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II

Aus jenem Rausch, in dem sie das Haus ihres Mannes verlassen hatte, aus dem traumumfangenen Leben, in dem die Welt wie eine farbig schimmernde Glaskugel schien, hinter der Gesichter und Bilder auftauchten und wieder versanken, wachte sie auf; von allen Seiten splitterten die farbigen Scherben, und durch die Risse drangen Ekel und Finsternis.

Nicht in den Stunden, in denen Marquart bei ihr war; er wußte sie stets zu berauschen. Aber im Augenblick, in dem er gegangen war, fragte sie sich: »Dafür?« Sie fühlte, daß er sich fortgeschlichen hatte, um sich für einen Augenblick aus dem Gewirr von Ketten zu lösen, und daß ihre Liebe ein Chaos von Feuerblumen war, die wieder erloschen und aus denen nichts ward.

Sie wußte nicht, was sie erwartet hatte. Sicherlich etwas andres. Kein bestimmtes Werk Marquarts, aber ein großes Wirken, ein Leben in Freiheit und Schönheit, an dem sie teilnehmen sollte. Und die Not des Lebens, ob sie ihrer gleich nicht achten wollte, drang wie ein grauer, ärgerlicher Nebel durch alle Fugen und Ritzen, verdüsterte den Horizont und machte den Tag unfroh.

Sie ging zu Frau von Gielowski.

Sie fand eine stattliche Dame von imponierender Gestalt, mit einem breiten Gesicht, weichen Zügen und großen, schönen Augen; ihr Antlitz hatte einen seinen Teint und schillerte sanftrosig; Falten waren nur unter den Augen bemerkbar, die Stimme war weich und angenehm. Dies alles und das ergraute Haar, das reich und üppig um ihren Scheitel lag, gab ihr eine Erscheinung von Alter und Jugend zugleich.

Johanna wurde fast mütterlich freundlich empfangen und erhielt die Stelle sogleich nach kurzer Besprechung und zu sehr günstigen Bedingungen.

Die Villa war ein ziemlich einfaches, weißes Gebäude mit einem Stockwerk, das den Reichtum der Zimmer nicht ahnen ließ: Von dunklen Tapeten mit mattem Goldmuster hingen kostbare Spiegel und Bilder; schwere glitzernde, venezianische Kronleuchter senkten sich von der Decke herab, die Vorhänge und Möbelstoffe waren von reich gemusterter Seide, weiche Teppiche dämpften die Schritte und mächtige, alte Schränke und Betten standen in den Schlafzimmern. Lampen, deren Kugeln von nackten Frauen aus Bronze getragen wurden oder auf Säulen von gelblichem Onyx ruhten, und schwebende Ampeln aus Milchglas ergossen des Abends ein sanft weißes oder rosenfarbenes Licht. Hohe Vasen standen auf japanischen Tischchen, auf denen Vögel aus farbigen Perlmutterblättchen zwischen grünen Halmen flogen; aus Majolikagefäßen erhoben sich mächtige Sträuße von Gräsern und getrockneten Pflanzen, große rot und gold gebundene Bücher lagen auf den Salontischen, über die Palmen ihre gezackten Blätter neigten; ein Fries von Genien, die Girlanden zogen, lief um die Wände des Speisezimmers, und alle Gemächer lagen in dem maßvollen Halbdunkel der Makartzeit.

Von der Besitzerin des Hauses hatte Marquart ihr erzählt.

Sie war die Witwe eines höheren Beamten, eine Dame mit literarischen Neigungen; sie hatte kleine Novellen und Aufsätze geschrieben und Übersetzungen aus dem Italienischen und Französischen veröffentlicht. Einst war sie eine gefeierte Schönheit gewesen; ein Porträt von Canon zeigte sie in venezianischer Tracht, Makart hatte sie als Maria Stuart gemalt, nach einem lebenden Bilde, in dem sie die Königin dargestellt hatte; und vor zehn Jahren war sie beim Festzug zur silbernen Hochzeit des Kaiserpaares in der Gruppe der Künstler, als Genius oder Göttin auf dem vergoldeten Wagen thronend, mitgefahren. In den letzten Jahren hatte sie sich von aller Gesellschaft zurückgezogen. Einst hatte sie für Marquart, der um fünfzehn Jahre jünger war als sie und der sie verehrt und besungen hatte, eine sehr heiße Neigung empfunden, die allmählich verglüht und mütterlich geworden war. Sie nannte ihn noch immer gern den »stolzen Liebling ihres Herzens« oder auch »Chastelard«. Das hing mit dem Bilde der Maria Stuart zusammen und einem Gedicht, das er darauf verfaßt hatte. Und alljährlich machte sie Annita zu Weihnachten ein prächtiges Geschenk, einen Pelz, oder eine Kiste mit Tee und Wein und Südfrüchten aller Art, immer Dinge, die Annita brauchen konnte, und die doch durch ihre Kostbarkeit keiner gewöhnlichen Unterstützung glichen, und stets von einem kleinen Gedicht begleitet waren. Johanna erinnerte sich im Vorjahre bei solch einer Gelegenheit zum erstenmal ihren Namen gehört zu haben.

