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IV

Sie stand des andern Morgens zeitig auf, wie sie es gewohnt war, und ging durch den Garten zwischen den Beeten umher. An der weißen Wand des Hauses war wilder Wein emporgezogen, und aus dem offenen Fenster hörte sie laute heitere Stimmen, – das Laufen unbeschuhter Füße und jetzt kam ein kleiner Pantoffel gerade vor ihr aus dem Fenster geflogen. Klingendes, lautes Lachen folgte – ein blonder Kopf über einem weißen Frisiermantel beugte sich zum Fenster hinaus, dem ein zweiter über die Schulter guckte.

Johanna hatte den Schuh bereits in der Hand und warf ihn lächelnd zum Fenster empor, wo zwei weiße Hände ihn auffingen.

»Danke, danke vielmals – und bitte sagen Sie uns, wie lange ist noch Zeit zum Frühstück?«

»Noch zehn Minuten!«

»Oh, wie schrecklich, wir müssen eilen!« und die Köpfe verschwanden.

Als sie am Frühstückstisch erschien, trat eben Frau Hogerath ein; etwas später kam Elinor, sie lächelte Johanna beim Eintritt zu. Frau Hogerath beantwortete ihren Gruß mit einem Vorwurf wegen ihrer Unpünktlichkeit, und das Lächeln schwand aus Elinors Gesicht. Maria kam viel später in einem prächtigen weißen Morgenkleid mit Spitzen und blauen Seidenbändern; auf Frau von Gielowski, die des Morgens ganz unregelmäßige Stunden hatte, wurde nicht gewartet.

Maria öffnete Briefe, die für sie bereit lagen; als sie sie gelesen, sagte sie: »Ich werde bereits morgen nach Innsbruck weiterfahren –« und nach einer Pause: »Ich möchte Elinor mitnehmen, was meinst du, Tante?«

Frau Hogerath war in verdrießlicher Morgenstimmung.

»Elinor? Unsinn!« antwortete sie – »was soll sie jetzt in Innsbruck in der heißen Zeit?«

»Mir helfen, das Haus wieder in Ordnung bringen.«

»Elinor und ein Haus in Ordnung bringen? Nein, nein. Das Gastieren muß jetzt ein Ende haben – Elinor kommt mit mir. Sie hat sehr viel nachzuholen.«

Maria spielte mit ihrem Teelöffel, den sie zwischen den Fingerspitzen hielt und über das Tischtuch zog – und ihre Augen schienen seinen Bewegungen aufmerksam zu folgen. Dann begann sie ohne Heftigkeit Gründe geltend zu machen, zu denen Frau Hogerath nur verneinend den Kopf schüttelte. Elinor hatte, als das Gespräch begann, den Kopf erhoben und die Sprechenden aufmerksam angesehen, ohne sich zu beteiligen. Sie hatte das Eigentümliche, daß ihre Züge, nachdem sie lange unbewegt geblieben, sich plötzlich alle gleichzeitig veränderten, Mund, Augen, Stirn und Wangen und die ganze Stellung des Kopfes wie der Hände, um dann in dem neuen Ausdruck, ob er nun Staunen, Unmut oder Lächeln war, wieder regungslos zu verharren. So war es jetzt: ein Ausdruck gespanntesten Lauschens lag seit dem ersten Wort auf ihrem Gesicht. Johanna hatte das Gefühl, daß beiden Schwestern ihre Gegenwart nicht erwünscht sein konnte, und sie wollte sich unter einem Vorwand entfernen, als Frau von Gielowski freundlich lächelnd ins Zimmer trat und das Gespräch eine andre Wendung nahm.

 

Als Johanna kurz vor dem Mittagessen im Speisezimmer erschien, fand sie den Tisch mit ungewohnter Pracht gedeckt. Maria, in einem duftigen ausgeschnittenen Kleid aus weißem Seiden-Mousseline, ging dem Tisch entlang, der Gärtner mit einem weiten Korb voll Blumen hinter ihr her. Mit raschen Bewegungen nahm sie Nelken, Rosen, Jasmin und was ihr sonst an Blüten gefiel, aus dem Korb, stellte sie in Vasen und Gläser und legte sie den Tischläufer entlang. Unbarmherzig brach sie Blüten vom Stiel, um sie rund um den Fuß der Gefäße zu legen.

