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VIII

Lux ging nicht nach Hause – er ging den ganzen Abend umher und die ganze Nacht; in widerstreitenden verwirrten Gefühlen, in qualvollem Ringen der Gedanken, das sich zuletzt in wilden traurigen glühenden Versen Luft machte. Niemals vorher hatte er Verse gemacht und auch diese verklangen, wie sie gekommen waren, er schrieb keinen auf, aber sie brachten ihm Befreiung. Er war weit hinaus gewandert, durch unbekannte Gassen, an schlummernden kleinen Häusern vorbei ins Freie. Unter dem Mondhimmel lag ein feiner dichter Nebel. Groß und feierlich schien diese Nacht. Eine trauervolle Begeisterung brachte sie ihm. Ihm war, als sähe er seine ganze Zukunft vor sich, und zum erstenmal glaubte auch er, daß Großes ihm möglich sein könnte. Über alles Kleinliche und Geringe des Lebens fühlte er sich hoch emporgehoben. Und seine junge bewegte Seele wob ein erhabenes Schicksalsgewand um sich selbst und die ferne Gestalt des Weibes, die unter dem Nachthimmel durch seine Träume zu schreiten schien. Er hatte sie in seinen Armen gehalten, ihre Lippen hatte er geküßt–es war genug!

Er ging nach seiner Wohnung zurück. Ein unirdischer Nebel schien das Zimmer zu erfüllen ... diese Nacht hatte etwas Ewiges, als ob es nie wieder Tag werden sollte, wie sonst ... die Stimmung, in der er war, konnte nie mehr vorübergehen. Es war, als wäre ein großer ernster Akkord erklungen, ein starker feierlicher Ton, der durch sein Leben hallen mußte.

Er ging zu Bett, er löschte die Lampe aus und sank in tiefen traumlosen Schlaf.

Als er erwachte und ein grauer Morgen durch die Fenster schien, war die Stimmung nicht verflogen ... sie schien noch ernster geworden. Sie mahnte in strengen Forderungen, die er von nun an sich selbst stellen mußte. Sonderbar war dieser Tag, so grau und doch durchleuchtet von einem Schein, der nicht irdisch schien. In tiefer Freude dachte er der Frau, die er immer bewundert hatte, die so groß und kühn vor seinen Augen stand. Ihr zu Liebe hatte er klösterlich durchs Leben zu gehen und großen Zielen zu leben; aber die Linien dieses schlanken Körpers und des reinen ernsten Angesichts schwebten entzückend vor seinen Augen.

Da im nächsten Augenblick durchzuckte ihn ein rasender Schmerz. Es gab einen Menschen, der dieses Angesicht küssen, der diesen Körper umarmen durfte, dem dieser Mund seine geheimsten Gedanken zuflüsterte, um dessen Hals diese Arme schmeichelnd lagen. Das war möglich, – verwirrend und betäubend war der Gedanke – es war möglich, aber nicht für ihn! Das Bild peitschte sein Blut. Entsagung schien ein unmöglicher Wahnsinn zu werden ... aber keine Erfüllung war denkbar.

Küssen ... küssen – jemand küßt sie ... wer? wer? Gedanken flogen und vergingen, formten sich und zerflatterten. Herr Gott, was ging es ihn an? hatte er ein Recht zu forschen? Groß und liebenswert mußte er sein, den sie erwählt hatte, und über alle Maßen vom Glück gekrönt ... begegnete er ihm, so hatte er das Knie zu beugen ...

Doppelt feierlich, doppelt wehmütig kehrte das Gefühl der Entsagung wieder.

Da erscholl eine dritte Stimme – aus ihm selbst ertönte ein Gelächter über ihn. War er nicht sentimental verliebt, er, der über die Verliebten stets gelacht hatte? Seine »Freunde«, – mit denen er allerdings nie über Dinge, die ihm ernst waren, sprach, – was würden sie sagen, die, mit denen er sich zynisch gestellt? Hugo Zimmermann z. B. oder Hainzinger, oder Verhave, der Erfahrene? Aber über ihn konnte von nun an niemand mehr Macht oder Einfluß haben. Der feierliche Ton kam wieder, schien ins Zimmer zu fluten.

Er sah sich in seinem Zimmer um. Da hing Hunzingers Bild mit dem Band und der Couleurkappe, darunter eine Widmung; da hing die Pfeife, die er von Verhave gewonnen – auf den Brettern lagen die Bücher, die Johanna und Marquart ihm geliehen, in der Ecke standen die Fechtsäbel, in der andren Ecke lagen die medizinischen Bücher; vor ihnen und über ihnen Pantoffel, Schuhwerk und schwere Eisenhantel.

Auf dem Schreibtisch standen die Bilder seiner Eltern. Bilder aus frühester Zeit traten vor seine Erinnerung.

