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IX

Als Johanna das Buch, das sie so sehr ergriff und bewegte, zu Ende gelesen hatte, fühlte sie eine tiefe Aufregung und Verstimmung. Tagelang ging sie in schmerzlich verwirrten Gedanken einher, und fragte sich, ob ihr Mann nicht recht haben mochte, wenn er gegen das Lesen von Romanen war. Marquart hatte ihr das Buch gegeben. Bruchstücke aller möglichen Welten zogen so in ihren Kopf ein, und sie, die noch nicht gelebt hatte, fühlte keinen Halt vor den verwirrenden Bildern, fühlte, daß sie für all die noch nicht reif war. Vieles davon waren Dinge, über die mit Marquart zu sprechen sie sich nicht entschließen konnte. Mit ihrem Manne freilich noch viel weniger.

Sie begann zu bereuen, daß sie ihre Mädchenzeit verspielt hatte, und mit um so größerem Eifer holte sie das Versäumte nach. Das Haus des Hofrats wurde ein Haus der Arbeit. Er selbst war ganz von einem Sammelwerk in Anspruch genommen, das er im Verein mit andren Gelehrten herausgab. Johanna lebte den Büchern. Sie las vom Morgen zum Abend, hörte Vorlesungen und trieb Sprachstudien. Sie hatte auch kochen lernen wollen, aber nicht nur, daß sie sich ganz talentlos zeigte, Marquart hatte die Bemerkung gemacht, es sei lächerlich, daß eine Frau wie sie kochen lernen wolle, sie habe es doch nicht nötig, sie solle lieber Latein und Griechisch lernen. Die Kinder hatten ihre zahlreichen Stunden wie sonst; Lux ging ins Gymnasium.

Die Tage vergingen in einer Art von Schweigen.

Marquart kam gelegentlich zu kurzem Besuch. Seine Frau hatte eine leidenschaftliche Freundschaft für Johanna gefaßt. Sie zog sie an sich, wenn sie kam, und ließ sich erzählen und erzählte. Sie war oft leidend und klagte über ihre Nerven, und über die Träume, die sie in ihren Nächten quälten. Am liebsten redete sie von Musik und von der Herrlichkeit ihres Gatten. Dann aber sah sie Johanna oft ängstlich an, bis die ängstlichen Augen stechend wurden, und sie fragte hastig: »Was hat mein Mann dazu gesagt?« oder »Was hat er mit Ihnen gesprochen?« oder »Will er das Buch mit Ihnen lesen?« und sogleich fuhr sie fort: »Nicht wahr, wenn er einem etwas erklärt, dann ist man wie über den Wolken in durchsichtigen Himmelslüften, wo man alle Formen und Wesen erkennt?« Und sie pries ihn wieder. Bis er hereinkam, von der Arbeit ausruhend, und sich niedersetzte und Annita seine Hand mit der ihren ergriff und beide Frauen ihm zuhörten. Manchmal kam auch jenes blonde, blauäugige Mädchen, das sie am ersten Tage bei ihm gesehen, mit ihrer Schwester, deren verblühtes Gesicht dem der Jüngeren einst ähnlich gewesen sein mußte. Die Jüngere, die, wie Johanna wußte, den ganzen Tag angestrengt in einem Kontor arbeitete und sich doch für alles interessierte, Zeit zum Lesen fand, mit Freikarten ins Theater ging und an Sonntagen Annitas Kind spazieren führte, gewann Johannas ganze Sympathie. Auch sie lag vor Marquart innerlich auf den Knien, er gab ihr Bücher zum Lesen, er ging gelegentlich mit ihr in ein Museum, er bestimmte ihre Anschauungen.

Sie war mit ihm in seinem Zimmer gewesen, während Johanna bei Frau Marquart saß. Nun kam sie hereingestürmt.

»Dieses Bild – dieses Bild hat mir dein Mann geschenkt! Hör nur, Annie, sieh nur!«

Es war sein eigenes Bild.

»Nein, Sie Räuberin, nein – gleich geben Sie es zurück, ungehorsames Kind!«

Aber das Mädchen lief durch die Stube, und er hinter ihr her und durch die offene Tür ins Nebenzimmer und fing sie und entwand ihr das Bild.

»Hier, Annita, hast du es wieder, nimm es.«

»Oh, gib es ihr doch«, sagte Annita.

»Euer Beider Bilder muß ich bekommen«, rief Hedwig und griff danach, dabei stieß sie an den Schreibtisch, und ein Schauer von Photographien fiel nieder. Johanna half sie aufheben.

»Wessen Bild ist das?« fragte sie und hielt das Blatt, das ihr auffiel, in die Höhe so, daß die andern es sehen konnten.

»Eine Schülerin meines Mannes, Maria Hogerath, jetzt Frau Professor Schneider«, und wieder kam der stechende Ausdruck in Annitas Augen.