Sie empfing Johanna von Anfang an mit einer gewissen mütterlichen Überlegenheit und großer Wärme, aber ohne Vertraulichkeit. Nur einmal sagte sie in den ersten Tagen, als wollte sie eine Ungewißheit beseitigen: »Marquart hat mir Ihre Geschichte erzählt. Sie sind sehr tapfer. Die ganze Welt wird Steine auf Sie werfen, besonders, da Sie mit Marquart befreundet sind, denn Marquart ist ein verdächtiger Freund. Aber auf mich macht das keine Wirkung.«

Johanna, die dies anhörte ohne eine Miene zu verändern, war ihr nicht dankbar dafür, daß sie berührte, was sie selbst nicht berührt haben wollte, und dankte Marquart nicht, daß er sie weiß gewaschen hatte.

Gleich in den ersten Tagen forderte sie Johanna auf, zu ihr zu ziehen, und Johanna nahm es an; es war anders nicht möglich, da das Hin- und Herfahren zu kompliziert war und zuviel Zeit und Geld verschlang. Und so führte sie in diesen Tagen ein Doppelleben – eines in ruhiger Arbeit für sich oder für die Dame in der Villa, um die der stille Garten mit weißen Kieswegen und blühenden Fliederbüschen lag. Auf diesen weißen Kieswegen zwischen den Fliederbüschen konnten die Vorübergehenden durch die stählernen Gitterstäbe mit den vergoldeten Spitzen eine ernste, schlanke, hochgewachsene, junge Frau – fast immer ein oder mehrere Bücher in der Hand oder unter dem Arme – wandeln sehen. Und niemand hätte geahnt, daß es andre größere wilde Tage in abgelegenen Tälern, bei stürmischem Wetter, das andre nicht lockte, oder in der Fläche im Norden und Osten der Stadt gab, von denen sie scheinbar unbewegt und unberührt zur Stille des gewöhnlichen Lebens zurückkehrte.

Es wäre ihr Zeit genug für sich selbst geblieben, wenn Frau Gielowska sie nicht so oft gestört hätte, weil die Dame das Bedürfnis nach Gesellschaft und jemandem, der ihr zuhörte, empfand.

Sie erzählte gern aus ihrem Leben. Viel vornehme Leute gingen in ihren Geschichten aus und ein – bei all ihrer Neigung für Marquart, ihrer Hochachtung für »geistigen Adel«, wie sie sich ausdrückte, den »Idealen, für die sie gelebt hatte«, kam ein sehr starkes Bewußtsein ihrer höheren sozialen Sphäre in ihren Gesprächen zu Tage. Sie sprach viel von ihrer Familie, von ihrem Vater, der Landespräsident gewesen, einem Vetter, der Herrenhausmitglied war, von ihren Brüdern, ihren Schwägern, ihren Nichten. Einen der Schwäger, den Rittmeister Hogerath, hatte Johanna einmal gesehen. Er war ihr aufgefallen durch seine Breite und Größe, – er füllte fast die hohe Tür aus, durch die er eintrat – und durch seine Stimme, die mehr als wohlklingend war, in der etwas Verführendes lag.

Er hatte seiner Schwägerin die Hand geküßt und sich vor Johanna mit herablassender Grazie verbeugt, als die Gielowska sie vorstellte; dann hatte er ein paar Scherzworte gesprochen, eine Hofanekdote erzählt, und als die Gielowska sich nach seinen Hunden erkundigte, bemerkt, daß er einen von ihnen, einen Jagdhund, halbtot geschlagen, weil er von einem Juden, der ihn gelockt, etwas zu fressen genommen hätte.

