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IV

Am nächsten Morgen sah er Elinor nicht. Maria ging blaß und aufgeregt durch das Haus. Sie hatte von Elinor keine Erklärung erlangen können, sie vergeblich darum beschworen. »Es werde sich alles lösen,« hatte Elinor immer wieder geantwortet. Dabei saß sie unbeweglich oder ging in ihrem Zimmer auf und ab, schweigend und rastlos ... »Sie wird krank werden – sie muß krank werden,« dachte Maria.

Sie beobachtete Lux, der ihr gegenüber saß und eine Zigarette nach der andern rauchte. Maria rauchte gleichfalls und während sie die blauen Wölkchen emporblies, überlegte sie unruhig, ob sie mit ihm reden sollte? Vielleicht war es doch nur ein Liebesmißverständnis, das sich lösen würde, an das man nicht rühren durfte.

Später am Tage sprach sie mit Gulbrandson, übergab ihm Elinors Brief – suchte ihm klar zu machen, daß eine ganz haltlose Sache, die nur seine Hartnäckigkeit und der starre Wille der verstorbenen Frau künstlich herbeigeführt, nun von selbst auseinanderfalle. Er ward ganz blaß und verlangte eine Unterredung mit Elinor. Maria wollte sie verweigern: es sei eine nutzlose Aufregung für beide.

»Ich muß darauf bestehen, Fräulein Elinor selbst zu sprechen,« sagte er, und Elinor fand seine Forderung gerecht. Sie ging in den Salon hinab.

Gulbrandson zitterte vor Erregung. Er legte die Hände an einander, während er sprach, oder breitete sie aus, sah bald zur Decke und bald zum Boden, sie selbst sah er beinahe nie an. Aber er sprach und sprach: von dem Wunsch der Verstorbenen, von Elinors gegebenem Wort, ihren Ausgaben, ihrer Seele ... Seine Lippen waren blaß und seine Augen weit geöffnet ...

»Es sei alles anders geworden,« sagte Elinor, »und es könne nun nicht mehr sein.«

Sie dankte ihm für sein gutes Meinen. Er lachte verzweifelt und sprach von sich selbst, daß er sie brauche, auf sie gerechnet ... auf ihr Wort gebaut habe ...

Sie zitterte und begann zu fürchten, daß sie ihm Unrecht getan. Sie blickte in die Vergangenheit – die Zeit lebendigen Todes, in der sie sich mit ihm verlobt hatte, und wie sie dann daran festgehalten ... Da half er ihr, sich zu befreien.

»Er durchschaue alles,« sagte er, »und werde die gegen ihn gerichteten Intrigen durchkreuzen.«

Elinor stand auf; Maria, die im Nebenzimmer, als er laut ward, seine Worte hörte, fand, daß es genug sei, sie trat ein und sagte ihm, der Wagen stehe bereit, er möge abreisen, es sei das einzig Vernünftige, was er tun könne.

»Ich habe noch nicht gepackt,« sagte Gulbrandson bleich vor Wut.

»Dann bitte, tun Sie es,« sagte Maria, »und quälen Sie Elinor nicht länger.« Sie hatte kein Mitleid mit dem Tode einer fünfjährigen Hoffnung; sie haßte ihn seit langem.

Er stand bereits an der Tür, als er wieder zurückkam und von der Unlöslichkeit des Bundes zweier Seelen zu sprechen begann, und Elinor vor dem Frevel warnte ...

»Entweder Sie gehen, Boris, oder wir tun es!«

»Fassen Sie sich, Boris,« sagte Elinor, »seien Sie edel ... ich habe immer an Sie geglaubt.«

Diese Worte wirkten außerordentlich, er war wieder Gentleman und verbeugte sich. Als er die Treppe hinaufging, kam eben auch Lux nach Hause.

Boris warf ihm einen schiefen Blick zu und wartete, aber Lux ging in sein Zimmer, das an das Gulbrandsons stieß.

Er hatte das Telegramm Johannas in der Hand, das ihre Ankunft für den nächsten Mittag anzeigte.

Als er durch die Halle gekommen war, hatte er eine sehr starke Versuchung gefühlt, eines der Jagdgewehre aus dem Glasschrank zu nehmen und sich eine Kugel durch den Kopf zu schießen.