»Die armen Blumen!« sagte Elinor.

»Sterben müssen sie so wie so, so mögen sie für die Schönheit sterben!« erwiderte Maria »hier, Elinor – hier! –«

»Wollen Sie helfen?« sagte sie freundlich zu Johanna.

Johanna versuchte es, aber sie sah wohl, daß Maria, ohne zu tadeln und so unauffällig wie möglich, alles wieder änderte; wie sehr sie sich bemühte – sie legte die Blumen stets steif und formlos nebeneinander, während Maria mit einer Bewegung ihrer schlanken Hand einen Zauber von Farben und Linien schuf. Aus jedem Glase neigte es sich – hier ein einzelner zarter Stengel – dort wogende Fülle, überall war Rhythmus und Schönheit.

Elinor half ihr schweigend, hier und da fragend, ob es so recht sei.

Frau von Gielowski trat ein und bewunderte laut: »Herrlich, Mary – entzückend! doigts de fée! – welche Mühe du dir gegeben hast!«

»Ich liebe den Onkel Anton,« antwortete Maria.

Elinor warf das Glas, mit dem sie eben beschäftigt war, um, und ein wenig Wasser floß über das Tischtuch zur Erde. »Wie ungeschickt, verzeih, Tante!«

»Es tut nichts, Kind, es tut nichts,« rief Frau von Gielowska.

Die grünen Jalousien waren zum Fenster hinaus gespannt, das Licht fiel gedämpft auf das weiße Damasttuch, die geschliffenen Gläser blitzten, die dunklen Rosen glühten und der Jasminduft füllte das Zimmer – draußen im Garten glänzte der Kies grell zwischen den regungslosen Büschen.

»Oh! the bleeding hearts – die hast du verworfen, Mary?«

»Sie passen nicht her – sie sind zu unscheinbar.«

»Welch ein hübscher Name«, sagte Johanna.

»Sie sind eigentlich zu blaß für Herzen«, meinte Elinor.

»Es sind erschöpfte Herzen, weil sie bluten«, antwortete die Gielowska.

Draußen fuhr ein Wagen vor, und der Kies knirschte unter den Schritten.

Der Rittmeister begrüßte Schwägerin und Nichten mit gleicher Galanterie, mit lächelnden Komplimenten. Er war Johanna unsympathisch. Für Offiziere hatte sie überhaupt nicht viel übrig. Im Hause Marquarts sprach man von ihnen mit Abneigung und Verachtung als von schädlichen Müßiggängern, gedankenlosen Werkzeugen aller Reaktion; in den Gelehrtenkreisen ihres Mannes war die Abneigung und Verachtung höflicher ausgedrückt, aber kaum geringer gewesen. Trotzdem konnte sie sich dem Reiz, den der Mann vor ihr aus alle ausübte, dem Reiz seiner Stimme, wie auch dem seiner Erscheinung nicht ganz entziehen. Er saß im Salon behaglich rauchend unter den fünf Frauen, deren Aufmerksamkeit keinen Augenblick von ihm wich.

»So gut habe ich es schon lange nicht gehabt«, sagte er lächelnd.

»Hogerath Pascha!«, sagte die Gielowska.

»Wäre ich in türkische Dienste getreten, wie ich wollte, so wäre ich das jetzt.«

Das Mädchen servierte schwarzen Kaffee und Kognak: Der Rittmeister schenkte sich wiederholt ein, sowie er schon bei Tisch eine Flasche Wein geleert hatte, ohne daß es eine merkliche Wirkung auf ihn ausübte. Er erzählte von einem Diner bei dem österreichischen Botschafter in Konstantinopel: »... wunderbare Weine, interessante Menschen aus allen Ecken der Welt, die an den Geschicken Europas und Asiens mitgearbeitet hatten, und süperbe Frauen!«

»Leider bin ich hiergeblieben, denn das war 78 – und da glaubten wir an eine Zukunft ... Wenn ich einmal zu übermütig werde, dann stelle ich mich vor das Haus auf dem Franzensring und übe mich in patriotischer Bescheidenheit ... Nun, wir wollen nicht lamentieren: süperbe Frauen gibt es hier auch! –«

Er verbeugte sich leicht vor den Damen im Zimmer.