»Ich weiß, daß du anders denkst, liebe Emilie, und ich bin ja selbst liberal, aber alles muß doch seine Grenzen haben.«

Seine Augen lächelten hart, als er das sagte. Johanna wußte nicht, ob es ihm ernst war.

Die Gielowska hatte ihr viel von ihm erzählt. Er war Adjutant eines kaiserlichen Prinzen gewesen und hatte die Stelle verloren, weil die Frauen von dem Prinzen weg nach ihm sahen. Er hatte vor kurzem zum zweitenmal geheiratet, eine Schauspielerin, eine »entsetzliche, geschminkte Person mit einer unmöglichen Vergangenheit, die er natürlich nirgends hinbringen könnte.«

Johanna fragte sich, ob die Welt denn wirklich auf nichts achte und für nichts da sei, als für die Liebessachen von Männern und Frauen; alle Geschichten, die sie las oder hörte, schienen sich mehr oder minder darum zu drehen – und gerade das hatte sie nie interessiert und interessierte sie jetzt nur wenig mehr. Und sie dachte, daß dieser Mensch von fürstlicher Erscheinung mit irgend einem kreischenden Geschöpf zusammenlebte, das sie sich dick, geschminkt und unsauber vorstellte – wie war ihm das nur möglich? Liebe?! – Hatte das, was sie erlebte, irgend etwas gemein mit solchen Dingen? Aber das führte zu Gedanken ohne Ende.

Eines Nachmittags kam Marquart. Sie saß mit Frau Gielowska im ersten Zimmer, als er eintrat; sie reichte ihm mit flüchtiger Kühle die Hand; einer Kühle, die sie nur spielte, die aber, indem sie sie spielte, zu eisiger Kälte in ihr ward. Sie hatte drei Stunden vorgelesen, ein Buch, das sie nicht interessierte, und war müde. Und sie grollte ihm aus vielen Gründen.

Er las Verse eines persischen Dichters vor, die ihn durch geheimnisvollen Sinn und farbig brennende Bilder entzückt hatten. Er sprach über diese Verse und über andres, Fragen, die Frau Gielowska ihm zuwarf und an die er seine Funkenketten schlang – seine Augen wurden groß und strahlend, sein ganzes Gesicht verschwand hinter diesen strahlenden, sprechenden Augen.

»Ihre Gedanken, Marquart«, sagte Frau Gielowska, »sind wie Beduinen, die auf weißen Pferden durch die Nacht jagen und die ein Unwetter zerstreut und die dann mit flimmernden Spitzen alle der Morgensonne entgegeneilen.«

»Was für ein wunderschönes Bild, liebe gnädige Frau!« sagte er.

»Erinnern Sie sich nicht?« sagte sie lachend, »sehen Sie nicht, daß ich bei mir selbst eine Anleihe mache, daß es aus meinem ›Propheten des Westens‹ ist?«

»Das war eine Ihrer besten Sachen!« sagte er.

Es war eine Huldigung für ihn gewesen.

»Aber Ihr Prophet sorgte nicht genug um das wirkliche Elend dieser Welt – er suchte das Heil jenseits – mit einem Wort: er war nicht Sozialist ...«

»Marquart!«

»Sie werden es auch werden!«

»Ich!« sagte die Gielowska erschrocken, flehend. »Verschonen Sie mich mit Dynamit und Petroleum, Marquart! – meine schönen Zimmer!«

»Ihre schönen Zimmer!« rief Marquart heftig. »In Wien gibt es hunderttausend Menschen, die sich nicht sattessen – sechsjährige kleine Kinder, die zehn Stunden im Tag arbeiten, Menschen, die zu sechs und zehn in schmutzigen, lustlosen Kellerstuben wohnen und hungern und krank sind! und Sie sprechen von Ihren schönen Zimmern! Gnädige Frau! Sie! – Nein, gnädige Frau, das sind Dinge, an denen man nicht mit dem Glacéhandschuh vorüberstreifen, die man nicht mit Kölnischem Wasser beseitigen kann.« Mit stürmischem Pathos und mit noch wirksamerer Ironie häufte er Schilderungen von Elend und Unrecht – Frauenelend, Kinderelend, Menschenelend, eine Schicht tief unter unserem ästhetischen Genuß und unserm reichlich genährten Leben ...

