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II

Am dritten Nachmittag saß Maria in ihrem Salon. Elinor trat ein und sah sich um, sie schien jemanden zu suchen. Maria beobachtete sie; sie sprach kein Wort, um ihre Lippen spielte ihr schönes, überlegenes und zweifelndes Lächeln.

Lux saß auf seinem Zimmer und schrieb: »Ich schaue in diese Seelen,« schrieb er, »sie scheinen mir tief und warm. Aber, oh, Johanna, wie fehlt ihnen deine herrliche Klarheit, dein Wissen um dich und um dein Wollen! Wie wenig wissen sie von sich selbst, und wie macht sie das irregehen – irregehen! Wir könnten uns in solchen Schlingen nicht fangen ...«

Unten trat Elinor abermals in den Salon und stand sinnend, mit den Händen über ihr Kleid streifend. Maria sah von einem Brief auf, den sie erhalten und sagte: »Onkel Wilhelm, Armin und Boris kommen morgen, alle drei! – Ich wette, Boris bringt die beiden andern aus sittsamer Empfindung mit! ..« Sie lächelte.

Elinor verschränkte die Hände und ließ ihre Blicke ins Leere schweifen. Sie sagte nichts auf die Nachricht, und selbst ihre Augen schienen denen der Schwester auszuweichen.

Lux trat ein, jene klare Ruhe und Sicherheit, mit der er eben an die geliebte Frau geschrieben hatte, noch im Antlitz.

»Es ist kühl geworden,« sagte er, »wollen wir rudern, Fräulein Elinor?«

»Ja,« erwiderte sie und wendete sich zögernd an Maria, »kommst du mit?«

Maria stand auf, überlegte einen Augenblick und sagte dann: »Ja, ich komme.« Sie warf einen Mantel aus seinem, grauen Stoff über das lichte Kleid, das sie trug, und folgte ihnen an den See hinab und ins Boot.

Lux und Elinor ruderten. Sie war eine kräftige Genossin. Sonst war es eine schweigsame Fahrt über das dunkelnde Wasser; sie hielten lange im Schatten der Wand, wo ein mehrfaches Echo ihren Rufen antwortete. Lux sang ein Lied, das er in Berlin von einem jungen Belgier gehört, und dessen Worte ihm ungefähr im Gedächtnis geblieben waren:

»Nous ne voulons ni dieu, ni maître,
Ni Césare, ni tribun ...!«

Seine Stimme hallte von den Felsen zurück.

Schwarz und still lag der See; erstaunt dachten sie der Wut, mit der er in der vergangenen Nacht getobt hatte, als läge ein gefesseltes Riesengeschöpf auf seinem Grunde, das jetzt schlief und gestern fürchterlich erwacht war.

Lux ruderte mit starken Schlägen nach dem Hause zurück. Dort führten weiße Treppen bis ans Wasser, und Maria stieg aus dem Kahn. Er selbst und Elinor führten das Boot in die Hütte. Es war ganz dunkel in der Hütte, und als Elinor ausstieg, fiel die Kette ins Wasser, sie griffen beide darnach, und ihre Hände trafen sich in der Feuchte. Sie stiegen in Schweigen den schmalen Weg über Erdterrassen zwischen Bretterzäunen hinauf. Elinor ging rasch vor ihm her, und er fühlte die Wärme ihres Körpers in seiner Nähe. Irgend etwas begann ihm zu Kopf zu steigen, ohne daß er darüber dachte. Ein sonderbares, unruhiges Wohlgefühl war in ihm.

Am nächsten Tag tauchten Gesichter auf, die in diese Stille von Bergen und Wasser und Wald nicht zu gehören schienen. Herr Wilhelm Hogerath war angekommen, korrekt und breit, ein Monokel im Auge, mit ausrasiertem, roten Kinn und seinem, weißen Backenbart.

»Ein Verwandter des ehemaligen Abgeordneten Obrist?« fragte er Lux mit ein wenig kreischender Stimme.

»Sein Sohn!«

Damit war er zufrieden.

Da trat ein zweiter Herr ins Zimmer, und Elinor stellte vor:

»Herr Lucian Obrist – Herr Boris Gulbrandson.«

Der Professor war nicht gekommen.

