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72.
Der Junge

Aber nicht mit dem Tode wollen wir dieses Buch beschließen, es ist dem Leben geweiht, dem unbezwinglichen, immer von neuem über Schmach und Tränen, über Elend und Tod triumphierenden Leben.

Es ist Sommer, es ist der Frühsommer des Jahres 1946.

Ein Junge, ein junger Mann fast schon, kommt über den Hof einer märkischen Siedlung gegangen.

Eine ältere Frau begegnet ihm. »Na, Kuno«, fragt sie. »Was gibt's heute?«

»Ich will in die Stadt«, antwortet der Junge. »Ich soll unsern neuen Pflug abholen.«

»Na«, sagt sie, »ich schreibe dir noch auf, was du mir mitbringen kannst – wenn du's kriegst!«

»Wenn's nur da ist, dann kriege ich es auch schon, Mutter!« ruft er lachend. »Das weißt du doch!«

Sie sehen sich lachend an. Dann geht sie ins Häuschen zu ihrem Mann, dem alten Lehrer, der längst das Pensionsalter hat, und der noch immer seine Kinder lehrt – wie der Jüngste.

Der Junge zieht das Pferd Toni, ihrer aller Stolz, aus dem Schuppen.

Eine halbe Stunde später ist Kuno-Dieter Borkhausen auf dem Weg zur Stadt. Aber er heißt nicht mehr Borkhausen, Rechtens und mit allen Formalitäten ist er von den Eheleuten Kienschäper adoptiert, damals, als es klarwurde, daß weder Karl noch Max Kluge aus dem Kriege heimkehren würden. Übrigens ist auch der Dieter bei dieser Gelegenheit ausgemerzt: Kuno Kienschäper klingt ausgezeichnet und ist völlig genug.

Kuno pfeift vergnügt vor sich hin, während der Braune Toni langsam in der Sonne den ausgefahrenen Feldweg entlangzuckelt.

Soll er sich Zeit lassen, zum Mittag sind sie immer wieder zurück.

Kuno sieht auf die Felder rechts und links, prüfend, fachmännisch beurteilt er den Saatenstand. Er hat viel gelernt hier auf dem Lande, und er hat – gottlob! – fast ebensoviel vergessen.

Der Hinterhof mit der Frau Otti, nein, an den denkt er fast nie mehr, und auch nicht mehr an einen dreizehnjährigen Kuno-Dieter, der eine Art Räuber war, nein, das alles gibt es nicht mehr. Aber auch die Träume von der Motorenschlosserei sind aufgeschoben, vorläufig genügt es dem Jungen, den Trecker im Dorf bei der Pflügerei trotz seiner Jugend führen zu dürfen.

Ja, sie sind schön vorangekommen, der Vater, die Mutter und er. Sie sind nicht mehr von den Verwandten abhängig, sie haben im vorigen Jahr Land bekommen, sie sind selbständige Leute mit Toni, einer Kuh, einem Schwein, zwei Hammeln und sieben Hühnern. Kuno kann mähen und pflügen, er hat vom Vater das Säen gelernt und von der Mutter das Hacken. Das Leben macht ihm Spaß, er wird den Hof schon in die Höhe bringen, das tut er!

Er pfeift.

Am Straßenrand richtet sich eine verwahrloste, lange Gestalt auf, zerlumpt der Anzug, verwüstet das Gesicht. Das ist keiner der unseligen Flüchtlinge, das ist ein Verkommener, ein Penner, ein Lump. Die versoffene Stimme krächzt: »He, Jung, nimm mich mit in die Stadt!«

Kuno Kienschäper ist beim Klange dieser Stimme zusammengezuckt. Er möchte aus dem behaglichen Toni einen Galopp herausholen, aber dafür ist es zu spät, und so sagt er mit gesenktem Kopf: »Sitz auf – nee, nicht hier bei mir! Hinten kannst du aufsitzen!«

»Warum nicht bei dir?« krächzt der Mann herausfordernd. »Bin dir wohl nicht fein genug?«

»Schafskopp!« ruft Kuno mit angenommener Grobheit. »Weil du hinten auf dem Stroh weicher sitzt!«

Der Mann fügt sich brummend, kriecht hinten auf den Wagen, und Toni fängt jetzt an, ganz von selber zu traben.

Der Kuno hat den ersten Schreck darüber verwunden, daß er da seinen Vater, nein, ausgerechnet den Borkhausen aus dem Straßengraben auf den Wagen hat laden müssen, ausgerechnet er, ausgerechnet den! Aber vielleicht war das gar kein Zufall, vielleicht hat der Borkhausen ihm aufgelauert und weiß genau, wer ihn da fährt.

Kuno schielt über die Schulter nach dem Mann.

Der hat sich ins Stroh gestreckt und sagt jetzt, als habe er den Blick des Jungen gespürt: »Kannste mir wohl sagen, wo hier in der Drehe ein Junge wohnt, aus Berlin, so um die Sechzehn? Hier um die Drehe rum muß er wohnen ...«

»Hier um die Drehe rum wohnen noch viele Berliner!« antwortet Kuno.