Johanna preßte die Zähne zusammen; Schmerz und Entrüstung waren in ihrem Gesicht; Frau Gielowska geriet in eine weinerliche Erregung.

»Schonen Sie uns, lieber Freund«, bat sie. »Es ist sehr schlimm, aber ich kann es doch nicht ändern.«

»Sie können's nicht ändern, gewiß nicht! Aber Ihre sittliche Pflicht ist's« – Marquarts Augen rollten gebieterisch – »Ihre sittliche Pflicht ist's, zu prüfen, wenn Menschen aufstehen und sagen: es kann anders sein!«

»Glauben Sie's denn?«

»Und wenn ich's nicht glaubte, so sollte ich doch meinen, daß es unser aller Pflicht wäre, es wenigstens zu versuchen! Unsere ganze Kultur ist auf Ruchlosigkeiten gegründet – wie die ägyptischen Pyramiden von tausenden gepeitschter Sklaven für eine Königsleiche erbaut!«

Er war aufgestanden, von den eigenen Worten erregt. Er begann eine Zukunft zu malen, ein Reich freudiger, freiwillig arbeitender, mit einander genießender Menschen. Beide Frauen hörten ihm bewundernd zu, und beide waren innerlich gewonnen.

»Sie sind ein Schwärmer, Marquart«, sagte die Hausfrau, »aber es ist schön!«

»Es ist notwendig!« sagte Marquart, »oder die Sonne, die dort untergeht, ginge besser nicht wieder auf!«

Johanna hatte all ihren Groll vergessen. Als Frau Gielowska sie bat, den Gast einen Augenblick allein zu unterhalten, weil sie noch einen Brief schreiben müsse, lächelte sie freudig; aber als sie allein waren, lehnte sie sich bleich an den Tisch, aus den sie sich mit beiden Händen stützte, und sah Marquart mit bebenden Lippen an. Er trat rasch auf sie zu und küßte sie.

»Sag nichts«, bat er, »sag nichts! Ich weiß alles; es ist unerträglich, ich weiß es. Aber es wird anders werden. Verdirb uns die Minuten nicht, die wir haben.«

Ein andres, längeres, innigeres Zusammensein, das erwartete Leben werde kommen. Schon diesen Sommer vielleicht ...

Sie schüttelte den Kopf. Er legte den Finger auf den Mund.

»Verlange nicht, Johanna, daß ich ...

»Ich verlange gar nichts«, unterbrach sie ihn.

Frau Gielowska kam zurück. Sie nahmen das Abendbrot zu dritt im großen Zimmer, durch dessen weitgeöffnete Glastüren sie auf die Hügel und den bewölkten Himmel hinaussahen. Es wurde Licht gebracht und die Türen geschlossen, und sie wurden fröhlich. Der Mann, der gefallen wollte, und wußte, daß er gefiel, und die beiden Frauen auf seinen Ton gestimmt hatte, ließ sie einen hinreißenden Abend verbringen. Die Welt und alle ihre Hoffnungen gehörten ihnen. »Jedes neue Interesse, das ein Mensch an sich zieht, bereichert sein Leben«, sagte er.

»Wie reich ist dann das Ihre, Marquart!«

»Das unsere!! Kann es etwas geben, woran wir nicht teilnehmen, in dem Augenblick, wo wir davon erfahren?«

Zuletzt öffneten sie die Türen wieder und trugen die Lampen ins andre Zimmer, stellten sie auf eine hohe Konsole, und Frau Gielowska setzte sich ans Klavier. Sie spielte schön. Die Töne rauschten und strömten durch die hohen Zimmer, – die Wolken zogen in schwarzen zerrissenen Schatten am Mond vorüber. Unten im Tal und an den Abhängen der Hügel lagen die Dächer und die schlummernden Gärten; da und dort fiel der Schimmer einer Lampe aus einem Fenster; fern, fern im Nordosten lag ein Gleißen auf dem Firmament, der Widerschein der hunderttausend Lichter Wiens.

Johanna und Marquart standen mit verschlungenen Händen auf dem Balkon.

»Gehört die Welt nicht uns in dieser Stunde?« flüsterte er. »Ist der Augenblick nicht Ewigkeit?«

 

Es war einige Tage später; Annita war bei ihren Eltern auf dem Lande, vermögenden Leuten, die die Ehe der Tochter mißbilligt und ihr kaum eine Mitgift gegeben hatten, sie aber hie und da mit dem Kinde zu sich holten. Wie konnte Annita solche Einladungen annehmen, fragte sich Johanna und fühlte Verachtung für sie.