Maria lächelte. Das Gespräch zwischen ihr und dem Onkel war stets ein leichtes Gefecht, aber ein Gefecht, bei dem seine und ihre Augen oft sonderbar leuchteten und seine Stimme mehr vibrierte als sonst – er schien die wunderschöne Nichte nicht durchaus mit den Augen des Onkels betrachten zu können.

»Wieviel Frauen hättest du als Pascha ertränken lassen, Onkel Tony?« fragte sie.

»Jede – wenn meine schöne Nichte es befohlen hätte. Aber wieviel Köpfe hätte sie verlangt?«

»Onkel Tony! Unerhört!«

»Nicht einen? Maria! nicht einen?!« und seine Augen funkelten.

»Sieht Mary wie eine Herodias aus?« fragte Frau Gielowska.

»Auch meine Mutter sah sehr sanft aus und soll sehr ungewöhnlicher Entschlüsse fähig gewesen sein«, sagte Maria langsam. Auf diese Worte folgte eine Pause, in der niemand sprach.

Die Gielowska begann von Marquart zu reden, erzählte, daß er sie zur Sozialistin machen wolle.

»Das sieht ihm ähnlich!« sagte der Rittmeister, »das fehlte ihm noch. Die Schwadron ohne Kommando, die von selbst das Rechte tut! –«

»Es ist eine große Idee ...«, sagte die Gielowska.

»Mit der der Herr Marquart hausieren geht, wie mit allen Ideen andrer Leute, – ob sie ›groß‹ sind, wollen wir jetzt nicht entscheiden. Sein Vater hieß eben Salomon Meyer, bevor er Sigmund Marquart wurde ...«

»Seine Mutter war eine Cassini, Anton!«

»Bei allen unvorsichtigen Kreuzungen gibt die schlechtere Rasse den Ausschlag.«

»Bst, Anton!«

Mit heftigem Groll sprach der Rittmeister gegen diesen neuesten, gefährlichen Schwindel ... »man muß das Volk nur kennen, man muß es auf unsern polnischen Gütern sehen – das lebt wie das Vieh!«

»Läßt man es anders leben?« fragte Johanna.

Der Rittmeister zog die Augenbrauen in die Höhe und starrte sie an.

»Wie meinen Gnädige?« fragte er.

Johanna hatte seit jenem Abend Bücher über die Sache gelesen, die Marquart ihr gegeben und die sie begeistert hatten. Sie mußte sprechen. Der spöttische Ausdruck, mit dem der Rittmeister ihr zuhörte, verwirrte sie erst und empörte sie dann, sie sprach aufgeregt und mit geröteten Wangen, wie sie nie gesprochen hatte.

»Bravo, meine Liebe«, sagte die Gielowska, »geben Sie es diesem Despoten.«

»Das sind sehr schöne Empfindungen, meine Gnädige«, sagte der Rittmeister, »aber Sie kennen das Volk nicht.«

Er begann sogleich von etwas andrem zu reden, was Johanna als intensive Geringschätzung empfand. Für sie war der Rittmeister der Feind, der brutale, aristokratische Hochmut, der allen Entwicklungen der Zeit mit grenzenlosem Unverständnis gegenüberstand; sie konnte den Unmut, den sie fühlte, in ihren Mienen nicht verbergen und sah eigentlich viel hochmütiger aus als er. Aber der Rittmeister scherzte bereits wieder mit seinen Nichten. Er wollte beide am nächsten Tage in die Oper führen und hörte mit Verdruß, daß Maria schon abreisen wollte.

