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37.
Die zweite Warnung

An einem Sonntagmorgen sagte Frau Anna etwas zaghaft: »Ich glaube, Otto, wir müssen mal wieder nach meinem Bruder Ulrich sehen. Du weißt, wir sind dran. Wir haben uns acht Wochen nicht mehr bei Heffkes sehen lassen.«

Otto Quangel sah von seiner Schreiberei hoch. »Schön, Anna«, sagte er. »Dann also nächsten Sonntag. Ist's recht?«

»Es wäre mir lieber, wenn du es diesen Sonntag einrichten könntest, Otto. Ich glaube, sie erwarten uns.«

»Denen ist doch ein Sonntag wie der andere. Die haben keine Extraarbeit wie wir, die Leisetreter!«

Und er lachte spöttisch.

»Aber Ulrich hat am Freitag Geburtstag gehabt«, wandte Frau Quangel ein. »Ich habe ihm einen kleinen Kuchen gebacken, den ich ihm gern bringen möchte. Bestimmt erwarten sie uns heute.«

»Ich möchte heute eigentlich außer dieser Karte noch einen Brief schreiben«, sagte Quangel verdrossen. »Ich habe es mir nun einmal so vorgenommen. Ich schmeiße nicht gern mein Programm um.«

»Bitte, Otto!«

»Kannst du nicht allein gehen, Anna, und denen sagen, ich habe mein Reißen? Du hast das doch schon einmal getan!«

»Grade, weil ich's schon einmal getan habe, möchte ich's nicht schon wieder tun«, bat Anna. »Jetzt, wo er Geburtstag hat ...«

Quangel sah in das bittende Gesicht seiner Frau. Er wollte ihr gerne den Gefallen tun, aber der Gedanke, heute seine Stube zu verlassen, machte ihn mißmutig.

»Wo ich heute den Brief schreiben wollte, Anna! Der Brief ist wichtig. Ich habe mir da was ausgedacht ... Er wird bestimmt eine mächtige Wirkung tun. Und dann, Anna, ich kenne jetzt all eure Kindergeschichten, ich weiß sie auswendig. Es ist so langweilig bei Heffkes. Ich hab nichts zu reden mit ihm, und deine Schwägerin sitzt auch immer bloß eingefroren dabei. Wir hätten das nie mit der Verwandtschaft anfangen sollen, Verwandte sind ein Greuel. Wir beide sind vollkommen genug!«

»Nun gut, Otto«, gab sie zum Teil nach, »so wollen wir es heute unsern letzten Besuch sein lassen. Ich versprech dir, dich nicht wieder darum zu bitten. Aber nur heute, wo ich den Kuchen gebacken habe und Ulrich Geburtstag feiert! Nur dieses eine Mal noch! Bitte, Otto!«

»Heute ist es mir gerade besonders zuwider«, sagte er.

Aber von ihren flehenden Augen überwunden, brummte er schließlich doch: »Na, schön, Anna, ich will mir's überlegen. Wenn ich bis Mittag zwei Karten schaffe ...«

Er schaffte bis Mittag zwei Karten, und so gingen Quangels denn gegen drei Uhr aus der Wohnung. Sie wollten mit der U-Bahn bis Nollendorfplatz fahren, aber kurz vor der Bülowstraße schlug Quangel seiner Frau vor, schon Bülowstraße auszusteigen, vielleicht sei da etwas zu machen.

Sie wußte, er hatte die zwei Karten in der Tasche, sie verstand ihn sofort und nickte.

Sie gingen ein Stück die Potsdamer Straße hinunter, ohne ein passendes Haus zu finden. Dann mußten sie rechts in die Winterfeldtstraße einbiegen, sonst wären sie zu weit von der Wohnung des Schwagers abgekommen. Und wieder suchten sie.

»Das ist keine so gute Gegend wie bei uns«, sagte Quangel unzufrieden.