Sie war bei Marquart in seiner Wohnung, wider ihren Willen hingerissen von ihrer eigenen Sehnsucht und seinen inbrünstigen Bitten – hier in diesem dumpfen Zimmer, in diesem Gefängnis seines Lebens, wollte er die Erinnerung an sie haben, um leben und schaffen zu können. Lange hatten sie sich nicht treffen, einander nicht angehören können.

»Du nur bist mein Weib«, hatte er ihr wieder und wieder versichert – »in andren Räumen, dort, wo wir frei sind von allen Fesseln. Die Menschen führen ein sichtbares, scheinbares Leben hier in der Welt und ein zweites, wirkliches im Reich – oh, der Seelen sagt zu wenig ...«

Johanna lächelte.

»Du meinst, das sind Träume, Johanna? Fühlst du's nicht? Wann bist du das geworden, was du bist, so ganz anders als das kindische Halbwesen, das du in Venedig warst? Doch nicht in Kalendertagen? Das geschah in göttlichen Augenblicken, die mit der Zeit nichts zu tun hatten. Die Tage unseres Lebens sind Mosaiksteine, die erst in Gruppen Bedeutung haben und Bilder geben! Merkst du nicht immer erst später, was in der Zeit hinter dir eigentlich vorgegangen ist? In jenem Reich der Wirklichkeiten, welches das der Dichter ist, da gehen wir beide vermählt auf Pfaden, die dieser Armseligkeit entrückt sind – hie und da fallen die Wege beider Welten zusammen, und dann wird es Licht, diese Welt von der wirklichen durchleuchtet, und selig und rosendurchduftet wie heute – wie heute!«

In süßer Verzweiflung mit überwältigten Sinnen und hingegebenem Geiste sagte sie zu seinen Füßen:

»Befiehl, befiehl! – tritt über mich hinweg! aber schaffe etwas aus mir – ein Werk in deiner Seele – ein Kind in mir!«

Zum erstenmal hatte sie diesen Wunsch, den er nicht teilte – sie wußte das. Ein Schatten glitt über sie hin, und die Flamme sank: sie sah zuviel Vorsicht in seiner Liebe ...

Und wie die Mattigkeit des Leibes und der Seele größer wurde, ward auch der Widerwille in ihr größer gegen die Zimmer der andern Frau – das Bett, das sie nicht berührt hatte aber das doch aufdringlich und widerwärtig im andern Zimmer stand. Und es war ihre Freundin! Ein Lachen wandelte sie an, aber es war ein blutiges Lachen, ein Gefühl, als ob sie sich selbst peitschen müßte.

Sie richtete sich auf, groß, schlank und weiß, und mit sehr herbem Mund sagte sie:

»Ich fürchte, Marquart, wir werden uns bald zum letztenmal geküßt haben!«

»Johanna!« rief er, »bist du wahnsinnig?« Er wollte zu lachen versuchen und riß sie an sich; und ihr selbst schienen ihre eigenen Worte wahnsinnig; sie widerrief, was sie gesagt und umschlang ihn mit erneutem Entzücken.

Aber als sie fortging, flammten die Worte wieder in ihr auf, unaustilgbar, so sehr sie sich dagegen sträubte; – ein Gefühl, daß ein Ende kommen könnte, war in ihr – und wenn sie sich diesem Mann nicht fürs Leben gegeben hatte, was war dann das ganze? Als sie spät abends im Tramwaywagen durch die schwülen Vorstädte fuhr, zwischen den mit Grün bedeckten Bäumen, durch die Kastanienalleen, von denen die weißen und roten Blüten fielen, und unter denen ein schwerer staubiger Dunst lag – ungezählte feiertagsmüde Gesichter vor sich und um sie – da dachte sie der Worte Marquarts, aber trübe und in Bitterkeit: »Was für ein andrer Mensch bin ich geworden! was für ein andrer Mensch!«

 

Immer drohender, immer quälender verfolgte sie die Frage, was aus alledem, aus diesem enttäuschenden Reichtum, was aus ihr selbst werden sollte. Sie brauchte ein Ziel – und wie ein geheimer Stachel, wie eine Qual, die immer wieder auftauchte, wie ein unheimliches Spiegelbild unter den grünen Wassern, das mitgeht, wohin man auch fahre, war der Gedanke an Annita, der sie nicht verließ. Sie hatte sie seither nicht wieder gesehen, aber ihr Bild kam bei Tag und bei Nacht.