»Du könntest einen Tag zugeben«, sagte er.

»Der arme Mann und der Bubi brauchen mich. Stelle dir Armin vor: den Bubi auf den Knien und eine Geschichte der Ethik in der Hand; dabei starrt er hilflos auf einen Teller mit Milchbrei, den der Bubi essen soll ...«

»Dann fahrt ihr heute Abend mit mir aus! – Wer kommt mit?«

»Ich danke dir, lieber Anton, aber ich kann nicht«, sagte die Gielowska, und Frau Hogerath lehnte gleichfalls ab.

»Aber die Kinder dürfen doch, Karoline?«

»Maria ist ihre eigene Herrin«, sagte Frau Hogerath mit Betonung, »aber Elinor muß mit mir zum Onkel Wilhelm.«

»Ohne Elinor gehe ich nicht«, sagte Maria.

»Gehst du gern?«

»Rasend gern«, erwiderte sie.

»Dann kommt ihr beide. Heute bitte ich euch frei.«

Elinor sah die Schwester an. »Ich gehe sehr gern«, wiederholte diese.

»Du sagst gar nichts, Elinor?« fragte der Onkel.

»Ich danke, Onkel, ich will lieber nicht gehen.«

»Unsinn, Elly«, sagte Maria, »du gehst mindestens ebenso gern wie ich. Sie geht noch zehnmal lieber.«

»Elinor spricht ausnahmsweise vernünftig«, sagte Frau Hogerath hart, »sie muß mich zum Onkel Wilhelm begleiten, und bis wir zurückkommen, ist's zu spät.«

Mit diesen Worten stand sie auf, der Rittmeister erhob sich gleichfalls – die Gielowska machte ein besorgtes Gesicht. Johanna hatte das Gefühl, als ob es sich bei diesem Gespräch um ganz andre Dinge handelte, als die, von denen die Rede war; aber woher ihr diese Hellseherei kam, begriff sie nicht. Einige Augenblicke später war sie allein im Salon. Im Garten gingen der Rittmeister und Maria in lebhaftem Gespräch miteinander auf und ab. Als Johanna die Portiere zum Speisezimmer beiseite schob, sah sie Elinor, die Stirn ans Fenster gepreßt, die Hand übers Haupt gelegt, nach den Beiden starren.

Als der Rittmeister fortfuhr, ging Maria, ohne mit irgend jemandem zu sprechen, singend in ihr Zimmer, und wieder und wieder tönten die Verse der »Loreley« von ihrer schönen Sopranstimme getragen aus dem Fenster; aber sie kam nicht mehr herab, bis sie abends mit dem Onkel, der sie abzuholen kam, fortfuhr.

Sie stand im Vorzimmer, einen letzten Blick in den Spiegel zu werfen; sie hatte ein weißes Spitzentuch um den Kopf gehüllt und bemühte sich vergeblich, die vielen Knöpfe ihrer weißen Glacéhandschuhe zu schließen. Die Kammerfrau war auf ihr Zimmer geschickt worden, ein Opernglas zu suchen; und Johanna, die von den Damen allein zu Hause war, bemühte sich, ihr zu helfen. Lächelnd reichte Maria den andren Arm dem Rittmeister, der die Knöpfe gewandt schloß und einen Kuß auf die kleine Hand im weißen Handschuh drückte. Johanna fühlte, daß die andre Hand erzitterte.

Des Abends war Johanna allein mit der Gielowska; die Frau zeigte ihr Seidestickereien, die sie aus ihrer Stadtwohnung hatte kommen lassen, um ihre Nichten zu beschenken. Aber sie war auffallend unruhig dabei. Meßgewänder und Altardecken waren unter den Stickereien, und während sie sich im voraus auf Marias Freude freute, wenn sie all die alten Herrlichkeiten, die milden Farbenharmonien in weiß und gold, in blassem rosa und silbergrau, in seinem grün und mauve und lila sehen würde – sah sie erregt nach der Uhr.

»Manchmal freue ich mich, daß ich keine Kinder habe«, sagte sie.