Er mußte ingrimmig über sich selbst lachen, und die Vermessenheit, mit der er bisher durchs Leben gegangen, erschien ihm bewundernswert. »Phaeton«, sagte er sich, das »ae« mit breitem bitterem Spott aussprechend. Seine Pläne und Ziele! und diese armselige Ohnmacht des Menschen – dieser Hohn des Gottes, der ihn verriet!

Nebenan hörte er Schränke öffnen und schließen, Schubladen herausziehen und zurückstoßen.

Er setzte sich nieder, den Kopf auf die Hände stützend und starrte vor sich hin.

Man pochte an seine Türe. Gulbrandson trat ein. Er ließ seinen Blick unschlüssig durch das Zimmer gleiten, dann fragte er, ob Lux gleichfalls zu reisen gedenke ...

Lux sah ihn erstaunt an.

»Wir könnten dann nämlich zusammen reisen.«

»Nein,« sagte Lux, »ich erwarte meine Cousine ...«

»Entschuldigen Sie die Störung,« sagte Gulbrandson.

Lux machte eine gleichgültige Bewegung. Aber der andre ging noch nicht ... er schien einen Entschluß zu fassen ... endlich sagte er:

»Es ist Ihnen vielleicht bekannt, daß Fräulein Elinor ihre Verlobung mit mir aufgehoben hat ...«

»Es ist mir bekannt,« sagte Lux, ihn fest ansehend.

»Sie wissen wahrscheinlich nicht, daß sie sich durch diesen Entschluß materiell schwer schädigt?«

Lux öffnete die Augen. Dann begriff er – stand auf und wollte auf die Tür weisen ... Gulbrandson wich zurück. Lux fühlte ein scharfes Bedürfnis, ihn hinaus zu schieben oder zu tragen; aber er wollte nicht gewalttätig sein. Er sagte nur:

»Es wird am besten sein, Sie gehen.«

Gulbrandson ging. Eine Stunde später brachte die Magd Lux einen langen Brief, in dem Gulbrandson ihm schrieb, er wünsche nicht mißverstanden zu werden, und ihm die »Reinheit seines Standpunktes« auseinandersetzte.

Lux antwortete nicht. Zu Mittag speisten alle fünf Menschen miteinander. Diesmal redeten sie alle, unter einem Zwang, wie aufgezogene Uhren; sie scherzten sogar.

Onkel Wilhelm fand das Haus sehr ungemütlich, wenn er auch nicht begriff, was ihn eigentlich so störte. Er langweilte sich, keiner der beiden Herren jagte, das Wetter war schlecht, und sein Rheumatismus zeigte sich an. Sobald er hörte, daß Gulbrandson reise, beschloß er sofort, das gleiche zu tun.

Maria jauchzte, trotz all ihrer Besorgnis, als der Wagen mit den beiden fortfuhr, und sie schwenkte ihr Taschentuch wie eine Siegesfahne. Die Abreise hatte sich bis zum nächsten Vormittag verzögert.

Als die beiden Herren zur Bahn fuhren, überholten sie Lux auf dem Wege. Er grüßte nicht – er sah sie gar nicht. Herr Hogerath schüttelte den Kopf. »Merkwürdig diese jungen Leute von heutzutage«, sagte er.

Guldbrandson stimmte ihm bei, und sie fuhren weiter.

 

Lux stand auf dem Perron, als der Zug, der Johanna brachte, einfuhr. Es schien ihm allzu feige, sie allein heraufkommen zu lassen, ihr nicht entgegenzugehen, so qualvoll das war.

Sie winkte und nickte ihm freudig vom Waggonfenster zu, beruhigt, als sie ihn sah; sie war in großer Aufregung gereist, überzeugt, daß ihm ein Unglück zugestoßen war. Sie öffnete die Coupétüre – er ging ihr entgegen und nahm ihr Gepäck; an seinem Gruß bemerkte sie, daß etwas Schweres sich ereignet hatte. Noch mehr erschreckte sie sein Aussehen, seine Augen waren gerötet und von tiefen Ringen umgeben ... seine Stimme war ernst und unterdrückt.