»Und heute ist Sonntag«, setzte sie hinzu. »Sei bloß vorsichtig!«

»Ich bin schon vorsichtig«, erwiderte er. Und: »Da werde ich reingehen!«

Schon, sie hatte noch nichts sagen können, war er im Hause verschwunden.

Für Anna begannen jetzt die Minuten des Wartens, diese immer neu qualvollen Minuten, in denen sie Angst um Otto hatte und doch nichts tun konnte als warten.

O Gott! dachte sie, das Haus betrachtend, das Haus sieht aber gar nicht gut aus! Wenn es nur glatt geht! Ich hätte ihm vielleicht nicht so zureden sollen, heute hierherzufahren. Er wollte doch durchaus nicht, ich hab's ihm ja angemerkt. Und das war nicht nur wegen des Briefes, den er schreiben sollte. Wenn ihm heute was passiert, werde ich mir ewig Vorwürfe machen! Da kommt Otto ...

Aber es war nicht Otto, der aus dem Hause kam, es war eine Dame, die an Anna, sie scharf ansehend, vorüberging.

Hat die mich eben argwöhnisch angesehen? Es kam mir beinah so vor. Ist was im Hause passiert? Otto ist schon lange drin, sicher zehn Minuten! Ach was, das weiß ich doch von vielen Malen: Wenn man so wartend vor einem Hause steht, kommt einem die Zeit immer endlos vor. Gottlob, da ist Otto wirklich!

Sie wollte auf ihn zugehen – und sie blieb stehen.

Denn Otto war nicht allein aus dem Hause gekommen, sondern er war begleitet von einem sehr großen Herrn, der einen schwarzen Mantel mit Samtkragen trug und dessen eine Gesichtshälfte von einem riesigen großen Feuermal mit wulstigen Narben entstellt war. In der Hand trug dieser Herr eine dicke schwarze Aktentasche. Ohne ein Wort miteinander zu sprechen, gingen die beiden an Anna, der das Herz vor Schreck stehengeblieben war, vorüber, in der Richtung auf den Winterfeldtplatz zu. Sie folgte ihnen mit fast versagenden Füßen.

Was ist da schon wieder passiert? fragte sie sich angstvoll. Was ist das für ein Herr, der mit Otto geht? Kann das einer von der Gestapo sein? Er sieht schrecklich aus mit diesem Feuermal! Sie sprechen kein Wort miteinander – o Gott, hätte ich Otto nur nicht zugeredet. Er tat, als kennte er mich nicht, es muß also Gefahr sein! Diese unselige Karte!

Plötzlich hielt es Anna nicht mehr aus. Sie ertrug die qualvolle Ungewißheit nicht länger. Mit einer bei ihr ganz seltenen Entschlossenheit überholte sie die beiden Herren und blieb stehen. »Herr Berndt!« rief sie und reichte Otto die Hand. »Das ist gut, daß ich Sie treffe! Sie müssen sofort zu uns kommen. Wir haben einen Rohrbruch in der Wasserleitung, die ganze Küche schwimmt schon ...« Sie brach ab, sie fand, der Herr mit dem Feuermal sah sie sehr sonderbar an, so spöttisch, so verächtlich.

Aber Otto sagte: »Ich komme dann gleich zu Ihnen. Ich will nur den Herrn Doktor zu meiner Frau bringen.«

»Ich kann auch allein vorangehen«, sagte der Mann mit dem Feuermal. »Von-Einem-Straße 17, sagten Sie? Schön. Ich hoffe, Sie kommen bald nach.«

»In einer Viertelstunde, Herr Doktor, spätestens in einer Viertelstunde bin ich auch da. Ich werde erst mal nur den Haupthahn abstellen.«

Und zehn Schritte weiter preßte er den Arm Annas mit einer ganz ungewohnten Zärtlichkeit gegen seine Brust. »Das hast du großartig gemacht, Anna! Ich wußte doch nicht, wie ich den Kerl loswerden sollte! Wie bist du denn auf die Idee gekommen?«

