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16.
Das Ende der Frau Rosenthal

Am Sonntagmorgen wachte Frau Rosenthal mit einem Schreckensschrei aus tiefem Schlaf auf. Sie hatte wieder etwas Grausiges von dem geträumt, was sie jetzt fast in jeder Nacht heimsuchte: sie war mit Siegfried auf der Flucht. Sie versteckten sich, die Verfolger gingen an ihnen vorüber, wobei sie die so schlecht Versteckten aus den Augenwinkeln zu verhöhnen schienen.

Plötzlich fing Siegfried an zu laufen, sie hinter ihm drein. Sie konnte nicht so schnell laufen wie er. Sie rief: »Nicht so schnell, Siegfried! Ich komme nicht mit! Laß mich nicht allein!«

Er hob sich von der Erde, er flog. Flog erst ein wenig über dem Pflaster, dann hob er sich immer höher, nun entschwand er über den Dächern. Sie stand allein auf der Greifswalder Straße. Ihre Tränen liefen. Eine große, riechende Hand legte sich erdrückend vor ihr Gesicht, eine Stimme flüsterte an ihrem Ohr: »Olle Judensau, hab ich dich endlich?«

Sie starrte nach der Verdunkelung vor den Fenstern, an den Spalten sickerte Tageslicht hinein. Die Schrecken der Nacht entwichen vor denen des Tages, der ihr bevorstand. Es war schon wieder Tag! Wieder hatte sie den Kammergerichtsrat verschlafen, den einzigen Menschen, mit dem sie sprechen konnte! Sie hatte sich fest vorgenommen, wach zu bleiben, und nun war sie doch wieder eingeschlafen! Wieder einen Tag allein, zwölf Stunden, fünfzehn Stunden! Oh, sie hielt das nicht mehr aus! Die Wände dieses Zimmers stürzten über ihr zusammen, immer das gleiche bleiche Gesicht im Spiegel, stets wieder dasselbe Geld zählen – nein, so ging es nicht weiter. Das Schlimmste war nicht so schlimm wie dieses tatenlose Eingesperrtsein.

Hastig kleidet sich Frau Rosenthal an. Dann geht sie an die Tür, sie dreht den Riegel, öffnet leise und späht auf den Flur hinaus. Alles ist still in der Wohnung, auch im Hause ist noch alles still. Die Kinder lärmen noch nicht auf der Straße – es muß noch sehr früh sein. Vielleicht ist der Rat noch in seinem Bücherzimmer? Vielleicht kann sie ihm noch guten Morgen sagen, zwei, drei Sätze mit ihm wechseln, die ihr Mut machen werden, einen endlosen Tag zu ertragen?

Sie wagt es, gegen sein Verbot wagt sie es. Sie geht rasch über den Flur und tritt in sein Zimmer ein. Sie schreckt etwas vor der Helle zurück, die durch die geöffneten Fenster hereinströmt, vor der Straße, der Öffentlichkeit, die mit dieser Luft zusammen hier jetzt herrschen. Aber noch mehr erschrickt sie vor einer Frau, die mit einem Teppichroller den Zwickauer Teppich reinigt. Sie ist eine dürre, ältere Frau; das Tuch um den Kopf, der Teppichroller bestätigen, daß sie hier die Reinemachefrau ist.

Beim Eintritt von Frau Rosenthal hat diese Frau die Arbeit unterbrochen. Sie starrt erst einen Augenblick die unerwartete Besucherin an, wobei sie die Augenlider rasch hintereinander ein paarmal zukneift, als könne sie den Anblick da nicht für ganz wirklich nehmen. Dann lehnt sie den Teppichroller gegen den Tisch und fängt an, mit Händen und Armen abwehrende Bewegungen zu machen, wobei sie von Zeit zu Zeit ein scharfes »Sch! Sch!« ausstößt, als scheuchte sie Hühner.

Frau Rosenthal, schon im Rückzug, sagt flehend:

»Wo ist der Kammergerichtsrat? Ich muß ihn einen Augenblick sprechen!«

Die Frau kneift die Lippen eng zusammen und schüttelt heftig den Kopf. Dann beginnt sie wieder mit ihren Scheuchbewegungen und dem »Sch! Sch!«, bis Frau Rosenthal ganz in ihr Zimmer zurückgewichen ist. Dort sinkt sie, während die Reinemachefrau leise die Tür schließt, an ihrem Tisch in den Sessel und bricht fassungslos in Tränen aus. Alles umsonst! Wieder ein Tag, der sie nur zum einsamen, sinnlosen Warten verurteilt! Viel geschieht in der Welt, vielleicht stirbt jetzt gerade Siegfried oder eine deutsche Fliegerbombe tötet ihr die Eva – sie aber muß hier immer weiter im Dunkeln sitzen und nichts tun.

Sie schüttelt unwillig den Kopf: Sie macht dies einfach nicht mehr mit. Sie macht es nicht! Wenn sie unglücklich sein soll, wenn sie denn ewig gehetzt und in Angst leben soll, so will sie dies auf ihre Art tun. Möge sich denn diese Tür für immer hinter ihr schließen, sie kann es nicht hindern. Sie war gut gemeint, diese Gastfreundschaft, aber sie tut ihr nicht gut.

Als sie wieder an der Tür steht, besinnt sie sich. Sie geht wieder an den Tisch zurück und nimmt das dicke, goldene Armband mit den Saphiren. Vielleicht so ...

Doch in dem Arbeitszimmer ist die Frau nicht mehr, die Fenster sind schon wieder geschlossen. Frau Rosenthal steht abwartend auf dem Flur, nahe der Ausgangstür. Dann hört sie Tellergeklapper, und sie folgt diesem Geräusch, bis sie die Frau in der Küche beim Abwaschen findet.

Sie hält ihr flehend das Armband hin und sagt stockend: »Ich muß den Kammergerichtsrat wirklich sprechen. Bitte, bitte doch!«

Die Bedienerin hat bei der neuerlichen Störung die Stirn gerunzelt. Nur einen flüchtigen Blick wirft sie auf das hingehaltene Armband. Dann beginnt sie wieder zu scheuchen, mit rudernden Armbewegungen und »Sch! Sch!«, und vor diesem Scheuchen flieht Frau Rosenthal in ihr Zimmer. Sie stürzt geradezu auf ihren Nachttisch zu, sie nimmt aus der Lade das ihr vom Kammergerichtsrat verordnete Schlafmittel.