»Ach ja, ich habe schon einmal gefragt«, sagte Johanna, »und die Kleine ist ihre Schwester? Nein, wie böse dieses Kind dreinschaut!«

»Es ist auch ein ganz eigentümliches Mädchen«, sagte Marquart, einen Augenblick sinnend, »und hat eine traurige Kindheit gehabt. Sehr schwer zu behandeln. Ein Kind, das immer die Wahrheit verlangte und sie doch nicht verstehen konnte. Es ist eine schwere Frage, wann man den Kindern den Blick in die Wirklichkeit gestatten darf.«

»Gute Bücher!« sagte Annita. »Du gibst deinen Schülerinnen die richtigen Bücher.«

»Die Bücher sind nicht die Welt: sie sind ein Traumreich. Wer kann den ganzen verhängnisvollen Einfluß ermessen, den die Bücher auf unsere Zeit ausüben? Was soll das Lesen ungezählter Liebesgeschichten? Ist das nicht eine Krankheit? Kein Buch kann das Leben darstellen, keines kann es ersetzen!«

Johanna erhob sich verwirrt: »Ist dann mein ganzes Lesen und Lernen unnütz?« fragte sie.

»Nein, nein!« antwortete Marquart lächelnd, »aber Sie dürfen nicht glauben, daß die Bücher das Leben sind. Und Befreiung ist nur im Leben!«

»Befreiung!« sagte Annita mit tonloser Ironie.

»Ich meine ganz etwas Andres«, fuhr Marquart fort ... »für uns Menschen von heute hat das Leben freilich nur Ketten, aber es wird eine andre Zeit kommen, – eine Zeit der Freiheit und Schönheit. Sie bereitet sich seit Jahrtausenden vor, diese Zeit ...« Marquart erhob sich mit einer heftigen Geste. »Die Puppe formt sich im Gespinst! –«

»Das alles ist heute verhüllt«, fuhr er fort ... »aber man wird es erkennen, die Trägen werden sich vor dem Feuer fürchten – natürlich! – natürlich! – aber die Andern werden jubeln ... sie ist näher, als wir glauben, diese Zeit! Man muß es aussprechen.«

Er versank in tiefes Sinnen – seine Augen sahen alle starr an, aber er schien sich des gar nicht bewußt zu sein. Jetzt stand er auf und ging, die Hand am Kinn, mit großen Schritten durch das Zimmer.

»Wir wollen es hören – wir wollen nicht warten, bis Sie Ihr Buch schreiben«, rief Hedwig Lederer.

»Du findest ja doch nie Zeit dazu«, sagte Annita grämlich. »Und wenn er es sagt, wer wird ihn verstehen?!«

Marquart wendete sich an sie. »Warum hat Wagner das nicht ergriffen ... warum ist er auf dem Weg umgekehrt – zur Entsagung und zum Christentum zurück?«

Weder Annita noch sonst jemand wußte, was er meinte, Johanna am wenigsten, aber alle vier warteten gespannt.

»Erinnerst du dich, Annita, und Sie, Hedwig: im Staat Platos, – übrigens sagt die Legende vom Paradies und andre Bibelstellen dem Eingeweihten dasselbe: – aber die Menschen verballhornen jede Lehre! – Die große Freiheit der Edelsten ... der Menschen, deren Wesen Gold und Silber ist ...! Ihnen ist alles gestattet: selbst die Gemeinschaft der Weiber! Das heißt die Freiheit der Sinne!!! Denn sie sind den Göttern gleich ... ihre Instinkte sind schaffende! Wer versteht das? Das ist ein Symbol für alle Zeit: die goldenen und silbernen sind frei: die andren Knechte ... Da kam das Christentum und wollte die Herren den Knechten gleich machen, um der Gleichheit willen ... Die neue Lehre wird die Knechte den Herren gleich machen, um der Freiheit willen. Versteht ihr das?«

Er sah sich heftig um, das enge, dämmernde Zimmer schien auf ihm zu lasten – seine starken Lippen zuckten vor Erregung, als er sprach:

»Es darf nur goldene und silberne Menschen geben! Das ist das wiedergewonnene Paradies ... daß sie frei werden vom Gesetz und in der Liebe leben ... der Liebe im großen Sinn ... in jedem Sinn ... denn die Liebe ist zuletzt alles ... Oh, die Unschuld der Sinne und der Seele – wer begreift sie?!! Ich werde ein »Mysterium« schreiben, Annita ... »Magnum Mysterium« werde ich es nennen ... Der erste Mensch wird darin auftreten ... er ist Eins ... er ist hermaphroditisch ... Das ist der Sinn der Rippe ... Die Flamme spaltet die ganze Natur ... die Schlange ... der Sinn der Schlange wird klar! Nein, das kann ich euch jetzt nicht sagen! ...«

Er sprach aber fort; nicht von seiner Dichtung, sondern von der Freiheit und von der Ehe; ganz neue merkwürdige Dinge hörte Johanna da. Sie sah nach den andren Frauen.

Hedwigs Schwester hatte den Kopf auf die Seite gelegt und lauschte Marquarts Worten, zwischen Entzücken und Mißbilligung schwankend. Hedwig hatte sich über Annita gebeugt und hielt sie zärtlich umschlungen. Auch Johanna hatte die Augen bisher nicht von ihm gewandt, sie begriff ihn nicht immer ganz, aber sie war verwirrt und ergriffen. Sie wandte ihren Blick auf Annita – da sah sie einen finster geschlossenen, leidenden Mund, der sich allmählich zu einem bitteren Lächeln verzog.


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