»Wer war das? Ein Arzt? Ich dachte, es wäre einer von der Gestapo, und konnte die Ungewißheit nicht länger ertragen. Geh langsamer, Otto, mir zittern jetzt alle Glieder. Vorhin habe ich nicht gezittert, aber jetzt! Was ist denn geschehen? Weiß er was?«

»Nichts. Sei ganz ruhig. Er weiß gar nichts. Nichts ist geschehen, Anna. Aber seit heute früh, seit du mir gesagt hast, wir sollten zu deinem Bruder gehen, bin ich ein schlechtes Gefühl nicht losgeworden. Ich hab gedacht, es sei wegen des Briefes, den ich mir doch einmal vorgenommen hatte. Und wegen der Langeweile bei den Heffkes. Aber jetzt weiß ich, es war, weil ich immer das Gefühl hatte: Heute passiert noch was. Heute gehe ich lieber nicht aus dem Bau ...«

»Es ist also doch was passiert, Otto?«

»Nein, gar nichts. Ich sagte dir doch schon, daß nichts passiert ist, Anna. Ich komme also die Treppe hoch und will grade meine Karte ablegen, habe sie in der Hand, da kommt dieser Mann aus seiner Wohnung gerannt. Ich sage dir, Anna, er lief so, er hätte mich fast über den Haufen gerannt. Ich hatte keine Zeit, die Karte wieder wegzustecken. ›Was machen Sie denn hier im Haus?‹ rief er mich gleich an. Nun, du weißt ja, ich habe die Angewohnheit, mir immer den Namen von jemand im Hause nach den Schildern am Eingang zu merken. ›Ich will zu Dr. Boll‹, sage ich. ›Der bin ich!‹ sagt er wieder. ›Was ist? Ist jemand krank zu Hause?‹ Nun, was blieb mir da weiter übrig, als zu schwindeln? Ich sagte ihm, du seiest krank, und er solle doch bei uns vorbeikommen. Gottlob erinnerte ich mich an den Namen Von-Einem-Straße. Ich dachte, er würde sagen, er kommt abends oder morgen vormittag, aber er rief gleich: ›Paßt großartig! Liegt grade auf meinem Weg! Kommen Sie mit, Herr Schmidt!‹ – Ich habe mich Schmidt genannt, verstehst du, viele Leute heißen ja wirklich Schmidt.«

»Ja, und ich habe dich vor ihm ›Herr Berndt‹ angeredet«, rief Anna erschrocken. »Das muß dem doch aufgefallen sein.«

Quangel blieb betroffen stehen. »Wahrhaftig«, sagte er, »daran habe ich noch gar nicht gedacht! Aber es scheint ihm doch nicht aufgefallen zu sein. Die Straße ist leer. Keiner geht hinter uns her. In der Von-Einem-Straße wird er natürlich umsonst suchen, aber dann sitzen wir längst bei Heffkes.«

Anna blieb stehen. »Weißt du, Otto«, sagte sie, »jetzt bin ich es, die sagt: Gehen wir lieber heute nicht zu Ulrich. Jetzt habe ich das Gefühl, es ist heute ein schlechter Tag. Laß uns nach Haus fahren. Die Karten bringe ich morgen fort.«

Aber er schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, nein, Anna, wo wir einmal so weit sind, wollen wir den Besuch auch hinter uns bringen. Wir haben doch ausgemacht, es soll unser letzter sein. Und außerdem möchte ich nicht gerade jetzt auf den Nollendorfplatz gehen. Womöglich treffen wir wieder den Arzt.«

»Dann gib mir wenigstens die Karten! Ich mag nicht, daß du jetzt mit diesen Karten in der Tasche herumläufst!«

Nach anfänglichem Widerstreben händigte er ihr die beiden Postkarten aus.

»Es ist wirklich kein guter Sonntag, Otto ...«


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