Herr Boris Gulbrandson trug einen schwarzen Anzug aus dem feinsten Tuch, einen schneeweißen liegenden Kragen und eine breite schwarze Schleife davor. Sein Gesicht war bartlos, er hatte langes, dunkles Haar und große blaue Augen, die, wenn er schwieg, etwas unsicheres im Blick hatten. Er hatte sehr schlanke, weiße Hände mit langen Fingern.

Lux heftete seine Augen auf Elinor mit fast unartiger Intensität, bis ein tiefes Erröten ihr Gesicht färbte.

Es war sonderbar, wie von nun an Herr Wilhelm Hogerath und Herr Boris Gulbrandson das Gespräch führten und die drei andren schwiegen. Der alte Herr sprach nicht besonders viel, er war sehr ruhig und würdig, und redete, wenn er redete, entweder mit traurigem Ton von der entschlafenen Tante, die leider nicht mehr in ihrer Mitte weilte, oder er begann von der Jagd und zuletzt von der Industrie zu sprechen. Da er aber niemanden fand, der auf diese Themen einzugehen gewillt war, so verstummte er wieder. Gulbrandson warf jedesmal eine Frage auf; und zwar stets nach der Suppe, nachdem er noch vorher ein Glas Wasser getrunken, sodaß Maria und Elinor sich jedesmal lächelnd ansahen. Er begann träumerisch, als ob er gerade aus den Tiefen seiner Seele schöpfte, was er, wie Maria behauptete, vor Tische sorgfältig ausgedacht hatte. Er wollte gern eine Meinung über diese Frage hören ... aber außer Onkel Wilhelm äußerte sich niemand, und was Onkel Wilhelm sagte, das fand Gulbrandson zwar immer sehr richtig, verbreitete sich dann aber selbst über die Sache ... wobei er den Kopf zurücklegte und zur Decke schaute oder alle Anwesenden der Reihe nach ansah, oder seine Blicke auf einen heftete, als ob der besonders überzeugt werden mußte. Er sprach zumeist von Theosophie und von »sozialen Feldzügen«. Herr Wilhelm Hogerath fand das »für England und Schweden sehr schön, sehr schön.«

Lux schwieg hartnäckig, bis Gulbrandson seine Zustimmung in geraden Worten forderte.

Aber Lux hatte keine Zustimmung zu geben. Alles das sei ganz gut, aber es sei »Rosenwasser«. Man müsse die Menschen bis ins Innerste verändern ...

»Was verstehen Sie unter: ›bis ins Innerste verändern‹ – Wie verändern?«

»Das ließe sich in wenigen Worten nicht sagen – sie frei machen – die Erziehung nicht mehr vor allem auf den Erwerb richten – den Handel abschaffen ...« er hielt inne, über sich selbst lächelnd.

Onkel Wilhelm legte Messer und Gabel nieder, befestigte das Monokel, betrachtete den jungen Mann, sagte ein paar »Hm« und »Ja so« und versank wieder in Nachdenken. Es war ihm noch immer nicht klar, wieso Maria diesen fremden jungen Mann eingeladen hatte und ob sie es hätte tun sollen. Es war nur so schwer, Maria etwas zu sagen, weil sie auf Vorwürfe nichts erwiderte.

Das ganze Zusammensein war zerstört. Wenn Maria, Elinor und Lux sich einen Augenblick allein fanden, sprachen sie wie geflüchtete Verschwörer miteinander.

Lux sah von seinem Fenster aus Elinor in ihrem Bauernkleide am Brunnen stehen, ein paar Kinder waren um sie, nun kam auch Gulbrandson hinab und sprach gleichfalls mit den Kindern, denen er die Hand aufs Haupt legte. Dann schien er mit Elinor zu sprechen.

Eine Weile später traf er Elinor allein.

Sie gingen ein Stück mit einander, in den Wald, und weiter.

Seit zwei Tagen gab sich Lux keine Rechenschaft über das, was er empfand. Elinors Schicksal interessierte ihn, wie eine Aufgabe, die Johanna ihm gestellt.

Er sprach von Gulbrandson mit ihr, nannte ihn ruhig »Ihren Verlobten«, sagte: »Johanna hat mir davon erzählt.«

Wieder wurde sie flammend rot, und Gedanken wie Funkenspiele zogen durch ihre Seele, die ja fast schwindlig machten.

