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X

Fast in jedem Hause spielt sich neben dem täglichen sichtbaren Leben ein zweites, verschwiegenes und unsichtbares ab; allen Bewohnern ist es bewußt, und doch weiß niemand, wann es vor sich geht – es spielt gleichsam in einer Welt nebenan, in der andre Zeitläufte gelten, und die Knüpfstellen der Fäden, durch die es mit dem Sichtbaren zusammenhängt, sind viel zu fein und viel zu verworren, um wahrgenommen zu werden. Es gibt Häuser, in denen jahrzehntelang neben dem friedlichen, regelmäßigen Dasein der Familie ein furchtbarer Gespensterkampf wogt. Richard Berkheim fühlte dieses Doppelleben. Das Eine ging eintönig dahin im Geleise der Ereignisse – dazwischen wob sich ein zweites, fremdes und verriet sein Dasein durch rastlose Spannungen, durch unausgesprochene, aber nie gelöste Konflikte und schwere Verstimmungen. Es waren zwei Atmosphären im Hause, die sich nicht vereinigten und nicht vertrugen.

Solche Dinge dachte und wußte der Naturforscher nicht; aber sie lasteten auf ihm, und nicht nur in den Wänden seiner Zimmer, überall verfolgte ihn das trübe Bewußtsein.

Auch Johanna fühlte die unhörbaren Vorwürfe schwer in der Luft hängen. Sie sah den müden, abgearbeiteten Ausdruck ihres Mannes, sie fühlte die kleinen unmerklichen Demonstrationen der Kinder, die die Atmosphäre des Hauses wie feiner, stechender Schnee erfüllten. Nur Lux war ihr Freund. Er schien zu verstehen, daß sie im Hause Schwierigkeiten hatte, wenn er es auch mit feinem Takt vermied, zu zeigen, daß er etwas sah. Er hatte alle kleinen ritterlichen Aufmerksamkeiten für sie, und sie ging gerne mit ihm aus.

Da waren kleine Vorfälle, jene winzigen Ereignisse, die im Leben eines Hauses so tiefe Wirkungen und Spuren lassen: ein Buch, das Johanna brauchte und das Ida eingesperrt hatte, – allerdings vergaß Johanna stets, es ihr zurück zu geben –, oder Ida fuhr »aus Versehen« mit dem Wagen fort, wenn Johanna ihn benutzen wollte ... Kleine Szenen folgten, bei denen sie all ihre Selbstbeherrschung aufbieten mußte, um das Mädchen nicht zu schlagen. Kam der Hofrat dazu, so war er »gerecht« und milde, verteilte den Tadel und gab niemandem ganz recht oder ganz unrecht. Und ihre Empörung wandte sich gegen ihn. »Wozu bin ich eigentlich hier?« fragte sie sich selbst. An den Abenden solcher Tage sah sie dann Ida die Arme um den Hals des Vaters schlingen und lange, zärtliche Gespräche mit ihm führen. Lux kam von seinen Aufgaben und schlug Johanna vor, mit ihm Schach zu spielen. Der stattliche, blonde Herr mit dem ergrauenden Bart saß im Fauteuil, das Kind kosend neben ihm; am Tisch beim Licht der Lampe die junge Frau und der schöne Knabe vor dem Schachbrett; während ein kleines Mädchen mit einer Stumpfnase von Zeit zu Zeit hereinstürmte und drollige Fragen stellte: »ob sie ihr Schwimmkleid im Zimmer tragen, ob sie ihren Puppen Adelstitel geben dürfe«, und alle zu fröhlichem Lachen brachte. Bisweilen kam auch Liedermüller hinzu, dann erhob sich Johanna, streckte ihm die Hand entgegen und ließ eine Flasche Wein bringen ... und Liedermüller sang, oder setzte sich ans Klavier und spielte. Lux aber umfaßte Gerti oder Ida und tanzte mit ihnen. Manchmal sprang Johanna ungeduldig empor und tanzte mit ihm, während Liedermüller den Takt pfiff. Der Hofrat aber stand auf und versuchte eine Weile lächelnd zuzusehen – bis er sich in sein Zimmer zurückzog.

