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V

Es war ein trüber Herbstnachmittag. Johanna saß in dem weiten vierfenstrigen Erkersalon ihrer Wohnung in einem der alten blaugrauen Fauteuils und starrte nach den Scheiben, auf die die Regentropfen sprühten. Sie sah zu, wie das Wasser an ihnen herunterlief und Wege suchte: ein Tropfen jagte den andern und fand er einen feuchten Weg, so floß er ihm nach – ganz kleine Bächlein bildeten sich und strömten unablässig nieder ... Johanna starrte und folgte ihren Wegen und dachte nichts. Nur verworrene Bilder waren in ihrem Kopf; Bilder ihrer Reise, Landschaften und Paläste, Gespräche mit allen möglichen Menschen, vor denen sie verstummt war, Blicke in den Hotelsälen, die sie gemustert hatten und vor denen sie errötet war, Damen, die sie durch Lorgnetten beobachtet und von Kunst gesprochen hatten, ihre beständige Beschämung, weil sie nichts dazu zu sagen gewußt ... einzelne Gesichter in der Menge, die ihr sympathisch gewesen ... Worte und Bilder ... aber sie zerflossen wieder und wurden zu nichts. Trübere Szenen tauchten auf, die sie das Gesicht finster verziehen machten, Gespräche mit ihrem Mann ... der Empfang der Kinder, als sie nach Wien zurückkamen: sie hatte das Wegbiegen von Mund und Wange deutlich gefühlt, die Kälte des Kusses, die prüfenden Augen der Älteren. »Das wird sich geben,« hatte der Professor gesagt, »das ist Kindertrotz! Am besten, es nicht bemerken; wie man davon spricht, erkennt man es an; wenn du für sie Liebe fühlst, so werden sie es erwidern.« Sie sprang auf und schritt nach dem Zimmer der Mädchen hinüber. Sie saßen bei ihren Aufgaben, aber sie arbeiteten nicht; sie stritten mit einander, weil die Kleinere die Federn der Größeren benutzt hatte. Sowie Johanna eintrat, schwieg der Streit. Sie fragte, was geschehen sei. »Oh, nichts!« sagte Ida, »nichts!« »Was macht ihr denn, Mäuse?« fragte sie. »Wir machen unsere Aufgaben.« »Was denn?« Eintönige Antworten folgten. Die Kinder krochen in ihre Schalen wie Schnecken. Johanna verließ das Zimmer und ging in den Salon zurück. Sie nahm ein Buch zur Hand – ach Gott, was für Werke da standen! – nein, sie konnte nicht lesen. Die Schatten der Möbel im Zimmer waren länger und gestaltloser geworden und vermischten sich zu einer dämmernden Trübe.

Sie ging in die Küche, fragte, was zum Abendessen bestimmt sei, aber Frau Heißlieb meinte, sie möge sich ganz auf sie verlassen. Sie hätte ja auch keine Kritik üben können. Sie kam sich überflüssig vor und fühlte unsägliche Langeweile. Ihr Mann war, seitdem sie zurückgekommen waren, vom frühen Morgen bis spät in die Nacht hinein beschäftigt. Die Vorlesungen, die Klinik, Ordination, Besuche und Konsilien füllten den Tag aus, und abends schrieb er noch an seinen Werken. Sie empfand indes kein Verlangen nach seiner Gegenwart. An der Wand des Salons hing das Porträt seiner ersten Frau, Magda. Sie hatten einmal unversehens beide davor gestanden und danach geschaut, und als sie leicht erschrocken, jeder des andern Blick entdeckt hatten, hatte der Professor eine verlegen fragende Handbewegung gemacht, aber noch ehe er ein Wort gesprochen, hatte Johanna ihm gleichfalls mit einer Bewegung Einhalt getan, und so war das Bild hängen geblieben. Es war ein ernstes Gesicht mit einem feinen, hochmütigen Mund. Wie mochte die hier gelebt haben?

Sie konnte ausgehen, der Regen ließ nach. Zu den Eltern? Sie war erst vor zwei Tagen bei ihnen gewesen. Man sprach dort Tatsachen; Gefühlsergüsse waren nicht üblich. Und sie entdeckte, daß, was man sprechen würde, sie jetzt nicht interessierte. Die Brüder hatten sie kameradschaftlich-freudig begrüßt, aber die alten, tollen Kinderspäße hatten versagt. Zu ihrer Schwester? Geschichten von Kinderkrankheiten und Dienstboten anhören? Eine Welt lag bereits zwischen ihr und ihrer Familie. Sie ging zu ihrer Schneiderin. Ihr Mann hatte gewünscht, daß sie sich eine ganze entsprechende Garderobe machen lasse; die Hofrätin Zimmermann, die dem Professor versprochen hatte, sich ihrer anzunehmen, hatte ihre Schneiderin empfohlen und auch angegeben, was notwendig sei. Die Schneiderin machte Johanna Komplimente über ihre Figur. Sie sei leicht gut zu kleiden. Sie fühlte sich behaglicher, und die Umwandlung nahm ihr Interesse gefangen, aber sie verstand auch hier nichts – sie mußte alles geschehen lassen. Eine Stunde ging sie durch die regenfeuchten Straßen, mit einem Gefühl von Verlassenheit umherirrend, denn es war nicht ihre Gewohnheit, ohne ein bestimmtes Ziel zu gehen. Sie kam nach Hause zurück. Die Lampen waren angezündet; die Kinder saßen noch immer bei ihren Heften. Wie konnten sie den ganzen Nachmittag so verbringen?

Mademoiselle Toudinot sagte: » Elles ne travaillent pas; elles jouent tout le temps, elles perdent leur temps à ne rien faire!« Heute könnte man ohnehin nicht ausgehen, es liege nichts daran.

Endlose Langeweile gähnte aus den Zimmern.

Der Professor kam nach Hause, küßte sie, faßte ihre beiden Hände und sah ihr in die Augen. Er schüttelte den Kopf, als er den müden und ungeduldigen Ausdruck sah. Er fragte, was sie den ganzen Tag getan. Sie erzählte. Aber es war fast nicht möglich, all diese Nichtigkeiten zu erzählen, die dennoch eine Ewigkeit zu füllen schienen.

Das Abendessen wurde aufgetragen. Gerti wurde gesprächig. Sie ahmte Mademoiselle Toudinot nach und erzählte, daß das Fräulein zerrissene Strümpfe trage. Johanna mußte lachen. »Davon spricht man doch nicht,« sagte der Professor streng.

Er fragte die Kinder nach ihren Aufgaben, sprach von der Pflicht und vom Lernen, und Johanna mußte ein würdiges Gesicht dazu machen.

»Ich war heute wieder bei der Kaiserlichen Hoheit,« sagte der Professor und schilderte die Räume, die er gesehen, die Gespräche, die man geführt ... dann ging er in sein Zimmer zur Arbeit.

Sie stand wieder allein in dem dunklen Salon; das gelbe Licht der Straßenlaternen fiel durch die Fenster, der Regen schlug wieder an die Scheiben und floß in Bächlein daran hinab ... und plötzlich zum erstenmal dachte sie klar und scharf einen einzigen Gedanken, den sie wiederholte:

»Das ganze Leben! – das ganze Leben!«

Und sie preßte das Gesicht an die Scheiben.


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