Lux war sehr ernst.

»Darf ich mir eine Frage erlauben?« sagte er.

»Fragen Sie!«

»Hat man Sie dazu gezwungen?«

»Es hat mich niemand gezwungen. Oder doch – das Leben ... als ich sah, daß es anders nicht mehr ging und daß ich zu nichts mehr nutz war ...«

»Zu nichts mehr nütze ...?«

»Ja,« sagte sie ruhig, »es war zu spät, daß ich selbständig etwas werden konnte ... So im Zeichnen – es ist zu spät – mein Unterricht war zu schlecht und zu abgebrochen ... und so in der Musik ... und in allem ... ich bin beinahe fünfundzwanzig Jahre alt ... Und ich dachte ...«

Sie brach ab, sie begriff nicht, wie sie dazu kam, ihm das alles zu erzählen. Und während er gespannt zuhörte und nach ihrem Angesicht blickte, gab sie Plötzlich seiner Abreise, die, wie sie wußte, bevorstand, eine neue Bedeutung. Statt seiner ging in ihren Gedanken Gulbrandson neben ihr durch den Wald. Die Kette schien an ihrem Fuß zu klirren. Da dachte sie: »Ich bin ja frei,« und wollte es auch sagen – damit aber kam eine ungeheure Verwirrung über sie, sie fühlte, wie alles Blut ihr zu Kopf stieg.

Er bemerkte ihre außerordentliche Verwirrung, und beide blieben stehen.

Er wollte ihr sagen, daß sie ein Unrecht an sich selbst zu begehen im Begriff sei, aber auch er verzagte plötzlich ... ihr Schicksal wurde so wichtig, daß er davor erschrak. Er dachte, daß sie im Begriff war, sich die Zukunft für immer wie mit einem eisernen Gitter zu verschließen, sich selbst alle Blüten zu entreißen, und das Gefühl, daß das nicht sein durfte, daß er eingreifen mußte, bewegte ihn so, daß er unruhig stand, von seinen eigenen Gedanken erschüttert.

Sie hatte sich auf eine Rasenböschung gesetzt und blickte fast flehend zu ihm auf und sagte:

»Begreifen Sie, daß das Leben einen Menschen dahin bringen kann, daß er Dinge tut, die gegen seine Natur sind, und sie tun muß ... um sich zu retten ...«

Lux nickte.

»Wie wenn jemand an einem Abgrund steht und hineinspringt, weil er den Schwindel nicht mehr ertragen kann ...«

Sie dankte ihm mit dem Blick dafür, daß er ihr das Bild bot, in dem sie sich erklärt fand, und sagte: »Das ist es.«

Er hatte das Gefühl, nie etwas Rührenderes und Schöneres gesehen zu haben. Ihr starker Frauenkörper lag im Grase halb ausgestreckt, die heißen Augen sahen zu ihm empor) sie erhob sich mit einer hilflos edlen Bewegung von der Erde.

Und sie erschien ihm plötzlich ein Bild der Glut und der Fruchtbarkeit. Und es war ihm, als sähe er ihren Leib durch die Gewande, gleich dem des ersten Weibes, das auf Erden erschien.

Eine so heiße Welle stieg in ihm auf, wie er in seinem ganzen Leben nichts ähnliches gefühlt hatte. Er hielt sich mit der Hand an einem Baume fest. Wo stand er? Er begriff den furchtbaren Zwang, sich beherrschen zu müssen, und fühlte auch, daß er es nicht länger im stände war ... und so nickte er nur, brachte kaum einen Gruß hervor und ging mit großen Schritten von ihr fort in den Wald.

Ein Feuer brannte in ihm, das ihn zu vernichten drohte, er wußte nicht, was er dachte und wollte ... er sah rot und schwarz vor den Augen.

Tief unten lag der See wie lachend.

Er ging eine Weile ziellos, dann schritt er heftig zurück, die Gräser und Farnkräuter zerstampfend und durch den Garten ins Haus.