»Das hab ich gemerkt! Aber das mit dem Jungen, wo ich meine, das ist ein Spezialfall – der ist nicht evakuiert damals im Kriege, der ist getürmt von seine Eltern! Haste von so 'nem Jungen mal gehört?«

»Nee!« lügt Kuno. Und nach einer Pause fragt er: »Wissen Sie denn nicht, wie der Junge heißt?«

»Na ja, der heißt Borkhausen ...«

»Einen Borkhausen gibt's hier in der Drehe nicht, das müßte ich wissen.«

»Das ist komisch!« sagt der Mann, tut, als müsse er lachen, und stößt dem Jungen die Faust schmerzhaft zwischen die Schultern. »Und ich hätt darauf geschworen, ein Borkhausen sitzt hier auf dem Wagen!«

»Da hätten Sie falsch geschworen!« antwortet Kuno, und jetzt, da die Gewißheit da ist, schlägt sein Herz ruhig und kalt. »Ich heiß nämlich Kienschäper, Kuno Kienschäper ...«

»Nee, aber so wat!« tut der Mann erstaunt. »Der, wo ich suche, heißt nämlich auch Kuno, Kuno-Dieter nämlich ...«

»Ich heiße bloß Kuno Kienschäper«, sagte der Junge. »Und dann: Wenn ich wüßte, ein Borkhausen sitzt auf meinem Wagen, dann drehte ich die Peitsche um und prügelte den Kerl so lange, bis er runter wäre von meinem Wagen!«

»Nee, so wat! Nee, so wat! Jibt's denn so wat?« wundert sich der Penner. »Ein Junge, der den eigenen Vater vom Wagen prügelt?«

»Und wenn ich den Borkhausen runtergeprügelt hätte«, fährt Kuno Kienschäper unbarmherzig fort, »dann führe ich in die Stadt zur Polizei und sagte denen: Paßt auf, ihr! Da ist ein Mann hier in der Drehe, der kann nichts wie Faulsein und Stehlen und Schaden stiften, der hat gesessen, der ist ein Verbrecher, den langt euch!«

»So wat wirste doch nich machen, Kuno-Dieter«, ruft Borkhausen nun wirklich erschrocken aus. »Du wirst mir doch nicht die Polente auf den Hals hetzen! Jetzt, wo ich endlich mal wieder raus bin aus dem Bunker und mir richtig gebessert habe? Ich hab ein Zeugnis vom Paster, ich hab mir wirklich gebessert, und ich faß nischt Verbotenes mehr an mit meine Hände, det schwör ick dir! Aber ick hab gedacht, wo du 'n Gut hast und so in der Fettlebe sitzt, daß du deinen alten Vater auch mal ein bißchen bei dir ausruhen läßt! Es jeht mir jar nich jut, Kuno-Dieter, ich hab's auf der Brust, ich muß mal 'n bißchen pausieren ...«

»Dein bißchen Pausieren, das kenn ich!« ruft der Junge erbittert aus. »Ich weiß, wenn ich dich nur für einen Tag in unser Haus lasse, so machst du dich breit und bist nicht wieder wegzukriegen, und mit dir ist Unfriede und Unglück und Schmarotzerei ins Haus gezogen. Nein, jetzt machst du, daß du von meinem Wagen runterkommst, sonst drehe ich wirklich die Peitsche um!«

Der Junge hatte den Wagen halten lassen und war von ihm abgesprungen. Jetzt stand er da, die Peitsche in der Faust, zu allem bereit, um den Frieden des neuerworbenen Heims zu verteidigen.

Der ewige Pechvogel Borkhausen sagte kläglich: »Das wirste doch nich machen! Deinen eigenen Vater wirste doch nich schlagen!«

»Du bist ja gar nicht mein Vater! Das hast du mir früher leider oft genug gesagt!«

»Det is doch een Witz jewesen, Kuno-Dieter, vasteh det doch bloß!«

»Ich hab keinen Vater!« schrie der Junge, rasend vor Zorn. »Ich hab eine Mutter, und ich fang ganz von frischem an. Und wenn da Leute kommen von früher und sagen dies und das, dann prügle ich sie so lange, bis sie mich zufrieden lassen! Ich laß mir mein Leben nicht von dir verderben!«

Er stand so drohend da mit der erhobenen Peitsche, daß der Alte wirklich Furcht bekam.

Er kroch vom Wagen und stand nun auf der Straße, feige Angst im Gesicht.

Feige drohend entgegnete er: »Ick kann dir viel Schaden machen ...«

»Darauf hab ich gewartet!« rief Kuno Kienschäper. »Auf das Betteln folgt das Drohen, so ist es immer bei dir gewesen! Aber das sage ich dir, das schwör ich dir zu: Von hier fahre ich direkt zur Polizei und erstatte Anzeige, daß du mir gedroht hast, unser Haus anzuzünden ...«

»Det ha ick ja jar nich jesagt, Kuno-Dieter!«

»Aber gedacht hast du daran, das habe ich deinen Augen angesehen! Da geht dein Weg! Und merke dir, in einer Stunde sind die von der Polizei hinter dir her! Mach also, daß du schnell fortkommst!«

Kuno Kienschäper stand noch so lange auf der Straße, bis die verschlissene Gestalt zwischen den Kornfeldern verschwunden war. Dann klopfte er dem Braunen Toni auf den Hals und sagte:

»Was, Toni, wir lassen uns von so einem nicht noch mal das Leben verpfuschen? Wir haben's neu angefangen. Wie die Mutter mich in das Wasser gesteckt und mit ihren eigenen Händen allen Dreck von mir abgewaschen hat, da hab ich mir's geschworen: Von nun an halte ich mich allein sauber! Und das wird gehalten!«

In den nächsten Tagen wunderte sich Mutter Kienschäper manches Mal, daß der Junge so gar nicht vom Hofe zu kriegen war. Sonst war er immer der erste bei der Feldarbeit gewesen, und jetzt wollte er nicht mal die Kuh auf der Weide tüdern. Aber sie sagte nichts, und der Junge sagte nichts, und als die Tage gingen in den reifen Sommer hinein und die Roggenernte anfing, da ging der Junge mit seiner Sense doch hinaus ...

Denn was man gesät hat, soll man auch ernten, und der Junge hatte gutes Korn gesät.


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