Da hielt sie es nicht länger aus und faßte gleichsam nach ihrem eigenen Leben und blickte mit furchtbar prüfendem Ernst darauf. Und das Ende war ein Entschluß. Sie brütete noch darüber, als mitten in ihre Kämpfe ein Brief Annitas kam mit der dringenden Bitte, sie zu besuchen. Mit ihm zugleich ein Brief Marquarts, der sie gleichfalls darum beschwor. »Sie möge alle Kleinheit abstreifen, das Peinlichste groß als unvermeidlich tragen ... der Tag werde kommen, wo Annita alles erfahren und selbst nicht verurteilen werde ...«

Johanna nickte. »Ja, ich werde kommen,« sagte sie sich selbst. Sie antwortete nicht, sondern am nächsten Tag ging sie geradewegs zu Annita hinauf und stand in ihrem Zimmer vor ihr, schritt auf ihr Lager zu. Annita sah sie kommen, sah ihren Ausdruck; ihr blasses Gesicht wurde noch blasser, und mit einer Handbewegung suchte sie ihr zu wehren:

»Sagen Sie nichts!« flüsterte sie.

»Ich muß es Ihnen sagen,« antwortete Johanna, »denn ich ertrage es nicht –« fügte sie leiser hinzu. Annitas Mund zuckte wie der eines Kindes, das weinen will, und Johanna hätte sich gern herab gebeugt und sie umschlungen, ja sie gebeten, ihr zu verzeihen ... aber das alles ging nicht und härter, als sie wollte, sagte sie:

»Marquart und ich ...«

Annita hatte sich aufgesetzt und stimmlos schrie sie: »Oh, kein Wort! Ich weiß es ohnedies ...«

»Es hat so sein müssen,« sagte Johanna mit erhobenem Haupt und starren Mienen.

Annita lehnte sich zurück und schloß die Augen und sagte ganz leise:

»Ich habe es immer gewußt – ich habe es kommen sehen – es ist nicht das erste Mal!«

»Aber wie es aushalten! wie es aushalten! wie das Leben aushalten!« fuhr sie verzweifelnd fort – »wie leben?!«

»Sie sollen mich nicht hassen. Es hat nicht anders sein können!«

»Kommen Sie näher!« rief Annita. »Näher!«

Sie faßte Johannas Hände und sah ihr ins Gesicht; dann aber warf sie ihre Hände weg und schluchzte wieder:

»Gehen Sie! und kommen Sie nie wieder! es ist alles recht – aber ich will davon nichts wissen – Sie nicht mehr sehen! Jetzt haben Sie es gesagt, und es ist gut – Sie haben doch so lange gelogen!«

Johanna sprach kein Wort.

Annita erhob sich mühsam und schleppte sich mit schwankenden, schwindligen Schritten zum Fenster, nahm dort einen Strauß vertrockneter Rosen aus dem Glase und preßte sie in ihren Händen zusammen, sodaß ihre Finger von den Dornen ein wenig bluteten ...

»Das ist Ihr Geschenk!« rief sie, »das ist Ihre Freundschaft –« und sie drückte die Dornen an ihre Stirn – wieder nicht allzu fest.

»Annita ...« begann Johanna leise.

Aber mit höhnischem Ausdruck drehte die Kranke sich um:

»Was wollen Sie mir sagen? was können Sie sagen! Ich bewundere Sie, Johanna! wie gut Sie sich gehalten haben! wie Sie hier gewesen sind! Ich gratuliere Ihnen, Johanna!« Sie hielt einen Augenblick inne. »Was für ein verlogenes Geschöpf Sie sind!«

Ihr schwindelte und sie drohte zu fallen. Johanna eilte auf sie zu: »Berühren Sie mich nicht!« rief Annita. In ihren Zügen war nur mehr Haß. »Ich bin ja ein elendes, krankes Geschöpf, eine Last für ihn und ein Jammer! und ich wäre längst davongegangen oder ins Wasser, wenn das Kind nicht wäre – und wenn er mich nicht brauchte! Ja er braucht mich – hören Sie! – was er Ihnen auch sagen mag: er braucht mich! Ich liege da in den langen Abenden und höre ihm zu – und er ist nicht allein ... Ich – nur ich!«