»Man muß sich wohl fragen, ob man ein Recht hat, Kinder in die Welt zu setzen, so wie man ist«, sagte Johanna ernst.

»Kind, um Gotteswillen, wie kommen Sie zu solchen Theorien?!«

»Man muß doch darüber denken – ein Menschenschicksal ist etwas so Furchtbares und Großes ...«

»Grübeln Sie nicht, Johanna! Das hat der liebe Gott so eingerichtet, daß es ohne viel Grübelei geschehen soll ... sonst geschähe es wohl gar nicht ... Oh die armen Kinder!« sagte sie ganz unvermittelt. Johanna erriet, daß sie an ihre Nichten dachte.

»Die Jüngere muß viel erlebt haben«, sagte sie, »wie kann man so ernst sein, wenn man so jung ist? damals bin ich noch auf jeden Baum geklettert!«

»Dieses Kind hat ein unglückseliges Naturell. Schon als ganz kleines Kind war sie verdrossen und unliebenswürdig, während Mary die entzückendste Kleine war, die Sie sich denken können. Mary ist auch die einzige, die Elinor zu behandeln versteht. Sie hat ein unglückliches Naturell.«

Johanna dachte des hellen Lachens, das sie am Morgen gehört hatte.

»Sie haben keine Eltern mehr?« fragte sie.

»Nein, und das ist vielleicht schuld. Das ist eine traurige Geschichte. Die erzähle ich Ihnen ein andermal. Die Hogeraths sind alle unberechenbare Menschen. Die Karoline hat eigentlich den Vater der beiden Kinder Erwin Hogerath lieb gehabt. Die Mutter war eine Baronesse Hasten, die beste Freundin von der Karoline. Sie war mit dem Ältesten, Theodor, verlobt. Erwin war der Jüngste. Ich war damals ein Jahr mit Karl Hogerath, meinem ersten Mann, verheiratet, wie der Erwin mit Maria Hasten durchgegangen ist. Da waren schreckliche Szenen. Der alte Papa Hogerath hat den Erwin aus dem Haus gejagt – es war furchtbar, der große junge Mensch und der alte zitternde kleine weißhaarige Herr, der mit einem ganz dünnen Stecken auf seinen Sohn losschlägt – – und Erwin, der mir später sagt: ›Ich habe nur immer Angst gehabt, der Papa tut sich etwas!‹

Sie haben dann geheiratet; er war zweiundzwanzig und sie sechsundzwanzig. Mit dem Konsulardienst war es nichts, und von der Familie hat er nie etwas bekommen. Er hat immer Maler werden wollen – aber so groß war das Talent nicht. Sie sind zu Grunde gegangen ... und beide ganz jung gestorben.

Der Theodor hat später die Karoline geheiratet, und sie haben dann die Kinder zu sich genommen, ist das nicht merkwürdig, die Kinder der zwei Menschen, die sie ...«

»Wie eigen!« rief Johanna.

»Wer sie haben es nicht verstanden mit ihnen umzugehen. – Die Karoline ist Protestantin.« Sie fügte das hinzu, als ob es eine selbstverständliche Erklärung aller Fehler wäre. Johanna wußte aus vielen Gesprächen, daß Frau von Gielowska, ohne gläubig katholisch zu sein, den Protestantismus als die Verkörperung alles Häßlichen und Starren und der unkünstlerischen Verständnislosigkeit für alles Tiefe und Schöne ansah, und Juden den Protestanten bei weitem vorzog. Im ganzen Kreise Marquarts war es üblich, den Katholizismus zu verherrlichen.

