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4.
Trudel Baumann verrät ein Geheimnis

So leicht Otto Quangel auch in die Fabrik gekommen war, so schwer war es zu erreichen, daß die Trudel Baumann zu ihm herausgerufen wurde. Sie arbeiteten hier nämlich – übrigens genau wie in Quangels Fabrik – nicht nur im Akkord, sondern jede Arbeitsstube mußte auch ein bestimmtes Pensum schaffen, da kam es oft auf jede Minute an.

Aber schließlich kommt Quangel doch zum Ziel, schließlich ist der andere genauso ein Werkmeister wie er selbst. Man kann einem Kollegen so was schlecht abschlagen, besonders wenn grade der Sohn gefallen ist. Das hat Quangel nun doch sagen müssen, bloß um die Trudel zu sehen zu kriegen. Daraus folgt, daß er's ihr auch selber sagen muß, gegen die Bitte der Frau, sonst würde es ihr der Werkmeister erzählen. Hoffentlich gibt's kein Geschrei und vor allem keine Umfallerei. Eigentlich ein Wunder, wie die Anna sich gehalten hat – nun, die Trudel steht auch auf festen Beinen.

Da kommt sie endlich, und Quangel, der nie ein anderes Verhältnis als das zu seiner Frau gehabt hat, muß sich gestehen, daß sie reizend aussieht mit ihrem Wuschelkopf dunkler, plustriger Haare, dem runden Gesicht, dem keine Fabrikarbeit die frischen Farben hat nehmen können, mit den lachenden Augen und der hohen Brust. Selbst jetzt, wo sie wegen der Arbeit lange blaue Hosen trägt und einen alten, vielfach gestopften Jumper, der voll von Garnresten hängt, selbst jetzt sieht sie reizend aus. Das Schönste an ihr ist aber vielleicht ihre Art, sich zu bewegen, alles sprüht von Leben, jeden Schritt scheint sie gerne zu tun: sie quillt über vor Lebensfreude.

Ein Wunder eigentlich, denkt Otto Quangel flüchtig, daß solch eine Trantute wie der Otto, so ein von der Mutter verpimpeltes Söhnchen, sich solch ein Prachtmädel einhandeln konnte. Aber, verbessert er sich gleich, was weiß ich denn vom Otto? Ich habe ihn ja nie richtig gesehen. Er muß ganz anders gewesen sein, wie ich gedacht habe. Und mit den Radios hat er wirklich was losgehabt, die Meister haben sich doch alle um ihn gerissen.

»Tag, Trudel«, sagt er und gibt ihr seine Hand, in die rasch und kräftig ihre warme, mollige schlüpft.

»Tag, Vater«, antwortet sie. »Nun, was ist los bei euch zu Haus? Hat Muttchen mal wieder Sehnsucht nach mir, oder hat Otto geschrieben? Ich will sehen, daß ich möglichst bald mal bei euch reinschaue.«

»Es muß schon heute abend sein, Trudel«, sagt Otto Quangel. »Die Sache ist nämlich die ...«

Aber er spricht seinen Satz nicht zu Ende. Trudel ist in ihrer raschen Art schon in die Tasche der blauen Hose gefahren und hat einen Taschenkalender hervorgeholt, in dem sie jetzt blättert. Sie hört nur mit halbem Ohr zu, nicht der richtige Augenblick, um ihr so was zu sagen. So wartet denn Quangel geduldig, bis sie gefunden hat, was sie sucht.

Diese Zusammenkunft der beiden findet in einem langen, zugigen Gange statt, dessen getünchte Wände ganz vollgepflastert mit Plakaten sind. Unwillkürlich fällt Quangels Blick auf ein Plakat, das schräg hinter Trudel hängt. Er liest ein paar Worte, die fettgedruckte Überschrift: »Im Namen des deutschen Volkes«, dann drei Namen und: »wurden wegen Landes- und Hochverrates zum Tode durch den Strang verurteilt. Die Hinrichtung wurde heute morgen in der Strafanstalt Plötzensee vollzogen.«

Ganz unwillkürlich hat er mit beiden Händen die Trudel gefaßt und sie so weit zur Seite geführt, daß sie nicht mehr vor dem Plakat steht. »Wieso?« hat sie erst überrascht gefragt, dann sind ihre Augen dem Blick der seinen gefolgt, und sie liest auch das Plakat. Sie gibt einen Laut von sich, der alles bedeuten kann: Protest gegen das Gelesene, Ablehnung von Quangels Tun, Gleichgültigkeit, aber jedenfalls kehrt sie nicht an den alten Platz zurück. Sie sagt und steckt den Kalender wieder in die Tasche: »Heute abend geht's unmöglich, Vater, aber morgen werde ich gegen acht bei euch sein.«