Sie hat bisher diese Schlafmittel nie gebraucht. Nun schüttet sie alle, zwölf oder vierzehn an der Zahl, in ihre hohle Hand, geht zum Waschtisch und spült sie mit einem Glas Wasser hinunter. Sie muß heute schlafen, sie will heute den Tag verschlafen ... Dann wird sie abends den Kammergerichtsrat sprechen und hören, was zu tun ist. Sie legt sich angekleidet auf das Bett, zieht die Decke nur leicht über sich. Still auf dem Rücken liegend, die Augen zur Decke gerichtet, wartet sie auf den Schlaf.

Und er scheint wirklich zu kommen. Die quälenden Gedanken, die immer gleichen Schreckbilder, die von der Angst in ihrem Hirn geboren werden, sie verschwimmen. Sie schließt die Augen, ihre Glieder entspannen sich, werden schlaff, sie hat sich schon fast hinübergerettet in ihren Schlaf ...

Da ist es, als hätte sie auf der Schwelle zu diesem Schlaf eine Hand zurückgestoßen ins Wachen. Sie ist förmlich zusammengeschreckt, solch einen Ruck hat es ihr gegeben. Ihr Körper ist zusammengezuckt wie in einem plötzlichen Krampf ...

Und wieder liegt sie, die Decke anstarrend, auf dem Rücken, die ewig gleiche Mühle dreht die ewig gleichen Qualgedanken und Angstbilder in ihr. Dann – allmählich – wird das schwächer, die Augen schließen sich, der Schlaf ist nahe. Und wieder auf seiner Schwelle der Stoß, der Ruck, der Krampf, der ihren ganzen Körper zusammenzieht. Wieder ist sie vertrieben aus der Ruhe, dem Frieden, dem Vergessen ...

Als sich das drei- oder viermal wiederholt hat, gibt sie es auf, den Schlaf zu erwarten. Sie steht auf, geht langsam, ein wenig taumelig, mit hängenden Gliedern an den Tisch und setzt sich. Sie starrt vor sich hin. Sie erkennt in dem Weißen, das vor ihr liegt, den Brief an Siegfried, den sie vor drei Tagen begann, der nicht über die ersten Zeilen hinauskam. Sie sieht weiter: sie erkennt die Scheine, die Schmucksachen. Dort hinten steht auch das Tablett mit dem ihr bestimmten Essen. Sonst hat sie sich morgens völlig ausgehungert darübergestürzt, jetzt mustert sie es mit gleichgültigem Blick. Sie mag nicht essen ...

Während sie dort so sitzt, ist ihr dunkel bewußt, daß die Schlafmittel doch eine Veränderung in ihr hervorgerufen haben: wenn sie ihr auch keinen Schlummer schenken konnten, so haben sie ihr doch die jagende Unruhe des Morgens genommen. Sie sitzt nur so da, manchmal ist sie auch im Sessel beinahe eingenickt, dann fährt sie wieder hoch. Einige Zeit ist vergangen, ob viel oder wenig, das weiß sie nicht, aber einige Zeit von diesem Schreckenstag ist doch wohl fort ...

Dann, später, hört sie einen Schritt auf der Treppe. Sie fährt zusammen – in einem Augenblick der Selbstbeobachtung sucht sie sich darüber klarzuwerden, ob sie von diesem Zimmer aus überhaupt hören kann, wenn jemand auf der Treppe geht. Aber diese kritische Minute ist schon wieder vorbei, und sie lauscht nur angespannt auf den Schritt im Treppenhaus, den Schritt eines Menschen, der sich mühsam treppauf schleppt, immer wieder innehaltend, dann, nach einem Hüsteln, sich wieder am Treppengeländer hochziehend.

Jetzt hört sie nicht nur, jetzt sieht sie auch. Sie sieht Siegfried ganz deutlich, wie er sich da durch das noch stille Treppenhaus in ihre Wohnung hinaufschleicht. Sie haben ihn natürlich wieder mißhandelt, um seinen Kopf liegen ein paar hastig geschlungene Binden, die schon wieder durchblutet sind, und sein Gesicht ist wund und fleckig von ihren Faustschlägen. So schleppt sich Siegfried mühselig die Treppen hinauf. In seiner Brust krächzt und orgelt es, in dieser Brust, die von ihren Fußtritten verletzt ist. Sie sieht Siegfried um den Treppenabsatz herum entschwinden ...

Eine Weile sitzt sie noch so da. Bestimmt denkt sie an gar nichts, auch nicht an den Kammergerichtsrat und das mit ihm Vereinbarte. Sondern sie muß da oben in die Wohnung – was soll Siegfried denken, wenn er sie leer findet? – Aber sie ist so schrecklich müde, und es ist fast unmöglich, aus dem Sessel hochzukommen!

Dann steht sie doch wieder da. Sie nimmt das Schlüsselbund aus der Handtasche, greift nach dem Saphirarmband, als sei es ein Talisman, der sie beschützen kann – und langsam und taumelig geht sie aus der Wohnung. Die Tür fällt hinter ihr zu.

Der nach langem Bedenken von seiner Bedienerin doch endlich geweckte Kammergerichtsrat kommt zu spät, um seinen Gast von diesem Ausflug in eine zu gefährliche Welt abzuhalten.

Der Rat steht einen Augenblick in der leise wieder geöffneten Tür, er lauscht nach oben, er lauscht nach unten. Er hört nichts. Dann, als er doch etwas hört, nämlich den raschen, energischen Schritt von Stiefeln, zieht er sich wieder in seine Wohnung zurück. Aber er verläßt den Ausguck an der Tür nicht. Sollte es doch noch eine Möglichkeit geben, diese Unselige zu retten, er wird ihr doch noch einmal trotz aller Gefahr seine Tür öffnen.