Er mußte der Zeit denken, als seine erste Frau noch in diesen Räumen empfing, klar, vornehm und bewußt – er sah sie zwischen den zwei kleinen Mädchen, die lachten mit dem ersten Kinderlachen; sah sich selbst, wie er in steigender Arbeitskraft mit steigenden Erfolgen, in der Freude an seinen ersten Entdeckungen, umgeben von Freunden, die ihn feierten, die Stufen seines Weges noch hinangestiegen war. Freudiger Abende mit vielen Gästen, knallenden Pfropfen und wissenschaftlichen Scherzreden gedachte er, Abende, die ihm heute schöner schienen, als damals, und die so unwiderruflich vorbei waren.

Und er schrieb bis tief in die Nacht.

Johanna aber hatte die Türe ihres Schlafzimmers verschlossen und lag wach in ihrem Bett; sie sann über Dinge, die sie nicht begriff, und fühlte das Bedürfnis, weit hinaus in die Welt zu ziehen und ihr Schicksal zu suchen. Und sie schlief endlich ein und träumte, sie wandere nackt und verfolgt durch Wüsten.

 

Es ward Sommer, und Johanna zog mit den beiden Mädchen aufs Land an den See. Der Hofrat kam im Juli nach.

Johanna machte einsame, weite Spaziergänge, bei denen sie sich wohl fühlte. Aber ihre große Freude war das Wasser, in dem sie stundenlang blieb, noch, wenn die Andern es längst verlassen hatten. Während der Hofrat auf der Terrasse saß oder mit seinen Kindern durch das niedrige Wasser bei der Kabine watete, schwang sie sich in kühnen Kurven vom Sprungbrett oder auch vom Dach des Lusthauses hinab und schoß kopfüber an ihm vorbei in die Tiefe, jauchzend und unermüdlich – und er fühlte sich bitter alt und machtlos über ihre strahlende Jugend. Seine beiden Töchter schwammen zahm und sittsam um ihn herum, während Lux und Johanna weit hinaus in den See glitten, tauchten und spielten und wetteiferten, bis sie dem Aug entschwanden und erst nach langer Zeit wieder sichtbar wurden. Und er sah plötzlich, wie schön sie beide waren. Lux mit seinem feinen, biegsamen Knabenkörper und sie in ihrer mädchenhaften Schlankheit, wie kräftig und schön und kühn – und von da an schien es ihm ungeziemend, daß sie beide zusammen badeten, aber er wußte nicht, was er sagen sollte, um es zu verhindern.

Lux wollte mit den Cousinen Bergpartien und Kahnfahrten unternehmen, aber sie waren ihm zu ängstlich und zu schnell ermüdet, und so ließ er sie und ging mit Johanna.

»Was willst du werden, Lux?« fragte sie ihn eines Tages.

»Ich weiß nicht«, sagte er, »am liebsten Mediziner.«

»Warum?«

»Dann ist man nützlich«, sagte er, »und kann den Menschen wirklich helfen. Aber ich werde wahrscheinlich Jus studieren wie der Vater – obgleich der Vater sagt, daß die Juristerei mit dem Recht gar nichts zu tun hat ... Übrigens weißt du, Johanna«, sagte er, »ich habe noch Zeit, darüber zu denken: ich bin noch nicht bei der Matura durch: es hapert!«

»Weil du träumst und tausend Dinge im Kopfe hast, anstatt zu lernen.«

»Bei diesen Professoren lerne ich nichts«, sagte Lux seufzend. »Sie sind zu langweilig – und wirklich, ich habe andre Dinge im Kopf!«

»Was denn, Lux?« fragte Johanna lachend.

Lux schwieg einen Augenblick; dann sagte er nachdenklich: »Was wir lernen, hat mit dem Leben gar nichts zu tun – die lateinischen Vokabeln und die lateinische Grammatik, und die Jahreszahl von der Schlacht an der Unstruth! Was hat die Jahreszahl von der Schlacht an der Unstruth mit unserem Leben zu tun? – und ich muß über das Leben denken ...«

»Das Leben?«

»Ja, mein Leben und das der Eltern und deins ...«

»Meines?« Sie stand still.

»Es kommt immer ganz anders im Leben, als man denkt«, sagte Lux, ohne auf ihre Frage zu antworten.