Er ging auf sein Zimmer. Ein Brief lag auf dem Tisch. Von Johanna. Wieder ward ihm dunkel vor den Augen. Er öffnete den Brief nicht – er floh aus dem Zimmer; als er durch den Salon kam, stand Maria am Fenster und sah hinaus. Sie bemerkte ihn nicht. Er wollte an ihr vorüber; dabei näherte er sich dem andern Fenster und sah etwas, was ihn regungslos an die Stelle bannte.

Elinor ging unten auf und ab. Sie ging gleichsam stoßweise, im Zickzack, immer ein paar Schritte ganz in Sinnen versunken, dann wandte sie sich wieder. Mitunter blieb sie stehen und hielt sich mit der einen Hand an einen der dünnen Stämme, und ihre Augen starrten schmerzlich und verloren vor sich hin. Wieder diese hilflosen schönen Handbewegungen! Lux vergaß alles vor der Qual des Mädchens, das offenbar mit etwas rang, womit es in keiner Weise fertig werden konnte. Er stand unbeweglich, er wagte nicht sie zu stören, wunderte sich, daß Maria nicht sprach – bis das Zickzackgehen wieder begann und ihm unheimlich wurde.

Ein Laut brach aus ihm. Er wußte, daß etwas sich in ihm erhob, was ihn ans jenseitige Ufer des Lebens führen konnte. Er hätte etwas darum gegeben, Maria vom Fenster zu entfernen; er wußte nicht, ob sie ihn gesehen hatte oder sah, er ging durchs Zimmer und eilte die Treppe hinab ... hörte noch, wie Maria halblaut »Elinor!« rief.

Elinor ging bereits mit fliegenden Schritten den Gartenweg unter den Bäumen entlang. Er eilte ihr nach. Sie mußte die Schritte hören, aber sie sah sich nicht um, sie floh weiter. Er holte sie bald ein und schritt neben ihr, trat vor sie ... Er sagte nicht »Fräulein«, er konnte nicht einmal »Sie« sagen ... er rief nur ihren Namen und fragte sie etwas – welche Worte es waren, wußte er nicht.

Sie antwortete nicht, er sah nur, wie ihre Brust sich schwer atmend hob und senkte ... seine Augen suchten die ihren, und sie hob scheu ihr Haupt.

Er riß sie verzweifelt an sich, und als er ihren Körper in seinen Armen und an dem seinen gefühlt hatte, da war eine Welt und ein Schicksal und ein Leben für ihn vergessen.

Sie trennten sich nicht mehr, sie hielten sich an den Händen gefaßt und gingen tiefer in den Wald hinein.

Sie sprach glühend, schluchzend, stammelnd, abgebrochene Worte zu ihm, wie zu sich selbst – aber welch ein seliges Wunder war es, zu ihm wie zu sich selbst sprechen zu können!

In einem Augenblick sah er bis auf den Grund ihrer Seele und verstand sie und ihre ganze Geschichte – sah alles anders als bisher, begriff das zerstörte Leben der beiden wunderbaren Geschöpfe. Und diese konnte er noch retten ... retten – durch eine ungeheure, rücksichtslose, sie über alles hinausreißende Liebe. Er sah ihr in die Augen, und sie senkte sie rasch, um sie wieder scheu und heiß nach ihm zu erheben.

Sie sprachen noch, und er hörte den Namen Gulbrandson. Er machte nur eine Armbewegung, als ob er jemanden zur Seite streifte. Wer war Gulbrandson? – ein Schatten, ein Schein, über den er hinwegschritt!

Wieder schlossen ihre Lippen sich aneinander.

»Es ist recht ...« sagte sie. »Lieber! Ich gehöre dir ... alles andre ist nichts – ich gehöre ganz dir ... ganz! ganz!« und glückselig lächelnd schloß sie die Augen.

Als sie heimkam, ging sie zunächst zu Maria und dann auf ihr Zimmer.

Lux wartete lange; als niemand kam, ging er ungeduldig wieder fort. Es dunkelte bereits, als er zurückkehrte. Er stand im Salon; da fühlte er, wie zwei weiche Arme sich um seinen Hals legten und ein weicher fremder Mund einen raschen und heftigen Kuß auf den seinen preßte. Dann brach Maria in Tränen aus. Und er verstand, daß ihr Kuß ein Dank dafür war, daß ihre Schwester ihn liebte.


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