Frau Rosenthal hat es gar nicht gemerkt, daß sie auf der Treppe an jemand vorüberging. Sie hat nur den einen Gedanken, möglichst rasch die Wohnung mit Siegfried zu erreichen. Aber der HJ-Führer Baldur Persicke, der eben zu einem Morgenappell will, bleibt völlig verblüfft, mit offenem Munde auf der Treppe stehen, als diese Frau, ihn fast anstoßend, an ihm vorüberging. Die Rosenthal, die tagelang verschwundene Rosenthal an diesem Sonntagmorgen unterwegs, in einer dunklen gestickten Bluse ohne Judenstern, ein Schlüsselbund und ein Armband in der einen Hand, mit der andern sich mühsam am Treppengeländer hochziehend – so besoffen ist die Frau! Am frühen Sonntagmorgen schon so besoffen!

Einen Augenblick steht Baldur noch so da, in völliger Verblüffung. Aber als Frau Rosenthal um die Treppenkehre herum verschwunden ist, finden seine Gedanken sich zurück, und sein Mund schließt sich. Er hat das Gefühl, jetzt ist der richtige Augenblick gekommen, jetzt darf er nur nichts falsch machen! Nein, diesmal wird er die Sache allein erledigen, weder die Brüder noch der Vater noch ein Borkhausen sollen sie ihm versauen.

Baldur wartet noch, bis er sicher ist, daß Frau Rosenthal jetzt schon die Quangelsche Wohnung erreicht hat, dann geht er leise in die elterliche Wohnung. Dort schläft noch alles, und das Telefon hängt auf dem Flur. Er hebt ab und dreht die Scheibe, dann verlangt er einen bestimmten Apparat. Er hat Glück: trotz des Sonntags bekommt er die Verbindung und auch den richtigen Mann. Er sagt kurz, was zu sagen ist; dann rückt er sich einen Stuhl an die Tür, öffnet sie einen Spalt und macht sich geduldig darauf gefaßt, eine halbe oder auch eine Stunde Wache halten zu müssen, damit der Vogel nicht wieder entwischt ...

Bei Quangels ist nur erst Anna wach, leise wirtschaftet sie in der Wohnung. Zwischendurch sieht sie nach Otto, er schläft noch immer ganz fest. Er sieht müde und gequält aus, selbst jetzt im Schlaf. Als ließe ihm irgend etwas keine Ruhe. Sie steht da und sieht nachdenklich in das Gesicht des Mannes, mit dem sie fast drei Jahrzehnte Tag für Tag zusammen gelebt hat. Sie hat sich längst an dieses Gesicht gewöhnt, das vogelscharfe Profil, der dünne, fast stets geschlossene Mund – das erschreckt sie nicht mehr. So sieht eben der Mann aus, dem sie ihr ganzes Leben geweiht hat. Es kommt nicht auf das Aussehen an ...

Aber an diesem Morgen scheint ihr doch, als sei das Gesicht noch schärfer geworden, der Mund noch schmaler, als hätten sich die Falten von der Nase her noch mehr vertieft. Er hat Sorgen, schwere Sorgen, und sie hat es versäumt, rechtzeitig mit ihm darüber zu sprechen, ihm die Last tragen zu helfen. An diesem Sonntagmorgen, vier Tage, nachdem sie die Nachricht vom Tode des Sohnes bekommen hat, ist Anna Quangel wieder fest davon überzeugt, nicht nur, daß sie bei diesem Manne wie bisher auszuhalten hat, sondern daß sie auch im Unrecht war, überhaupt erst mit dieser Trotzerei anzufangen. Sie hätte ihn besser kennen müssen: er schwieg lieber, als daß er sprach. Sie mußte ihn stets ermuntern, ihm die Zunge lösen – von selbst sprach dieser Mann nie.

Nun, heute wird er sprechen. Er hatte es ihr zugesagt, heute in der Nacht, als er von der Arbeit heimgekommen war. Anna hatte da einen schlimmen Tag hinter sich gebracht. Als er ganz ohne Frühstück losgelaufen war, als sie Stunden vergeblich auf ihn gewartet hatte, als er auch nicht zum Mittagessen erschienen war, als ihr klarwurde, jetzt hatte seine Arbeit schon begonnen, jetzt würde er bestimmt nicht mehr kommen – da war sie völlig verzweifelt gewesen.

Was war in diesen Mann gefahren, seit sie jenes vorschnelle, unbedachte Wort gesagt hatte? Was trieb ihn so ruhelos um? Sie kannte ihn doch: Seitdem sie das gesagt hatte, sann er nur darauf, ihr zu zeigen, daß der nicht »sein« Führer war. Als wenn sie es je ernstlich so gemeint hätte! Sie hätte es ihm sagen müssen, daß sie das Wort nur im ersten trauernden Zorn gesagt hatte. Sie hätte auch ganz andere Dinge sagen können gegen diese Verbrecher, die sie so sinnlos des Sohnes beraubt hatten – grade dieses Wort mußte ihr herausfahren!

Aber nun hatte sie eben grade dies gesagt, und nun lief er in der Welt umher und begab sich in alle möglichen Gefahren, um recht zu behalten, um ihr das Unrecht, das sie ihm angetan, noch ganz handgreiflich zu beweisen! Womöglich kam er gar nicht wieder. Hatte etwas gesagt oder getan, was die Werkleitung oder die Gestapo auf ihn hetzte – womöglich saß er schon im Loch! So unruhig, wie dieser ruhige Mann schon am frühen Morgen gewesen war!

Anna Quangel hält es nicht aus, so tatenlos kann sie nicht mehr auf ihn warten. Sie macht ein paar Stullen zurecht und tritt den Weg zu seiner Fabrik an. Auch darin ist sie ganz sein getreues Eheweib, daß sie selbst jetzt, wo es ihr auf jede Minute, die sie früher Gewißheit hat, ankommt, nicht die Bahn benutzt. Nein, sie geht zu Fuß – sie spart den Groschen wie er.

Vom Pförtner der Möbelfabrik erfährt sie dann, daß der Werkmeister Quangel pünktlich wie immer auf seine Arbeitsstelle gekommen ist. Sie läßt ihm durch einen Boten die »vergessenen« Stullen hineinschicken und wartet auch noch die Rückkehr des Boten ab.