Aus dem Wirbel der ersten Tage hatte er auch innerlich eine gewisse Beherrschung wiedergefunden.

»Was ist denn, Lux? warum habt ihr telegraphiert?«

»Du wirst es erfahren. – Willst du jetzt nicht ausruhen und etwas essen?«

Der Wagen, der Guldbrandson und Wilhelm Hogerath heruntergefahren, hatte den Auftrag gehabt, auf sie zu warten; die Pferde waren eingestellt.

Sie gingen beide in den Gasthof gegenüber. Sie hob ihr Gesicht ihm entgegen, und er küßte sie.

Da erst gingen ihre Furcht und ihr Schrecken andre Wege – sie begann etwas zu ahnen.

»Lux!« rief sie ...

»Johanna!« – Die Stimme, die ihr antwortete, sagte genug.

Sie wollte Klarheit. Er nickte: »Wir können einander nicht belügen.«

»Nein, nur nicht lügen!« gab sie zurück.

Aber in dem Augenblick, da er ihr ins Angesicht sah und reden wollte, stand er schreckenstarr ... was wollte er ihr denn sagen? ihr, Johanna, der Frau, die vor ihm stand? ... Es schien so lächerlich, – die Tatsache selbst solch eine beschämende Vernichtung seines Wesens, solch eine Widerlegung alles dessen, was er für groß, für heilig angesehen.

Und sie stand noch immer da ... ein wenig zitternd, blaß, und wartete ... Es war wie wenn man sich im Traum, schwebend, weit, weit von jemandem entfernen fühlt.

Sie war noch nahe; und er hätte gern den Kopf in ihre Hände gelegt und geweint ... aber er hielt starr an sich. Es hieß leiden und ihr das Unglaubliche sagen, daß es zu Ende war, daß er ein andres Weib lieb gewonnen hatte, daß all die süße Intimität zu Ende war. Die Gewalt, die er sich antun mußte, um überhaupt zu reden, ließ seine Worte schroff, fast beleidigend klingen. Sie hörte nur den Namen Elinor und das zwischen ihr und Lux etwas vorgefallen war ... »Liebe?« – war das Lux, der so sprach, oder kamen die Worte irgend wo von weither? sprach ein Wahnsinniger zu ihr?

Sie hob die Hand mit einer ihm wohlbekannten Bewegung, als ob sie etwas von sich wegstreifen wollte – aber sie hielt mitten darin inne und setzte sich nieder. »Sag alles!« sagte sie leise.

Und er erzählte, was er erzählen konnte, Dinge ohne Zusammenhang; daß es ebenso war! daß es gekommen war und dastand – ... aber er vermochte nicht die Worte zu sprechen: »Ich liebe dich nicht mehr.« Ja ihm schien es, als ob sie eine Lüge gewesen wären.

Und als er sie weißer und weißer werden sah, da ertrug er es nicht. Die ganze wunderbare Zeit tauchte wieder vor ihm empor, alle die Wonnen gemeinsamer Stunden, gemeinsamen Wagens, alles, was sie ihm gegeben, wie sie ihn zum Manne und frei gemacht – all die tiefe gegenseitige Lust und das tiefe Verstehen, die Vertrautheit ihrer Wesen. Und wie er sie vor sich stehen sah, mit dem Ausdruck herben Duldens und unerträglicher Qual, da faßte er ihre Hand und küßte sie und sagte:

»Es kann nicht sein, daß wir uns trennen.«

»Nein, das kann nicht sein,« erwiderte sie. »Das arme Kind! das arme Kind! Ich hätte das fürchten sollen ... ich will sogleich zu ihr.«

Er ließ die Pferde anschirren, und sie fuhren im Schweigen. Der Regen hatte aufgehört, es war ein milder grauer Herbstnachmittag. Die welken Blätter der Buchen lagen in Mengen längs dem Rande der Straße und erzählten vom Ende des Sommers, dem fallenden Jahr.

Er sah düster vor sich hin, es war ihm klar, daß er Elinor lassen mußte. Aber Johanna schien ihm noch nicht alles begriffen zu haben. – Sie schien nie aufhören zu wollen, diese Fahrt; wie überhaupt in diesen Tagen nichts endete ... War es wirklich erst eine Woche, daß er von Johanna Abschied genommen – daß er leichten Herzens diese Straße emporgefahren, daß er im Walde die weißen Hühner und das Bauernmädchen, das den Kinderwagen zog, gesehen hatte? Sein Herz zog sich furchtbar zusammen.