»Es muß aber heute abend gehen, Trudel!« widerspricht Otto Quangel. »Es ist Nachricht gekommen über Otto.« Sein Blick ist noch schärfer geworden, er sieht, wie das Lachen aus ihrem Blick schwindet. »Der Otto ist nämlich gefallen, Trudel!«

Es ist seltsam, derselbe Laut, den Otto Quangel bei dieser Nachricht von sich gegeben hat, kommt jetzt aus Trudels Brust, ein tiefes »Oh ...!« Einen Augenblick sieht sie den Mann mit schwimmenden Augen an, ihre Lippen zittern; dann wendet sie das Gesicht zur Wand, sie lehnt ihre Stirn gegen sie. Sie weint, aber sie weint lautlos. Quangel sieht wohl ihre Schultern beben, aber er hört keinen Laut.

Tapferes Mädel! denkt er. Wie sie doch am Otto gehangen hat! In seiner Art ist er auch tapfer gewesen, hat nie mit diesen Scheißkerlen mitgemacht, hat sich nicht von der HJ gegen seine Eltern aufhetzen lassen, war immer gegen das Soldatenspielen und gegen den Krieg. Dieser verdammte Krieg!

Er hält inne, erschrocken über das, was er da eben gedacht hat. Verändert er sich nun auch schon? Das war ja eben beinahe so etwas wie Annas »Du und dein Hitler!«

Dann sieht er, daß Trudel mit der Stirn nun grade gegen jenes Plakat lehnt, von dem er sie eben erst fortgezogen hat. Über ihrem Kopf steht in Fettschrift zu lesen: »Im Namen des deutschen Volkes«, ihre Stirn verdeckt die Namen der drei Gehängten ...

Und wie eine Vision steigt es vor ihm auf, daß eines Tages solch ein Plakat mit den Namen von ihm und Anna und Trudel an den Wänden kleben könnte. Er schüttelt unmutig den Kopf. Er ist ein einfacher Handarbeiter, der nur seine Ruhe haben und nichts von Politik wissen will, Anna kümmert sich nur um ihren Haushalt, und solch ein bildhübsches Mädel wie die Trudel dort wird bald einen neuen Freund gefunden haben ...

Aber die Vision ist hartnäckig, sie bleibt. Unsere Namen an der Wand, denkt er, nun völlig verwirrt. Und warum nicht? Am Galgen hängen ist auch nicht schlimmer, als von einer Granate zerrissen zu werden oder am Bauchschuß krepieren! Das alles ist nicht wichtig. Was allein wichtig ist, das ist das: Ich muß rauskriegen, was das mit dem Hitler ist. Plötzlich sehe ich nur Unterdrückung und Haß und Zwang und Leid, so viel Leid ... Ein paar Tausend, hat dieser feige Spitzel, der Borkhausen, gesagt. Als wenn es auf die Zahl ankäme! Wenn nur ein einziger Mensch ungerecht leidet, und ich kann es ändern, und ich tue es nicht, bloß weil ich feige bin und meine Ruhe zu sehr liebe, dann ...

Hier wagt er nicht, weiterzudenken. Er hat Angst, richtig Angst davor, wohin ihn ein solcher zu Ende gedachter Gedanke führen kann. Sein Leben müßte er dann ändern!

Statt dessen starrt er wieder auf das Mädchen, über dessen Kopf »Im Namen des deutschen Volkes« zu lesen ist. Nicht grade gegen dieses Plakat gelehnt sollte sie weinen. Er kann der Versuchung nicht widerstehen, er dreht ihre Schultern von der Wand fort und sagt, so sanft er kann: »Komm, Trudel, nicht gegen dieses Plakat ...«

Einen Augenblick starrt sie die gedruckten Worte verständnislos an. Ihr Auge ist schon wieder trocken, ihre Schultern beben nicht mehr. Dann kommt Leben in ihren Blick, nicht das alte, frohe Leuchten, mit dem sie diesen Gang betreten, sondern etwas dunkel Glühendes. Sie legt ihre Hand fest und doch zärtlich an die Stelle, wo das Wort »gehängt« steht. »Ich werd nie vergessen, Vater«, sagt sie, »daß ich grade vor so einem Plakat wegen Otto geheult habe. Vielleicht – ich möcht's nicht –, aber vielleicht wird auch mal mein Name auf so einem Wisch stehen.«

Sie starrt ihn an. Er hat das Gefühl, sie weiß nicht genau, was sie spricht. »Mädel«, ruft er. »Besinn dich! Wie sollst du und solch ein Plakat ... Du bist jung, das ganze Leben liegt vor dir. Du wirst wieder lachen, du wirst Kinder haben ...«

Sie schüttelt trotzig den Kopf. »Ich krieg keine Kinder, solange ich nicht bestimmt weiß, sie werden mir nicht totgeschossen. Solange irgend so ein General sagen kann: Marschier und krepier. Vater«, fährt sie fort und faßt jetzt seine Hand fest in die ihre, »Vater, kannst du denn wirklich wie bisher weiterleben, jetzt, wo sie dir deinen Otto totgeschossen haben?«

Sie sieht ihn eindringlich an, und wieder wehrt er sich gegen das Fremde, das in ihn eindringt. »Die Franzosen«, murmelt er.