»Nun, was hat er gesagt?«

»Was soll er denn gesagt haben ...? Der sagt doch nie was!«

Jetzt kann sie beruhigter nach Haus gehen. Es ist noch nichts geschehen trotz all seiner Unruhe am Morgen. Und heute abend wird sie mit ihm sprechen ...

Er kommt in der Nacht. Sie sieht seinem Gesicht an, wie müde er ist.

»Otto«, sagt sie bittend, »ich habe es doch nicht so gemeint. Nur im ersten Erschrecken ist es mir so rausgefahren. Sei nicht mehr böse!«

»Ich – böse – dir? Wegen so was? Nie!«

»Aber du willst was tun, ich spüre es! Otto, tu's nicht, stürze dich wegen so was nicht ins Unglück! Ich könnte es mir nie verzeihen.«

Er sieht sie einen Augenblick an, fast lächelnd. Dann legt er beide Hände rasch auf ihre Schultern. Schon zieht er sie wieder fort, als schäme er sich dieser raschen Zärtlichkeit.

»Was ich tun werde? Schlafen werde ich! Und morgen sage ich dir, was wir tun werden!«

Nun ist der Morgen gekommen, und Quangel schläft noch. Aber jetzt kommt es auf eine halbe Stunde mehr oder weniger nicht an. Er ist bei ihr, er kann nichts Gefährliches tun, er schläft.

Sie wendet sich ab von seinem Bett, sie macht sich wieder an ihre kleinen Hausarbeiten. –

Unterdes ist Frau Rosenthal längst bei ihrer Wohnungstür angekommen, so langsam sie auch treppauf ging. Sie ist nicht überrascht, die Tür verschlossen zu finden – sie schließt sie auf. Und auch in der Wohnung drinnen sucht sie nicht erst lange nach Siegfried oder ruft nach ihm. Auch das wüste Durcheinander beachtet sie nicht, wie sie auch schon wieder vergessen hat, daß sie ja eigentlich dem Schritt ihres Mannes folgend die Wohnung betreten hat.

Ihre Benommenheit ist in einem langsamen, unaufhaltsamen Wachsen. Man kann nicht sagen, daß sie schläft, aber sie ist auch nicht wach. Wie sie die schwer gewordenen Glieder nur langsam und unbeholfen bewegen kann, weil sie wie taub sind, so ist auch ihr Gehirn wie taub. Es kommen Bilder wie Flocken und zerrinnen auch schon wieder, ehe sie noch recht deutlich sehen konnte. Sie sitzt in der Sofaecke, die Füße auf der verschmutzten Wäsche, sie sieht sich langsam und träge um. In der Hand hält sie noch immer die Schlüssel und das Saphirarmband, das ihr Siegfried zu Evas Geburt schenkte. Der Gewinn einer ganzen Weißen Woche ... Sie lächelt ein bißchen.

Dann hört sie, wie die Flurtür vorsichtig geöffnet wird, und sie weiß: Das ist Siegfried. Jetzt kommt er. Deswegen bin ich doch hier raufgegangen. Ich will ihm entgegengehen.

Aber sie bleibt sitzen, ein Lächeln ausgebreitet auf dem ganzen grauen Gesicht. Sie wird ihn hier so sitzend empfangen, als sei sie nie fort gewesen, habe immer hier, zu seinem Empfang, gesessen.

Dann geht endlich die Tür, und statt des erwarteten Siegfried stehen drei Männer in der Tür. Schon als sie unter den dreien eine verhaßte braune Uniform sieht, weiß sie: Das ist nicht Siegfried, Siegfried ist nicht dabei. Ein bißchen Angst will sich in ihr rühren, aber wirklich nur ein ganz klein bißchen. Nun ist es endlich soweit.

Langsam schwindet das Lächeln von ihrem Gesicht, das vom Grauen ins Gelblichgrüne hinüberwechselt.

Die drei stehen jetzt direkt vor ihr. Sie hört, wie ein großer schwerer Mann in schwarzem Paletot sagt: »Nicht besoffen, mein Junge. Wahrscheinlich schlafmittelvergiftet. Wir wollen schnell mal sehen, daß wir aus ihr rausquetschen, was zu holen ist. Hören Sie mal, Sie sind Frau Rosenthal?«

Sie nickt. »Jawohl, meine Herren, Lore oder richtiger Sara Rosenthal. Mein Mann sitzt in Moabit, zwei Söhne in den USA, eine Tochter in Dänemark, eine in England verheiratet ...«

»Und wieviel Geld haben Sie denen geschickt?« fragte der Kriminalkommissar Rusch schnell.

»Geld? Zu was denn Geld? Die haben doch alle Geld genug! Zu was soll ich denen noch Geld schicken?«

Sie nickt ernst. Ihre Kinder leben alle in guten Verhältnissen. Die könnten noch ohne Mühe die Eltern ernähren. Plötzlich fällt ihr etwas ein, was sie unbedingt diesen Herren noch sagen muß. »Es ist meine Schuld«, sagt sie unbeholfen mit schwerer Zunge, die immer schwerer zu sprechen, zu lallen anfängt, »es ist allein meine Schuld. Siegfried wollte längst aus Deutschland fort. Aber ich sagte ihm: ›Warum all die schönen Sachen, das gute Geschäft hierlassen, für einen Dreck verkaufen? Wir haben nie niemandem etwas getan, uns werden sie nichts tun.‹ Ich habe ihn überredet, sonst wären wir längst weg!«

»Und wo haben Sie Ihr Geld gelassen?« fragt der Kommissar, ein wenig ungeduldiger.