»Wie weise du bist, Lux!! Aber was denkst du über mein Leben? Und wer erlaubt dir das?«

Aber Lux ging darauf nicht ein: »Weißt du, Johanna«, sagte er, »meine Kollegen möchten alle älter sein und Hochschüler spielen. Wenn sie von der Schule sprechen, sagen sie »Kolleg« und sie gehen ins Kaffeehaus und spielen Billard und sprechen von Pferden oder von ...« Er unterbrach sich, rotwerdend, »und heimlich tragen sie Bänder und Mützen ... Ich aber weiß viel mehr vom Leben, als sie, weil die Eltern vor uns nie etwas verheimlicht haben – und ich verlange mir all diesen Unsinn nicht, aber ich möchte doch auch was besseres zu tun haben, als lateinische Aufgaben zu machen! Und mich von so einem Schöps prüfen zu lassen!«

»Wenn man nur weiß, was man will, Lux!«

Der Knabe sah vor sich hin.

»Und man muß etwas großes wollen, Lux!«

Sie gingen eine Weile schweigend.

»Es kommt nichts dabei heraus«, sagte Lux plötzlich, »überall siegen die, die unrecht haben, in der Schule auch – die Schäbigsten kommen am besten fort!«

»Man darf doch nicht zu den Schäbigen gehören. Lux! – man muß nur wollen und immer wollen!«

»Wollen und immer wollen!« rief Lux übermütig weit hinaus, daß seine Stimme durch die Abendluft hallte. Sie waren auf einem Gipfel angelangt und sahen in die Dämmerung hinaus. Ein weites, mooriges Bergtal lag vor ihnen mit dunklen Büschen; aus einem kleinen, schwarzen Wasser stiegen Nebel auf; gelbliches Gras wuchs auf den Kuppen, mit runden Flecken von dunkelgrünem Heidelbeerkraut; in der Ferne weidete Vieh, dessen Glockengeläute herübertönte.

Sie kletterten ein Stück herab und liefen dann Hand in Hand durch die Talsenkung.

»Du, mein Page«, sagte Johanna lachend, »wart ein biss'l, ich habe Steine im Schuh!«

»Wie ein kleines Mädi.«

»Ja, und ich muß mir ihn ausziehen«, sagte sie, indem sie sich ins Gras setzte.

»Komm, ich schnür dir ihn zu, wie zu Hause der Mutter!«

Sie lachte. »Da, Page, tu's!«

Der Abstieg, den sie gewählt hatten, ward steiler und steiler, und wie kühn und geschickt Johanna war, es ward so dunkel, daß sie, als sie einmal ausglitt, Luxens oft angebotene Hand und Stütze annahm. Ihm war das eine Freude, und die Dämmerung war ihm recht; nun konnte er so zärtlich und ergeben nach ihr schauen, als ihm zu Mute war, ohne daß sie seine leuchtenden Augen sehen konnte; denn dann schämte er sich und blickte kalt vor sich hin.

Es war finstere Nacht, als sie nach Hause kamen, und der Hofrat war besorgt.

»Ihr müßt keine Furcht haben, wenn Lux mit ist«, sagte Johanna, »er ist ein guter Führer und Beschützer. Letzthin hat er einen Hund abgefangen, der Gerti umwarf und beim Kleid faßte.«

Gerti warf sich ungestüm an den Hals des Knaben, als sie an ihre Rettung erinnert ward.

»Es war gar nicht ernst«, sagte Lux, indem er sie abwehrte, »das Tier hat nur spielen wollen!«

»Willst du mir meine Schlüssel suchen helfen, ritterlicher Beschützer«, sagte Ida, »ich habe sie im Haus verloren.«

»Guter Witz!« rief Lux und schickte sich an, ihr zu folgen.

Der Hofrat rief ihn zurück.

»Deine Eltern kommen morgen!« sagte er.

»Morgen, wann?« rief er mit strahlendem Gesicht. Sie hörten, wie sein helles Jauchzen über das Wasser scholl; dann war ihm offenbar sein Gebahren kindisch erschienen; er beherrschte seine Freude und kam ins Zimmer zurück.


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