Sie kamen an, die Räder rollten knirschend über die aufgeweichte Straße, längs dem dunklen spiegelnden Wasser und dem gelblichen Grün der Wiesen hin. Die Hufe der Pferde schlugen die Erde leise ...

Johanna sah das weiße Haus wieder, in dem sie vor sechs Jahren als Gast gewesen. Es lag ruhig und gleichsam gelassen sie erwartend in der Abendluft, die schroffe Wand erhob sich drohend hinter ihnen ... hier hatte all die Zeit hindurch das Schicksal ihrer gewartet.

Auf der Schwelle standen die Worte geschrieben, die sie früher nie bemerkt hatte:

»Dei nemici mi guarderó io
Degli amici mi guardi Iddio!«

Maria kam eben vom See herauf in einem weiten grauen, flutenden Gewand; ihre zierlichen, lilafarbenen Schuhe aus rauhem Stoff wurden bei jedem Schritte anmutig sichtbar. Immer lag das Verschwiegene ihres Schicksals in ihrem Angesicht. Jetzt schien es eine Maske zu sein. Sie stand stille, und sah die beiden aus dem Wagen steigen. Dann kam sie langsam näher und begrüßte sie als die Hausfrau, mit kalter Liebenswürdigkeit. In diesem Augenblick hatte sie alles erraten.

Johanna stieg die Treppen hinauf, ging in Elinors Zimmer und blieb mit ihr allein.

Mehr als eine Stunde verging, ehe Elinor die Türe öffnete und beide Frauen mit verweinten Augen wieder heraustraten. Dann blieb Maria bei Elinor.

»Wir werden heute hier übernachten,« sagte Johanna zu Lux, »und morgen früh fortfahren. – Wohin?« Sie seufzte tief.

»Ich will lieber heute fort als morgen,« antwortete er.

»Ich auch. Aber die Pferde sind zu müde. Und es ist zu spät.«

»Wir können noch heute Nacht hinunter gehen. Ich wenigstens. Bleibe du hier. Ich gehe.«

Er sah ein, daß es anders nicht möglich war, als daß er ging – aber wie es möglich war, begriff er nicht. Dann aber nur keinen Abschied nehmen.

»Du mußt etwas essen. Lux,« rief Johanna. »So lasse ich dich nicht fort ...« Sie wollte selbst zur Küche. Da kam auch bereits Maria herab.

Lux ging auf sie zu, wollte sie fragen – aber sie wendete sich kalt und feindselig von ihm ab.

Als er allein im Salon wartete, hörte er ein Geräusch und sah Elinor neben dem Vorhang stehen. Sie sah ihn lange an, aber sie sprach kein Wort.

»Elinor!« preßte er zwischen den Lippen hervor.

Sie nickte. »Wir lieben einander für heute und immer,« sagte er leise, »wenn es auch jetzt nicht anders sein kann. Die Welt ist furchtbar ohne dich, Elinor. – Ich darf Johanna nicht lassen ...«

Sie nickte wieder, wie abwesend. Er fühlte, es brannten unsichtbare Flammen unter dem Boden, um den Vorhang, züngelten zur Decke des Zimmers, – er fühlte, daß es eine unwiederbringliche Minute war, und daß er sich nicht einen Augenblick länger beherrschen konnte. Er machte eine Bewegung auf Elinor zu – er sah, wie sie erbebte, die Augen senkte und wieder scheu zu ihm aufschlug ... da hörte er die Schritte und die Stimmen der beiden andern Frauen.

»Leb wohl, Elinor,« sagte er und ging, ohne auch nur ihre Hand zu berühren.

Wieder schritt er die Bergstraße hinunter – bei dem matten Licht der Sterne durch die kühle Herbstnacht ... Im Gasthause angekommen versank er, von der Aufregung und Mühe der Tage und den schlummerlosen Nächten erschöpft, in schweren tiefen Schlaf, aus dem er erst spät am nächsten Tage wieder erwachte.


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