»Das Geld?« Sie versucht, sich zu besinnen. Es war ja wirklich noch etwas dagewesen. Wo war es nur hingekommen? Aber das scharfe Nachdenken macht ihr Mühe, dafür fällt ihr etwas anderes ein. Sie hält das Saphirarmband dem Kommissar hin. »Da!« sagt sie einfach. »Da!«

Der Kommissar Rusch wirft einen raschen Blick darauf, dann sieht er sich nach seinen beiden Begleitern um, diesem zackigen HJ-Führer, und nach seinem ständigen Gefolgsmann, dem Friedrich, einem dicken Klotz, anzusehen wie ein Scharfrichtergehilfe. Er sieht, daß die beiden ihn gespannt beobachten. So stößt er die Hand mit dem Armband ungeduldig beiseite, er packt die schwere Frau bei den Schultern und beutelt sie ordentlich durch. »Wachen Sie jetzt endlich auf, Frau Rosenthal!« schreit er. »Ich befehle es Ihnen! Sie sollen aufwachen!«

Dann läßt er sie los: Ihr Kopf fällt hinten gegen die Sofalehne, der Körper sackt in sich zusammen – ihre Zunge lallt etwas Unverständliches. Dieses Mittel, sie wach zu machen, scheint nicht ganz richtig gewesen zu sein. Eine Weile betrachten die drei schweigend die alte Frau, wie sie da zusammengesunken hockt, das Bewußtsein scheint nicht in sie zurückzukehren.

Der Kommissar flüstert plötzlich ganz leise: »Nimm sie dir mal mit, da hinten in die Küche, und sieh, daß du sie wach kriegst!«

Der Henkersknecht Friedrich nickt nur. Er nimmt die schwere Frau wie ein Kind auf den Arm und steigt vorsichtig mit ihr über die am Boden liegenden Hindernisse fort.

Als er an der Tür ist, ruft der Kommissar noch: »Sieh, daß sie ruhig bleibt! Ich will keinen Krach haben am Sonntagmorgen in einem Mietshause! Sonst machen wir es in der Prinz-Albrecht-Straße. Ich nehme sie sowieso dahin mit.«

Die Tür klappt hinter den beiden, der Kommissar und der HJ-Führer sind allein.

Kommissar Rusch steht am Fenster und sieht auf die Straße. »Ruhige Straße das«, sagt er. »Richtiger Kinderspielplatz, wie?«

Baldur Persicke bestätigt, daß die Jablonskistraße eine ruhige Straße ist.

Der Kommissar ist ein bißchen nervös, nicht etwa wegen der Sache, die der Friedrich da mit der alten Jüdin in der Küche anstellt. I wo, solche Sachen und tollere noch entsprechen seinem Wesen. Rusch ist ein verkrachter Jurist, der den Weg zur Kriminalpolizei fand. Die gab ihn später an die Gestapo ab. Er tut gerne seinen Dienst. Er würde jeder Regierung gerne jeden Dienst getan haben, aber die zackigen Methoden dieser Regierung gefallen ihm besonders. »Bloß keine Gefühlsduselei«, sagt er manchmal zu einem Neuling. »Wir erfüllen unsere Pflicht nur dann, wenn wir unser Ziel erreichen. Der Weg dahin ist ganz egal.«

Nein, wegen der ollen Jüdin macht sich der Kommissar nicht die geringsten Gedanken, er ist wirklich frei von jeder Gefühlsduselei.

Aber dieser Junge, der HJ-Führer Persicke, paßt ihm nicht recht in den Kram. Er hat Außenseiter nicht gerne bei so was, man weiß nie genau, wie sie's aufnehmen. Freilich, dieser scheint die richtige Sorte, aber genau weiß man es immer erst nachher.

»Haben Sie gesehen, Herr Kommissar«, fragt Baldur Persicke eifrig – er will jetzt einfach nicht mehr nach der Küche hinhorchen, das ist deren Sache! »Haben Sie gesehen, sie trug keinen Judenstern?«

»Ich habe noch mehr gesehen«, sagt der Kommissar nachdenklich, »ich habe zum Beispiel gesehen, daß die Frau saubere Schuhe anhatte, und draußen ist Dreckwetter.«

»Ja«, bestätigt Baldur Persicke, noch verständnislos.

»Also muß sie einer hier im Hause versteckt gehalten haben, seit Mittwoch, wenn sie wirklich so lange nicht in der Wohnung war, wie Sie sagen.«

»Ich bin fast sicher«, fängt Baldur Persicke an, etwas beirrt durch diesen nachdenklichen, nicht von ihm ablassenden Blick.

»Fast sicher ist gar nichts, mein Junge«, sagt der Kommissar verächtlich. »Fast sicher gibt es nicht!«

»Ich bin ganz sicher!« sagt Baldur schnell. »Ich kann jederzeit beeiden, daß Frau Rosenthal seit Mittwoch nicht in ihrer Wohnung war!«

»Schön, schön«, sagt der Kommissar leichthin. »Sie wissen natürlich, daß Sie seit Mittwoch die Wohnung unmöglich allein unter Beobachtung gehalten haben können. So was nimmt Ihnen kein Richter ab.«

»Ich habe zwei Brüder in der SS«, sagt Baldur Persicke eifrig.

»Na schön«, gibt sich Kommissar Rusch zufrieden. »Es wird alles schon schiefgehen. Übrigens, was ich Ihnen noch sagen wollte, ich werde erst gegen Abend dazu kommen, hier Haussuchung zu halten. Vielleicht observieren Sie die Wohnung solange weiter? Schlüssel haben Sie ja wohl?«

Baldur Persicke versichert zufrieden, daß er das gerne tun würde. Seinen Augen war tiefe Freude anzusehen. Na also – so ging es auch, er wußte es ja, und ganz legal!

»Es wäre ja ganz gut«, sagt der Kommissar gelangweilt und sieht wieder aus dem Fenster, »wenn dann alles etwa so rumläge wie jetzt. Natürlich, für das, was in den Schränken und Koffern ist, können Sie nicht stehen, aber sonst ...«

Ehe Baldur noch antworten kann, ertönt aus dem Innern der Wohnung ein schriller, hoher Angstschrei.

»Verdammt!« sagt der Kommissar, tut aber keinen Schritt.

Bleich, mit spitzer Nase starrt ihn Baldur an, seine Knie sind weich geworden.

Der Angstschrei ist sofort erstickt, man hört nur den Friedrich fluchen.

»Was ich sagen wollte ...« fängt der Kommissar langsam wieder an.