»Die Karoline ist ein sehr starker, pflichttreuer Mensch,« fuhr sie fort, »aber sie hat nur Prinzipien – kein Verständnis für Kinderseelen – die müssen ja angefaßt werden wie Schmetterlingsflügel ... Ich kann da nichts machen. Man lernt immer mehr, sich nur um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern ...«

Sie sah aufgeregt nach der Uhr. »Daß noch immer niemand zurück ist! Wo Mary nur bleibt!«

»Oh, ich sollte Ihnen sagen, daß sie in die Oper gefahren ist, und sehr spät kommen wird ...«

»So – wie schrecklich schwül es heute ist! – bei dieser Temperatur möchte ich nicht im Theater sein ... – da kommt sie ja sehr spät ... Nein, das Zimmer tanzt mir vor den Augen. Ich werde schlafen gehen ... aber ob ich schlafen werde? ... Vorboten des Alters, liebe Frau ...«

Sie stand seufzend auf ... in der Türe drehte sie sich noch einmal lächelnd um: »Wissen Sie, was mir einmal ein Graf Zborowski in Marienbad gesagt hat: › Avec une âme, comme la vôtre, madame, on ne vieillit jamais‹. Bleiben Sie nicht auf, liebe Frau, die Sefine wartet ohnedies.«

Johanna blieb noch eine Weile im Zimmer. Sonderbar, je intimer und vertraulicher Frau von Gielowska gegen sie wurde, desto kühler ward ihr selbst zu Mut, ja, sie empfand fast Antipathie.

Sie wollte sich eben zurückziehen, als Frau Hogerath und Elinor nach Hause kamen, außerordentlich betroffen, als sie hörten, daß Maria noch nicht zurück sei. Frau Hogerath ging sofort ins Schlafzimmer ihrer Schwägerin. Elinor sprach ein paar gleichgültige Worte mit Johanna, dann setzte sie sich auf ein Sofa, zerrte an ihrem Handschuh, stand wieder auf und ging im Zimmer umher. Johanna hatte ein Buch geöffnet, aber sie las nicht, sondern beobachtete das junge Mädchen.

»Die ist, wie ich,« dachte sie, »viel älter geworden, als sie eigentlich ist – ihre Seele flattert auch wie eine Kerze im Tageslicht.«

Die Hogerath kam zurück. »Geh' schlafen, Elinor,« sagte sie. »Vor ein Uhr können sie nicht zurück sein.«

»Ich bleibe solange auf, Tante.«

»Unsinn,« sagte Frau Hogerath. »Ich wünsche, daß du zu Bett gehst.«

Elinor schüttelte den Kopf. »Ich bitte Sie, gehen Sie schlafen,« sagte sie, als Frau Hogerath das Zimmer verlassen. »Ich bin immer so unsinnig aufgeregt, wenn Maria fort ist. Es ist sehr dumm, ich weiß es.«

»Ist es Ihnen nicht lieber, wenn ich aufbleibe und Ihnen Gesellschaft leiste?«

»Nein, nein, bitte, gehen Sie schlafen!«

 

Gegen Mitternacht wurde Johanna von dem Mädchen geweckt, »sie möge aufstehen, die gnädige Frau sei im Sterben.«

Im Schlafzimmer brannten zwei Lampen; die Gielowska lag totenblaß mit dem Rücken an Kissen gelehnt, die Hand auf die Brust gedrückt, ohne atmen zu können. Frau Hogerath stand an ihrem Bett und legte ihr Eisumschläge aufs Herz.

»Ein Herzkrampf,« sagte die Kammerfrau. Ein unwilliger Blick der Hogerath hieß sie schweigen. In jenem sonderbaren, lastenden Gefühl, das in nächtlichen erleuchteten Krankenzimmern herrscht, halfen Johanna und die Hogerath die Umschläge bereiten und wechseln, mit eiligem gedämpften Flüstern, wenn ein Wort zu sagen war. Unten fuhr ein Wagen vor. »Ich habe den Gärtner zu dem Doktor geschickt. Wollen Sie ihm entgegen gehen?« sagte Frau Hogerath.

Im Salon fand Johanna Elinor auf dem Sofa angekleidet in festem Schlaf. Die Kammerfrau erschien in der Tür und winkte ihr, zurückzukommen. Die Kranke begann zu röcheln und angsterfüllte Worte zu stöhnen.

»Der Anfall ist vorbei,« sagte die Hogerath.