Er sah die Mutter vor sich ..., über ihn gebeugt, jung und strahlend schön, er sah das große, lichte Zimmer in dem Haus in der Kärntnerstraße, in dem er seine früheste Jugend verbracht, den langen Gang, den er mit seinem Bruder Hermann zu durchstürmen pflegte. Damals war der Vater noch im Parlament gewesen, damals flammte das Haus von Hoffnungen, ja bestimmt, er erinnerte sich oder glaubte sich zu erinnern, er hatte das Wort »Minister« von der Mutter gehört.

Der Vater saß auf dem Gut und rechnete vermutlich. Sein Haar fing an zu ergrauen und lichtete sich, um seine Lippen ging manchmal ein nervöses Zucken, aber immer noch fand dieser Mund heitere und witzige Worte inmitten der Sorgen, immer noch freute er sich über jeden Rehbock, den er mit einem schönen Schuß zur Strecke gebracht.

Liebte er diese geliebten Menschen denn nicht mehr? Er fühlte keine Sehnsucht, sie zu sehen. – Johanna! Wie voll und ernst der Name klang – etwas Heroisches lag in ihm. Große tragische Frauen der Geschichte hießen so.

War es möglich? seine »Tante« Johanna! ärgerlicher Unsinn! Onkel Richards Frau! Ist das Leben so boshaft oder so dumm? Vorwürfe und Gelächter aus allen Ecken des Zimmers!

Damit fiel ihm ein, daß er heute zum Onkel zu Tisch erwartet war. Es war Zeit, sich fertig zu machen. Oder sollte er absagen? Der Hofrat hatte hinzugefügt, daß er mit ihm zu sprechen hätte.

Als er mit gewohnter Sorgfalt Toilette machte und den Knoten der Krawatte kunstreich vor dem Spiegel schlang, da brach jenes spöttische skeptische Gelächter abermals hervor. Heute wie immer! die großen Empfindungen schienen wesenlos in die Luft zu zerfließen – das Leben ging seinen gleichmäßigen, alltäglichen Gang über alles fort. Man steht jeden Tag auf und bindet seine Krawatte und schilt, wenn sie nicht zugeht.

Als er vors Haus trat, regnete es, und die Straßen waren mit Kot bedeckt. Er nahm einen Wagen. Er fuhr durch enge, trübe Gassen, an kleinen, finsteren Kaufläden vorbei – da hingen Handschuhe, da lagen Uhren, da starrten blasse Gesichter hinter den Scheiben hervor; Menschen mit stumpfsinnigen Augen, erdrückt vom Schicksal, mit häßlichem Gang und schlecht gekleidet, überholte er ... auch die standen Tag für Tag auf, kleideten sich an, gingen ihre öden, jammerhaften Wege.

Gott sei Dank – eine breitere Straße! In dem klumpig geschmolzenen Schnee kommt das Pferd nicht vorwärts, und der Kutscher schlägt es wie rasend – Lux reißt das Fenster auf, biegt sich hinaus und schreit dem Kutscher zu, aufzuhören. Er wirft das Fenster wieder zu.

Vor dem Haus des Onkels angekommen, sieht er den Kutscher scharf an und notiert sich die Wagennummer. In der Hausflur läßt er das Papier fallen und lacht über sich selbst. Morgen wird das Pferd doch wieder geprügelt.

Johanna! er mußte stehen bleiben und die Augen schließen, um seine Erregung zu beherrschen. Die schlaflosen Nächte rächen sich.

Er stand in dem grautapezierten großen Salon mit dem Erker. Seine scharfen Augen sahen heute schärfer noch als sonst. Dieser Mann mit dem graublonden Bart und dem stoisch-starren Gesicht – das war der Mann der Frau gewesen, die Lux liebte, die er liebte! – welch eine tragische Wichtigkeit die Dinge bekommen hatten!

Und er saß an einem Tisch mit ihm und mit den Cousinen – Ida, groß und hübsch, im langen, einfach eleganten Kleid, das Haar in einen Knoten gebunden, die Schwester ein Backfisch mit Zöpfen. Der Tisch war tadellos gedeckt – tadellos wurde serviert – alles war tadellos, seitdem Ida das Haus leitete.

Wie müde der Onkel geworden war, wie selten er sprach! mit gezwungenen Scherzen forderte er Lux zum Trinken auf, um sogleich wieder in Schweigen zu versinken. Wie ungewöhnlich heftig er wurde, als die Rede auf ein Tagesereignis kam und Lux eine andre Meinung aussprach, als er. Er sprach nicht, er schrie. Ida sah Lux vorwurfsvoll an, ihr Blick sagte: »Widersprich doch nicht, rege ihn nicht auf!«

Übrigens fühlte Lux, daß der Onkel etwas gegen ihn hatte – er hatte es schon beim Eintreten bemerkt und ihm war nicht behaglich zu Mut.