Er spricht aber, immerfort lauschend, nicht weiter. Plötzlich sehr lautes Schimpfen in der Küche, Getrappel, Hin- und Herstampfen. Nun brüllt Friedrich sehr laut: »Willste gleich! Willste woll!«

Dann ein lauter Schrei. Noch wüsteres Fluchen. Nun wird eine Tür aufgerissen, Gestampf über den Flur, und ins Zimmer hinein brüllt Friedrich: »Was sagen Sie nun, Herr Kommissar? Grade hatte ich sie so weit, daß sie vernünftig reden konnte, springt das Aas mir doch aus dem Fenster!«

Der Kommissar schlägt ihm wütend ins Gesicht: »Gottverdammter Trottel, ich reiß dir die Kaldaunen aus dem Leibe! Los, schnell!«

Und er stürzt aus dem Zimmer, läuft die Treppen hinunter ...

»Auf den Hof doch!« ruft Friedrich flehend, während er hinterdrein läuft. »Sie ist bloß auf den Hof gefallen, nicht auf die Straße! Es wird gar kein Aufsehen geben, Herr Kommissar!«

Er bekommt keine Antwort. Alle drei laufen sie die Treppen hinunter, wobei sie sich bemühen, möglichst wenig Lärm in dem sonntagsstillen Haus zu machen. Als letzter läuft, mit einer halben Treppe Abstand, Baldur Persicke. Er hat nicht vergessen, die Wohnungstür der Rosenthals gut ins Schloß zu ziehen. Wenn ihm auch noch der Schreck in den Gliedern sitzt, weiß er doch, daß er jetzt die Verantwortung für alle die schönen Sachen dort hat. Da darf nichts fortkommen!

Die drei laufen an der Wohnung der Quangels vorbei, an der von den Persickes, an der vom Kammergerichtsrat a. D. Fromm. Nur noch zwei halbe Treppen, und sie sind auf dem Hof.

Otto Quangel war unterdes aufgestanden, hatte sich gewaschen und sah seiner Frau in der Küche zu, wie sie das Frühstück fertigmachte. Nach dem Frühstück würden sie miteinander sprechen, vorläufig hatten sie nur einen Guten-Morgen-Gruß gewechselt, aber einen freundlichen.

Plötzlich schrecken sie beide zusammen. In der Küche über ihnen ist Geschrei, sie lauschen, eines das andere gespannt und besorgt ansehend. Dann wird für Sekundenschnelle das Küchenfenster verdunkelt, etwas Schweres scheint vorbeizustürzen – und nun hören sie es schwer aufschlagen auf dem Hof. Unten schreit jemand auf – ein Mann. Und Totenstille.

Otto Quangel reißt das Küchenfenster auf, fährt aber zurück, als er Gepolter auf der Treppe hört.

»Steck du mal schnell den Kopf raus, Anna!« sagt er. »Sieh, ob du was sehen kannst. Eine Frau fällt bei so was weniger auf.« Er faßt sie bei der Schulter und drückt sie sehr stark. »Schrei nicht!« sagt er befehlend. »Du sollst nicht schreien! So, mach das Fenster wieder zu!«

»Gott, Otto!« ächzt Frau Quangel und starrt ihren Mann mit weißem Gesicht an. »Die Rosenthal ist aus dem Fenster gestürzt. Sie liegt unten auf dem Hof. Der Borkhausen steht bei ihr und ...«

»Still!« sagt er. »Jetzt still! Wir wissen von nichts. Wir haben nichts gesehen und nichts gehört. Bring den Kaffee in die Stube!«

Und drinnen noch einmal, mit Nachdruck: »Wir wissen nichts, Anna. Haben die Rosenthal fast nie gesehen. Und nun iß! Iß, sage ich dir. Und trink Kaffee! Wenn einer kommt, er darf uns nichts anmerken!«

Der Kammergerichtsrat Fromm hatte noch immer auf seinem Beobachtungsposten gestanden. Er hatte zwei Zivilisten die Treppe hinaufgehen sehen, und nun stürmten drei Mann – und der Persicke-Junge dabei – die Treppe hinunter. Es hatte also etwas gegeben, und schon brachte ihm seine Bedienerin aus der Küche die Nachricht, daß eben Frau Rosenthal von oben auf den Hof gestürzt sei. Er starrte sie erschrocken an ...

Einen Augenblick stand er ganz still. Dann nickte er langsam ein paarmal.

»Ja, Liese«, sagte er. »Das ist nicht anders. Man muß nicht nur retten wollen. Der andere muß auch mit der Rettung richtig einverstanden sein.« Und dann rasch: »Ist das Küchenfenster wieder zu?« Liese nickte. »Schnell, Liese, bring das Zimmer vom gnädigen Fräulein wieder in Ordnung; niemand darf sehen, daß es benutzt war. Geschirr weg! Wäsche weg!«

Wieder nickte Liese.

Dann fragte sie: »Und das Geld und der Schmuck auf dem Tisch, Herr Rat?«

Einen Augenblick stand er beinahe hilflos da, kläglich sah er aus mit dem ratlosen Lächeln auf dem Gesicht. »Ja, Liese«, sagte er dann. »Damit wird's schwer werden. Erben werden sich wohl keine melden. Und für uns ist's nur eine Last ...«

»Ich tu's in den Mülleimer«, schlug Liese vor.

Er schüttelte den Kopf. »Für Mülleimer sind die zu schlau, Liese«, sagte er dann. »Das können die ja gerade, im Müll rumwühlen! Na, ich werde schon sehen, wo ich damit erst einmal bleibe. Mach bloß schnell schnell mit dem Zimmer! Die können jede Minute kommen!«

Vorläufig standen sie noch auf dem Hof, der Borkhausen bei ihnen.

Der Borkhausen hatte den Schreck zuerst abgekriegt, und am stärksten. Er war da seit dem frühen Morgen auf dem Hof herumgestrichen, gequält von seinem Haß auf die Persickes und seiner Gier nach den entschwundenen Sachen. Er wollte doch wenigstens wissen – und so beobachtete er ständig das Treppenhaus, die Fenster vorne ...

Plötzlich war da etwas ganz dicht bei ihm niedergestürzt, so nah und aus großer Höhe, es hatte ihn gestreift. Der Schrecken war ihm derart in die Glieder gefahren, daß er sich gegen die Hofwand lehnte, und gleich darauf mußte er sich auf die Erde setzen, es wurde ihm schwarz vor den Augen.