Frau von Gielowski atmete und öffnete die Augen.

Unten fuhr der Wagen fort – und gleichzeitig trat Maria in ihrem weißen Kleid und strahlend von Schmuck in das Zimmer. Sie blieb stehen, bestürzt, fragend ...

Die Kranke starrte sie an, Maria trat ans Bett und streichelte sie.

Der Anfall schien sich zu erneuern, aber er ging rasch vorüber. Die Frau ächzte und war überzeugt, sterben zu müssen, begann von ihrem Testament zu reden ...

»Unsinn, Emilie!« sagte Frau Hogerath, »und du, Maria, geh – jede Aufregung schadet!«

»Um Gotteswillen!« sagte Maria, »laß mich dableiben!«

Sie streichelte Hände und Wangen der leidenden Frau. »Ich tue dir gut, Tante Mila, nicht wahr?« rief sie schmeichelnd, »gut! gut! – deinen schönen weißen, weißen Händen! – wie schön du bist, Tante Mila – in deinem silbernen Haar!«

Die Kranke lächelte ein wenig – es ward ihr besser. Dann kam der Anfall wieder. Maria half; sie nahm Johanna die Tücher aus den Händen – sie schob die Kissen besser zurecht ... sie küßte die Kranke, während ihr Gesicht sich über sie beugte. Auf der Straße hielt wieder ein Wagen an. Der Arzt trat ein und untersuchte ...

»Es ist ungefährlich,« sagte er, »ein falscher Herzkrampf, rein nervöser Natur. Hat die Patientin eine heftige Aufregung gehabt? Eisumschläge – oder auch warme Umschläge, wenn Eis nicht zu haben ist.«

Er sah Johanna und verbeugte sich nicht ohne Erstaunen. Sie kannte ihn, er hatte bei ihrem Mann gearbeitet.

Johanna führte Maria in den Salon, Maria weckte die Schwester mit Küssen.

»Du bist sehr dumm, meine Elly,« sagte sie. »Ich glaube, ihr seid alle sehr dumm.«

 

»Überall das Gleiche,« dachte Johanna, als sie gegen Morgen aufgeregt und müde wieder zu Bett ging, »in allen Häusern Gespenster, überall ein Doppelleben – ein äußeres, höflich und anständig oder derb und gemein, immer aber verlogen – und ein inneres, das ein Abgrund von Qual und Mißverständnis ist!«

 

Frau Schneider reiste am nächsten Mittag ab. Sie war gegen alle Menschen im Hause bis zur kleinsten Magd von der gleichen vornehmen Liebenswürdigkeit gewesen, die jeden gewann und jeden von ihr entfernt zu halten schien.

»Sie vermissen Ihre Schwester wohl sehr?« sagte Johanna zu Elinor.

Ein Blick aus heißen verstörten Augen traf sie, dann ein kurzes »Ja«.

»Wollen wir ein bißchen über die Wiesen gehen?«

»Ja, gerne«. Während des ganzen Spazierganges pries Elinor ihre Schwester.

Von diesem Abend an waren sie Freundinnen. Sie führten keine langen Gespräche, denn sie hatten nicht viel Zeit für einander, und Elinor redete überhaupt nicht viel, aber ihre kargen Worte, Blicke, kleine Aufmerksamkeiten bei Tisch – alles war gleichsam schwer von Liebe. Dies und ihre Freundschaft erregte das Staunen Frau Hogeraths.

»Alles Zusammenbringen mit andren Mädchen, alles Befehlen, Drohen, Strafen war umsonst,« sagte Frau Hogerath. »Sie ist dagesessen wie ein Stock, hat den Mund nicht aufgemacht, kaum gegrüßt – sie hat aus dem Wagen springen wollen, wenn wir in Gesellschaft gefahren sind!«

»Nein, ach wirklich? waren Sie so?« fragte Johanna.

Sie sah, wie Elinor trotzig den Kopf hob und die Lippen zusammenpreßte, als die Tante dies von ihr erzählte. Sie begann zu verstehen, was dieses junge Mädchen zu leiden hatte.

