uns kommen wollten!«

»Zu wem? Wohin?«

»Frau Schmidt in Halegg. Ich heiße Johanna Schmidt.«

»Jetzt? Nach Halegg?«

»Ich bin über den See gerudert und führe Sie hinüber und wieder zurück!«

»Sie sind jetzt über den See gerudert? Allein? Sie sind ja ganz durchnäßt!«

»Das macht nichts.«

»Sie werden sich erkälten.«

»Oh, nein! Ich erkälte mich nie!«

»Sie müssen gleich einen Tee trinken!« Er nahm ihr den Mantel ab.

»Bitte setzen Sie sich doch!« Drei Augenpaare sahen prüfend auf den Eindringling.

»Werden Sie so gütig sein und kommen?« fragte Johanna.

Es sei nicht seine Gepflogenheit, auf dem Lande Praxis auszuüben, sagte der Professor. »Es muß ja ein Arzt im Ort sein.«

»Er versteht gar nichts – niemand will ihn ...«

Der Professor zuckte die Achseln.

Johanna konnte nicht bitten. »So muß ich zurück,« sagte sie, »guten Abend – und die Mutter bleibt ohne Hilfe – verzeihen Sie die Störung,« sagte sie hart ... aber sie sah bereits, daß der freundliche Mann vor ihr zu überlegen schien.

»Wenn der Fall sehr schwer ist ...«

Die Wirtschafterin war eingetreten. Ein Strom von Worten: undenkbar, daß der Professor in dieser Nacht über den See fahre. Johanna sah mit schönem Zorn auf sie, aber ihr Gedanke war: »alte Gans!«

»Fahre nicht, Papa,« rief das kleinere Mädchen.

»Ich würde nicht fahren, Papa,« sagte die Ältere, »morgen früh geht das Dampfschiff!«

»Ach, was seid ihr doch für furchtsame Mäuse!« sagte Johanna, »es ist gar keine Gefahr, und der Regen hat schon aufgehört.«

»Ich werde mit Ihnen fahren, Fräulein,« sagte der Professor freundlich, »rufen Sie den Urban, Frau Heißlieb, er soll auch mitfahren, damit Ihr beruhigt seid.«

Wenige Minuten später traten sie ins Freie. Der Mond war aufgegangen und sah durch zerrissene Wolken. Johanna sprang ins Boot. Sie reichte dem Professor die Hand, der von Urban unterstützt, vorsichtig einstieg. Das Mädchen streifte die Kapuze zurück und warf den Mantel ab; ihr Haar fiel über die Schultern.

Der Professor war sich eines Wagnisses, vielleicht einer Unklugheit bewußt – er war sich auch bewußt, daß sein Pflichtgefühl und seine Gutmütigkeit ihn, wie so oft, vereint dazu getrieben hatten. Und ein Gedanke sprach vernehmlich: »Wer weiß, ob die Leute mich bezahlen können?«

Er warf einen prüfenden Blick auf Johannas Anzug, aber der Blick haftete an ihr selbst. Ein paar klare, offene Augen sahen aus dem Gesicht, das im Mondlicht und von den schwarzen Haaren umrahmt schön erschien. Und bei Wind und Nacht und Regen war dieses junge Geschöpf allein herüber gefahren, um den Arzt zur kranken Mutter zu holen! Johanna hätte hell aufgelacht, wenn sie geahnt hätte, welch eine heroische Tat diese Fahrt über den See in den Augen des Gelehrten schien. Er freute sich über das junge Mädchen. Er sah Mut und Pflichtgefühl.


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