Dann war er wieder hochgefahren, denn plötzlich hatte er gemerkt, daß er neben Frau Rosenthal auf dem Hofe saß. Gott, da hatte sich also die alte Frau aus dem Fenster gestürzt, und wer daran schuld war, das wußte er auch.

Borkhausen sah gleich, daß die Frau tot war. Ein bißchen Blut war aus ihrem Mund gelaufen, aber das verunstaltete sie kaum. Auf dem Gesicht lag ein solcher Ausdruck von tiefem Frieden, daß der erbärmliche kleine Spitzel wegsehen mußte. Dabei fiel sein Blick auf ihre Hände, und er sah, daß sie in der einen Hand etwas hielt, ein Schmuckstück, dessen Steine leuchteten.

Borkhausen warf einen argwöhnischen Blick um sich. Wenn er etwas tun wollte, mußte es schnell geschehen. Er bückte sich, von der Toten abgewandt, so daß er ihr nicht ins Gesicht sehen mußte, zog er ihr das Saphirarmband aus der Hand und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden. Wieder sah er argwöhnisch um sich. Ihm war, als würde bei den Quangels das Küchenfenster vorsichtig geschlossen.

Und da kamen sie schon über den Hof gelaufen, drei Mann, und wer die zwei anderen waren, das sah er auch gleich. Nun kam es darauf an, daß er sich von Anfang an richtig benahm.

»Da hat sich eben die Frau Rosenthal aus dem Fenster gestürzt, Herr Kommissar«, sagte er, als melde er ein ganz alltägliches Ereignis. »Beinahe wäre mir die Frau auf den Kopf gefallen.«

»Woher kennen Sie mich denn?« fragte der Kommissar beiläufig, während er sich mit dem Friedrich über die Tote beugte.

»Ich kenn Sie nicht, Herr Kommissar«, sagte Borkhausen. »Ich hab's mir bloß gedacht. Weil ich nämlich manchmal was für den Herrn Kommissar Escherich arbeiten darf.«

»So!« sagte der Kommissar nur. »So. Dann bleiben Sie hier noch mal ein bißchen stehen. Sie, junger Mann«, wandte er sich zu Persicke, »passen Sie mal ein bißchen auf, daß uns dieser Junge nicht verlorengeht. Friedrich, sorg dafür, daß keine Leute auf den Hof kommen. Sag dem Fahrer Bescheid, er soll in der Torfahrt aufpassen. Ich geh nur mal rasch in Ihre Wohnung telefonieren!«

Als der Herr Kommissar Rusch vom Telefonieren auf den Hof zurückkam, hatte sich die Lage dort ein wenig geändert. In den Fenstern des Hinterhauses lagen überall Gesichter, es standen auch ein paar Leute auf dem Hof – aber ferne. Die Leiche war jetzt mit einem Laken zugedeckt, das etwas zu kurz war, die Beine der Frau Rosenthal sahen bis zu den Knien darunter hervor.

Der Herr Borkhausen aber sah etwas gelb im Gesicht aus und trug jetzt Handkettlein. Von der Hofseite her beobachteten ihn schweigend seine Frau und die fünf Kinder.

»Herr Kommissar, ich protestiere dagegen!« rief Borkhausen jetzt jämmerlich. »Ich habe das Armband bestimmt nicht in die Kellerluke geworfen. Der junge Herr Persicke hat einen Haß auf mich ...«

Es stellte sich heraus, daß Friedrich, von der Erledigung seiner Aufträge zurückgekehrt, sofort begonnen hatte, nach dem Armband zu suchen. Frau Rosenthal hatte es in der Küche doch noch in der Hand gehabt – grade um dieses Armbandes willen, das sie durchaus nicht loslassen wollte, war ja ein gewisser Ärger bei Friedrich entstanden. Und in diesem Ärger hatte er nicht wie sonst aufgepaßt, und die Frau hatte ihm den Streich mit dem Fenster spielen können. Das Armband mußte also hier irgendwo auf dem Hof liegen.

Als der Friedrich so herumzusuchen anfing, hatte Borkhausen an der Hauswand gestanden. Plötzlich hatte Baldur Persicke etwas blitzen gesehen, und darauf hatte es in der Kellerluke geraschelt. Er hatte gleich nachgesehen, und – siehe! – da lag das Armband in der Luke!

»Ich hab's bestimmt nicht reingeworfen, Herr Kommissar!« beteuerte Borkhausen angstvoll. »Es muß von der Frau Rosenthal fortgefallen sein in das Kellerloch!«

»So!« sagte der Kommissar Rusch. »So ein Vogel bist du also! So ein Vogel arbeitet also für meinen Kollegen Escherich! Das wird meinen Kollegen Escherich mächtig freuen, so was zu hören!«

Aber während der Kommissar so ganz friedlich vor sich hin schwätzte, ging sein Blick zwischen dem Borkhausen und Baldur Persicke hin und her, hin und her. Dann fuhr Rusch fort: »Na, ich denke, du wirst nichts dagegen haben, uns auf einem kleinen Spaziergang zu begleiten? Oder?«

»Aber nein!« versicherte Borkhausen, zitterte dabei, und sein Gesicht wurde noch fahler. »Aber gerne komme ich mit! Mir liegt ja am meisten daran, daß alles richtig aufgeklärt wird, Herr Kommissar!«

»Na, dann ist's ja schön!« sagte der Kommissar trocken. Und nach einem raschen Blick auf Persicke: »Friedrich, nimm dem Mann die Handfessel ab. Der kommt auch so mit. Oder?«

»Gewiß komme ich mit! Gewiß doch, gerne!« versicherte Borkhausen eifrig. »Ich lauf nicht weg. Und wenn auch – Sie würden mich ja doch überall einfangen, Herr Kommissar!«

»Richtig!« sagte der wieder trocken. »So 'n Vogel wie dich fangen wir überall!« Er unterbrach sich. »Da ist ja auch schon der Unfallwagen. Und die Polizei. Da wollen wir mal sehen, daß wir den Kram schnell hinter uns bringen. Ich habe heute früh noch mehr zu tun.«

Später, als sie dann »den Kram schnell hinter sich gebracht« hatten, stiegen der Kommissar Rusch und der junge Persicke noch einmal die Treppen zur Rosenthalschen Wohnung hinauf. »Bloß, um das Küchenfenster zuzumachen!« hatte der Kommissar gesagt.