»Wenn ich einmal mit jemand gut war,« sagte Elinor später zu ihr, »dann hat man mir den Verkehr verboten, dann war das kein Umgang für mich.«

Da schlug die Gielowska vor, daß Frau Hogerath Johanna mit ins Gebirge nehmen sollte. Sie selbst wolle Freunde besuchen, und Johanna brauche Erholung.

Johanna nahm die Einladung an und begann ihre Vorbereitungen zu treffen. Zu ihrem Erstaunen gewahrte sie, daß Frau von Gielowski von da an sichtlich verstimmt und geradezu unfreundlich gegen sie ward. Sie begriff es nicht, aber zuletzt konnte sie nicht mehr zweifeln, daß ihre Abreise der Grund war. Das war ihr noch unbegreiflicher, da ja Frau von Gielowski die Reise selbst vorgeschlagen hatte und auch jetzt auf eine Frage fast gereizt antwortete, sie möge unbedingt fahren. Dieser Zug war Johanna zu fremd – außerdem hatte sie es nun beschlossen, und so ließ sie sich durch die Laune der Dame nicht irre machen.

Ehe sie abreiste, fuhr sie in die Stadt, um ihre Eltern zu besuchen. Als sie an der Universität vorüberkam, fühlte sie eine fast übermächtige Versuchung, einzutreten und zu fragen, ob Marquart im Seminar sei. Sie stand noch zögernd vor dem kleinen Eingang in der Reichsratstraße, als die Türe sich öffnete und jemand herauskam, mit Büchern unter dem Arm, der auf sie zutrat und ungeschickt und errötend grüßte: es war Robert Biber.

Auch Johanna errötete. Er begann: »Wie geht es Ihnen, gnädige Frau?«

Sie dankte und fragte nach Lux. Er lobte ihn sehr, er sei ein herrlicher Junge, aus dem sehr viel werden werde. Er sei bereits aus dem Land bei seinen Eltern und habe mit Bedauern gemeldet, daß sein jüngerer Bruder in der Landluft stärker geworden sei, als er. Sonst schreibe er vornehmlich über sein Pferd; der Vater habe ihm ein altes Reitpferd zur Verfügung gestellt, das er täglich wasche und putze. – Jüngst seien er und sein Bruder im slawischen Kostüm der Landleute ins Dorf gegangen und hätten Fremden aufgespielt und ihnen die unglaublichsten Tänze vorgetanzt; dann hatten sie Geld abgesammelt, einander plötzlich ein paar lateinische Worte zugerufen und waren lachend davon gesprungen. Das alles erzählte Biber, selbst laut lachend und sich überstürzend. Johanna lachte auch. Dann fragte sie, wie es dem Hofrat und seinen Kindern gehe. Sie fragte ganz ruhig, aber Biber wurde sehr befangen. »Der Hofrat sei zu einem Kongreß nach Moskau gefahren. Ida sei gleichfalls bei Frau Obrist auf dem Gut gewesen, und jetzt seien beide Mädchen bei der Tante Christine.«

Er ging lange mit ihr, bis in die Vorstadt. »Haben Sie denn Zeit?«

Er versicherte, immer Zeit zu haben.

»Wann speisen Sie denn?«

»Ja, es ist allerdings ein bißchen spät geworden, aber ich bin es so gewöhnt,« sagte er und wieder errötend, »dann habe ich mich so gefreut, Ihnen diese Nachrichten geben zu können. Soll ich Lux etwas ausrichten?«

»Viele, viele herzliche Grüße,« erwiderte Johanna.

Er hatte offenbar noch etwas auf dem Herzen; da er sich aber nicht entschloß davon zu sprechen, reichte sie ihm die Hand und sagte lachend:

»Eilen Sie, Sie müssen ja entsetzlich hungrig sein.«

Er grüßte zum viertenmal und ging mit eiligen Schritten zurück.

Nach Marquart hatte sie ihn nicht gefragt.

Sie schrieb an Marquart erst, als sie bereits am Achsee war.


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