»Die Franzosen!« ruft sie empört. »Redest du dich auf so was raus? Wer hat denn die Franzosen überfallen? Na, wer, Vater? Sag doch!«

»Aber was können wir denn tun?« wehrt sich Otto Quangel verzweifelt gegen dieses Drängen. »Wir sind nur ein paar, und all die Millionen sind für ihn, und jetzt nach diesem Siege gegen Frankreich erst recht. Gar nichts können wir tun!«

»Viel können wir tun!« flüstert sie. »Wir können die Maschinen in Unordnung bringen, wir können schlecht und langsam arbeiten, wir können deren Plakate abreißen und andere ankleben, in denen wir den Leuten sagen, wie sie belogen und betrogen werden.« Sie flüstert noch leiser: »Aber die Hauptsache ist, daß wir anders sind als die, daß wir uns nie dazu kriegen lassen, so zu sein, so zu denken wie die. Wir werden eben keine Nazis, und wenn die die ganze Welt besiegen!«

»Und was erreichen wir damit, Trudel?« fragt Otto Quangel leise. »Ich sehe nicht, was wir damit erreichen.«

»Vater«, antwortet sie. »Ich hab's im Anfang auch nicht verstanden, und ganz richtig versteh ich's noch immer nicht. Aber, weißt du, wir haben hier so im geheimen eine Widerstandszelle im Betrieb gebildet, ganz klein erst, drei Männer und ich. Da ist einer bei uns, der hat's mir zu erklären versucht. Wir sind, hat er gesagt, wie der gute Same in einem Acker voll Unkraut. Wenn der gute Same nicht wäre, stünde der ganze Acker voller Unkraut. Und der gute Same kann sich ausbreiten ...«

Sie hält inne, als sei sie über etwas zutiefst erschrocken.

»Was ist, Trudel?« fragt er sie. »Das mit dem guten Samen, das ist kein schlechter Gedanke. Ich werde darüber nachdenken, ich habe so viel nachzudenken in nächster Zeit.«

Aber sie sagt voll Scham und Reue: »Nun habe ich das mit der Zelle doch ausgeplappert, und ich habe heilig geschworen, es keinem einzigen Menschen zu verraten!«

»Darüber mach dir keine Gedanken, Trudel«, sagt Otto Quangel, und seine Ruhe überträgt sich unwillkürlich auf das gequälte Ding. »Bei dem Otto Quangel geht so was zum einem Ohr rein und zum andern raus. Ich weiß von nichts mehr.« Mit einer grimmigen Entschlossenheit starrt er jetzt auf das Plakat. »Da könnte die ganze Gestapo kommen, ich weiß eben von nichts mehr. Und«, setzt er hinzu, »und wenn du willst, und es macht dich ruhiger, so kennst du uns eben von dieser Stunde an nicht mehr. Du brauchst auch heute abend nicht mehr zu Anna zu kommen, ich mach's ihr schon irgendwie mundgerecht, ohne ihr etwas zu sagen.«

»Nein«, antwortet sie darauf, sicher geworden. »Nein, zur Mutter gehe ich heute abend noch. Aber ich werde es den andern sagen müssen, daß ich mich verplappert habe, und vielleicht wird dich einer vornehmen, um zu sehen, ob du auch zuverlässig bist.«

»Die sollen mir nur kommen!« sagt Otto Quangel drohend. »Ich weiß von nichts. Auf Wiedersehen, Trudel. Ich werde dich wohl heute nicht mehr sehen, vor zwölf komme ich fast nie von der Arbeit zurück.«

Sie gibt ihm die Hand und geht dann den Gang zurück, in das Innere der Fabrik hinein. Sie steckt nicht mehr so voll von sprühendem Leben, aber sie ist immer noch voller Kraft. Gutes Mädel! denkt Quangel. Tapferer Kerl!

Dann steht Quangel allein auf dem Gang mit seinen Plakaten, die in dem ewigen Zug leise rascheln. Er schickt sich an zu gehen. Aber vorher tut er noch etwas, das ihn selbst überrascht: Er nickt dem Plakat, an dem Trudel weinte, zu – mit einer grimmigen Entschlossenheit.

Im nächsten Augenblick schämt er sich seines Tuns. Das ist ja blöde Fatzkerei! Dann macht er, daß er nach Hause kommt. Es ist die allerhöchste Zeit, er muß sogar eine Elektrische nehmen, was seinem Sparsinn, der manchmal fast an Geiz grenzt, verhaßt ist.


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