Auf der Treppe blieb der junge Persicke plötzlich stehen. »Ist Ihnen nicht was aufgefallen, Herr Kommissar?« fragte er flüsternd.

»Mir ist verschiedenes aufgefallen«, erwiderte Kommissar Rusch. »Aber was ist denn dir zum Bleistift aufgefallen, mein Junge?«

»Fällt Ihnen nicht auf, wie still das Vorderhaus ist? Haben Sie nicht darauf geachtet, daß im Vorderhaus kein Kopf zum Fenster hinausgesehen hat, und im Hinterhaus haben sie doch überall geguckt! Das ist doch verdächtig. Die müssen doch was gemerkt haben, die hier im Vorderhaus. Die wollen nur nichts gemerkt haben. Sie müßten jetzt eigentlich gleich Haussuchungen bei denen machen, Herr Kommissar!«

»Und bei den Persickes würde ich damit anfangen«, antwortete der Kommissar und stieg ruhig weiter treppauf. »Bei denen hat nämlich auch keiner aus dem Fenster gesehen.«

Baldur lachte verlegen auf. »Meine Brüder von der SS«, erklärte er dann, »die haben sich beide gestern abend so bildschön besoffen ...«

»Mein lieber Sohn«, fuhr der Kommissar fort, als hätte er nichts gehört. »Was ich tu, das ist meine Sache, und was du tust, das ist deine Sache. Ratschläge von dir sind unerwünscht. Dafür bist du mir noch zu grün.« Er sah, im stillen belustigt, über die Schulter in das bekniffene Gesicht des Jungen. »Junge«, sagte er dann, »wenn ich hier keine Haussuchungen mehr mache, so nur darum, weil die viel zuviel Zeit gehabt haben, alles Belastende wegzuschaffen. Und wozu so viel Aufstand um 'ne tote Judenfrau? Ich habe mit den Lebendigen genug zu tun.«

Sie waren unterdes vor der Wohnung der Rosenthals angelangt. Baldur schloß auf. In der Küche wurde das Fenster geschlossen und ein Stuhl wieder aufgestellt, der umgefallen war.

»So!« sagte der Kommissar Rusch und sah sich um. »Alles in bester Butter!«

Er ging voran in die Stube und setzte sich in das Sofa, auf genau die Stelle, wo er eine Stunde zuvor die alte Frau Rosenthal in eine völlige Ohnmacht hineingebeutelt hatte. Er streckte sich behaglich und sagte: »So, mein Sohn, und nun hole uns einmal eine Flasche Kognak und zwei Gläser!«

Baldur ging, kam dann zurück, schenkte ein. Sie prosteten einander zu.

»Schön, mein Sohn«, sagte der Kommissar behaglich und brannte sich eine Zigarette an, »und nun erzähl mir mal, was du und der Borkhausen hier schon in der Wohnung vorgehabt habt!«

Er sagte schneller, als er die empörte Bewegung des jungen Baldur Persicke sah: »Überleg dir's gut, mein Sohn. Eventuell nehme ich sogar einen HJ-Führer mit in die Prinz-Albrecht-Straße, wenn er mich nämlich gar zu unverschämt ansohlt. Überleg dir's, ob du nicht die Wahrheit vorziehst. Vielleicht bleibt die Wahrheit ganz unter uns, wollen mal sehen, was du zu erzählen hast.« Und da er Baldur schwanken sah: »Ich hab nämlich auch ein paar Beobachtungen gemacht, Observationen nennen wir so was. Zum Bleistift habe ich deine Stiebelsohlen da hinten auf der Bettwäsche gesehen. In die Ecke biste heute noch gar nicht gekommen. Und woher haste eigentlich so schnell gewußt, daß hier Kognak ist und wo er steht? Und was denkst du, was mir der Borkhausen alles in seiner Angst erzählt? Nee, habe ich das nötig, hier zu sitzen und mich von dir anlügen zu lassen? Dafür biste mir noch zu grün!«

Das sah der Baldur auch ein, und er packte aus.

»So!« sagte der Kommissar schließlich. »So. Na ja, jeder tut, was er kann. Die Dummen Dummes und die Klugen oft noch was viel Dümmeres. Na, mein Sohn, zum Schluß biste ja denn doch noch schlau geworden und hast den Vater Rusch nicht angelogen. So was soll nicht unbelohnt bleiben. Was möchste hier denn gerne haben?«

Baldurs Augen leuchteten auf. Eben noch war er völlig entmutigt gewesen, aber nun sah er wieder Licht.

»Den Radioapparat mit dem Plattenspieler und den Platten, Herr Kommissar!« flüsterte er gierig.

»Na schön!« sagte der Kommissar gnädig. »Ich habe dir ja gesagt, vor sechse komme ich nicht wieder hierher. Sonst noch was?«

»Vielleicht ein oder zwei Handkoffer mit Wäsche!« bat Baldur. »Meine Mutter ist mächtig knapp mit Wäsche!«

»Gott, wie rührend!« spottete der Kommissar. »Was für 'n rührender Sohn! So 'n richtiges ergreifendes Muttersöhnchen! Na, meinethalben. Damit ist dann aber auch Schluß! Für alles andere bist du mir verantwortlich! Und ich habe ein verdammt gutes Gedächtnis dafür, wie was steht und liegt, mich legst du so leicht nicht rein! Und wie schon bemerkt, in jedem Zweifelsfall Haussuchung bei den Persickes. In jedem Fall gefunden: ein Radioapparat mit Plattenspieler, zwei Handkoffer mit Wäsche. Aber keine Angst, Sohn, solange du reell bist, bin ich's auch.«

Er ging zur Tür. Er sagte noch, über die Schulter weg: »Übrigens, wenn dieser Borkhausen hier wieder auftauchen sollte, es gibt keine Stänkereien mit ihm. Ich mag so was nicht, verstanden?«

»Jawohl, Herr Kommissar«, antwortete Baldur Persicke gehorsam, und damit trennten sich die beiden Herren – nach einem so erfolgreich verbrachten Morgen.


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