Aber nun sprach der Onkel mit großer Wärme von seiner Mutter, »deiner prachtvollen Mutter, Lux, so klug, so gut, so vernünftig ... der du nachgeraten sollst.« Lux dankte und sagte ein paar Worte; das Gespräch ward medizinisch, der Onkel fragte nach den Studien des Neffen, der sehr einsilbig antwortete. Der Hofrat schüttelte den Kopf.

Als er aufstand, sah Lux, wie gewaltsam er sich stramm hielt. Die Beinkleider waren breit und schlotterten, der schwarze Salonrock saß schlecht.

Mit unendlicher Zärtlichkeit geleitete Ida den Vater in den Salon und schenkte Kaffee ein. Auch Gerty drängte sich schmeichelnd an ihn und steckte ihm die Zigarre in den Mund.

»Zigaretten hab ich nicht. Lux!«

»Wenn du erlaubst, Onkel, so rauche ich meine eigenen.«

Die beiden Mädchen verschwanden, die Jüngere offenbar sehr ungern auf einen streng befehlenden Blick ihrer Schwester.

In dem Salon tönten Worte, die schon vor drei Jahren darin waren gesprochen worden, und ebenso vergeblich: die Warnung vor schlechter Gesellschaft, vor jenem Kreis verderblicher Menschen, in den auch Lux geraten war.

»Ich muß meinen Verkehr wirklich selbst wählen, Onkel«, sagte Lux nach einer kurzen Pause.

Der Hofrat sah auf. »Du würdest vielleicht gut tun, alten Leuten, die mehr Erfahrung haben, zu vertrauen ... Du kannst die nötige Menschenkenntnis noch nicht haben. –«

»Dann muß ich mir sie eben erwerben.«

»Erwerben! erwerben! So erwirbt man sie nicht – deine Aufgabe ist jetzt, zu arbeiten. Der Prosektor Tölz sagt mir, daß man dich nie im Seziersaal sieht. – Du zeigst bedauerlich wenig Ernst, mein Junge – und wenig Pflichtgefühl – und auch eine gewisse Herzlosigkeit, wenn ich an die Lage deiner Eltern denke ...«

»Wollen wir nicht lieber von etwas andrem reden, Onkel?« sagte Lux sehr ruhig.

Aber sie gingen nicht ganz ruhig auseinander.

Es war ihm keineswegs wohl – es war ihm elend zu Mute. Verwirrend und ärgerlich kamen die Ereignisse. – Die Gedanken an seinen Onkel, an seine Eltern, an seinen Berufswechsel, an kleine Geldsorgen quälten ihn ... der Regen schlug nieder, bei jedem Schritt glitt er aus und bespritzte sich mit Kot.

Grau, kalt und widerwärtig war die Welt, in der er nicht geliebt wurde, und bei dem Gedanken an sein einsames Zimmer fröstelte ihn. Er war ein »Knabe« für sie. Tränen drängten sich in seine Augen. Und während eine schmerzliche Wut ihn schüttelte, durchzuckte ihn plötzlich der Gedanke: »Marquart! Wer sonst? Natürlich! Marquart!« Alles begann sich um ihn zu drehen, und das Leben schien unerträglich.

Da kam ihm zum erstenmal, flüchtig, wie die Berührung einer weichen, kalten Hand, der Gedanke an die geladene Waffe, die in seinem Schrank lag. Zum erstenmal fühlte er jene tiefe Sehnsucht nach dem Aufhören allen Bewußtseins und der schmerzlichen Intensität der Empfindung.

Er ging in seinem dunklen Zimmer auf und ab und dann wieder in die nassen, nebligen Straßen hinaus und zuletzt geradewegs zu Johanna. Hier löste sich alles Verworrene in ihm, als Johanna klar und ruhig mit ihm über sein künftiges Leben zu sprechen begann. »Heroisch zu sein in allem« war ihre Forderung an ihn, hoch über allem Kleinlichen und Alltäglichen, allen Menschenmeinungen und was es sonst an Hemmnissen und niederziehenden Mächten im Leben gab, – das alles schwinde, wenn man ihm keine Bedeutung gewähre. »Das alles lebt von unsrer Gnade, Lux!« Sie verlangte, daß er alle Dinge groß beurteile. »Auch mich«, sagte sie, »auch deine Liebe zu mir und meine Freundschaft für dich.«

In großer Bewegung ging er von ihr, in gleich begeisterter Klarheit über seinen Weg, wie er sie in der Nacht vorher empfunden. In ihr aber war, als sie allein geblieben, erst eine heftige Freude, in die sich allmählich immer quälendere Empfindungen einschlichen; je länger sie dachte, desto geringer und kläglicher kam sie sich vor, und noch im Bett fuhr sie mit der erschrockenen Frage in die Höhe »Hab ich geschauspielert?« Ihr war, als wäre ihr Wesen geteilt und als ginge ein Weib irgendwo im Licht über ihr, das jener Johanna glich, die Lux in ihr sah ... und sie brach in ein trockenes Schluchzen aus.


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