Ihre Augen öffneten sich und blickten wie im Traum, wie in Ekstase: »Was wissen Sie von ihm! nichts! was er Ihnen an Märchen erzählt! oh er kann das! – Gehen Sie, Johanna, und morgen wird er zu Ihnen kommen und übermorgen und noch oft, und ich selbst werde ihn schicken! nicht mit Worten! oh nein! aber ich schicke ihn! Er weiß es gut! von meiner Gnade lebt Ihre große Liebe, Johanna! und morgen kann ich ein Ende machen – er weiß es gut! Aber ich tue es nicht – fürchten Sie sich nicht! er wird noch kommen! aber einmal wird er Sie stehen lassen und zu mir zurückkommen! immer wieder! und ich habe ein Kind von ihm – und Sie werden nie ein Kind haben! ... nie!

Und jetzt geh und komm nie wieder!«

Kein Wort erwiderte Johanna, nicht ein Wort hätte sie zu sprechen vermocht, obgleich viele Worte ihr einfielen, als sie das Haus verlassen hatte. Sie ging, gemartert von Gedanken, aber äußerlich ruhig durch die Straßen.

Sie ging geradewegs nach der Universität, in das Seminar, in dem Marquart arbeitete.

Es war ein hoher, trüber Raum mit graugrünen Wänden, großen gelben Tischen und gelben Bücherschränken, über denen Gipsreliefs und Karten hingen. Marquart war allein, er stand am Fenster, ein Buch in der Hand – als die Türe sich schloß, wendete er sich um. Sein Gesicht ward betroffen und aufgeregt, als er Johanna erkannte. Er eilte zunächst zur Türe und verschloß sie, dann fragte er, was das bedeute.

»Ich komme von Annita!«

Er schien verstört, sein blasses Gesicht wurde noch blässer. Er ging auf und ab, kreuzte die Arme auf der Brust und sagte lange nichts. Endlich blieb er vor ihr stehen.

»Und nun?« fragte er.

»Du mußt wählen!« sagte Johanna, »du mußt dich entscheiden!«

Er sah sie leidenschaftlich an. Dann sich abwendend, sagte er:

»Du verlangst, daß ich sie töte!«

Johanna sah starr zur Erde. Ihr Gesicht wurde finster, und als sie es wieder erhob, preßte sie durch die Lippen die Worte:

»Sie sagt, sie schickt dich zu mir!«

»Sie ist krank, Johanna – sie redet Unsinn – sie denkt und will jeden Tag etwas andres! Ich darf nicht von ihr fortgehen.«

»Ich bin von meinem Mann fortgegangen –«

»Du hättest es vielleicht besser nicht getan!«

Ein eigentümliches Leuchten flog über Johannas Gesicht, sie zog die Augenbrauen in die Höhe und bewegte die Lippen ... sie machte eine Bewegung zur Tür ... aber sie schritt nicht weiter, sondern verschränkte die Hände in furchtbarer, wortloser Verzweiflung und sah vor sich nieder.

Dieser Augenblick des Zögerns gab ihm Hoffnung, er faßte ihre Hände und sprach leidenschaftlich-liebevolle Worte.

Er fühlte, daß sie unter seinem Kuß zitterte.

»Du bleibst mir,« sagte er jubelnd. Sie gab sich gefangen, aber sie sagte: »Ich werde dir nicht bleiben!« Er aber küßte sie nur, küßte sie in Taumel und Jubel: »Gattin, süße! unvergleichliche!« und die Worte erstarben.

 

Als sie durch die dunklen Gänge, die weißen breiten Stufen hinabschritt, durch die hallende Aula, auf die abendliche Straße hinaus, hatte sie das Gefühl, die Sklavin von etwas dunklem, wildem, unbezwinglichem in ihr selbst geworden zu sein, das sie nicht gekannt, nicht in sich geahnt, das stärker war als ihr klarer Geist, als ihre Würde, als ihr unerbittliches Voraussehen ...

Sie fühlte sich zerschlagen und elend. Eine stumme Verzweiflung war in ihr.

Am andern Tage schrieb sie Marquart in den bestimmtesten Worten, er möge nicht kommen, noch ihr schreiben, so lange sie ihm nicht schriebe und ihn riefe.


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