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41.
Der alte Parteigenosse Persicke

Der Schnüffler des Kriminalrats Zott, ein gewisser Klebs, hatte die Jablonskistraße nach dem alten, alleinlebenden Mann abzuklappern, auf dessen Feststellung man bei der Gestapo so großen Wert legte. In der Tasche trug er eine Liste, in der für jedes Haus und möglichst auch für jedes Hinterhaus ein zuverlässiger Parteigenosse genannt war, auch der Name Persicke stand auf dieser Liste.

Legte man in der Prinz-Albrecht-Straße großen Wert auf die Ergreifung des Gesuchten, für den Schnüffler Klebs war es ein bloßes Routinegeschäft. Klein, schlecht bezahlt und schlecht ernährt, mit schiefen Beinen, einer unreinen Haut und kariösen Zähnen, erinnerte Klebs an eine Ratte, und er verrichtete seine Geschäfte, wie ein Ratte in Abfalltonnen wühlt. Immer war er bereit, eine Stulle Brot anzunehmen, um was zu trinken oder zu rauchen zu betteln, und seine klägliche, quiekende Stimme bekam bei diesem Betteln etwas leise Pfeifendes, als gehe dem Unseligen der letzte Atem aus.

Bei den Persickes öffnete ihm der Alte. Er sah wüst aus, das graue Haar in Zotteln, das Gesicht gedunsen, die Augen rot, und der ganze Mann schwankend und rollend wie ein Schiff im schweren Sturm.

»Wat willste denn?«

»Nur 'ne kleine Erkundigung einziehen, für die Partei.«

Es war diesen Schnüfflern nämlich strengstens verboten, sich bei ihren Erkundigungen auf die Gestapo zu berufen. Diese ganze Nachfrage sollte wie eine bedeutungslose Erkundigung nach einem Parteimitglied aussehen.

Aber auf den alten Persicke wirkte selbst die harmlose Auskunft »Erkundigung für die Partei« wie ein Schlag auf den Magen. Er stöhnte und lehnte sich gegen den Türpfosten. In sein blödes, von Alkoholdünsten umnebeltes Hirn kehrte für einen Augenblick etwas Besinnung zurück und – mit der Besinnung – Angst.

Dann raffte er sich auf und sagte: »Komm rein!«

Die Ratte folgte schweigend. Sie beobachtete den alten Mann mit spitzen, flinken Augen. Nichts entging ihr.

In der Stube sah es wüst aus. Umgestürzte Stühle, umgefallene Flaschen, vor deren Hälsen Schnaps stinkend am Boden verdunstete. Eine zusammengeknüllte Schlafdecke auf der Erde. Ein heruntergerissenes Tischtuch. Unter dem Spiegel, der von einem Schlag ein Spinnennetz von Sprüngen aufwies, ein Haufen Glasscherben. Eine zugezogene Gardine und eine herabgerissene Gardine. Und überall Zigarettenstummel, Zigarrenstummel, halb angerissene Packungen mit Rauchwaren.

In den Diebsfingern des Schnüfflers Klebs zuckte es. Am liebsten hätte er jetzt gerafft und gegrapscht: Schnaps, Rauchwaren, Kippen, auch die Taschenuhr dort aus der Weste, die über einem Stuhl hing. Aber er war jetzt nur ein Bote der Gestapo oder der Partei. So setzte er sich brav auf ein Stühlchen und piepste fröhlich: »Ach, hier gibt's zu trinken und zu rauchen! Du hast's gut, Persicke!«

Der Alte sah ihn mit einem schweren, trüben Blick an. Dann schob er dem Besucher mit einem Ruck eine halbvolle Flasche Schnaps über den Tisch – Klebs konnte sie grade noch fassen, ehe sie kippte.

»Such dir was zu rauchen!« murmelte Persicke und sah sich in der Stube um. »Hier muß irgendwas zu rauchen rumliegen.« Und er setzte mit schwerer Zunge hinzu: »Aber Feuer habe ich keines!«

»Mach dir keine Sorgen, Persicke!« pfiff Klebs beruhigend. »Ich finde schon, was ich brauche. Du wirst ja in der Küche Gas haben und einen Gasanzünder.«

Er tat so, als kennten sie sich schon seit langem. Als seien sie die ältesten Freunde. Ganz selbstverständlich schlich er auf seinen schiefen Beinen in die Küche – dort sah es mit zertrümmertem Geschirr und umgestürzten Möbeln noch schlimmer aus als in der Stube –, fand wirklich den Gasanzünder in all dem Durcheinander und machte sich Feuer.

Er hatte sich gleich drei angebrochene Zigarettenpackungen eingesteckt. Eine davon hatte zwar in Schnaps gebadet, aber das konnte man trocknen. Auf dem Rückweg sah Klebs noch in die beiden andern Stuben, alles sah völlig verwüstet und verkommen aus. Wie Klebs gleich vermutet hatte, war der alte Mann allein in der Wohnung. Der Schnüffler rieb sich zufrieden die Hände, wobei seine gelbschwarzen Zähne sichtbar wurden. Bei dem würde wohl noch mehr zu holen sein als ein bißchen Schnaps und ein paar Zigaretten.

Der alte Persicke saß noch immer auf demselben Stuhl am Tisch, genau wie ihn Klebs verlassen hatte. Aber der listige Klebs merkte doch, daß der Alte zwischendurch auf den Beinen gewesen sein mußte, denn vor ihm stand jetzt eine volle Schnapsflasche, die vorher nicht zu sehen gewesen war.

Hat also irgendwo noch mehr liegen. Das werden wir schon noch rauskriegen!

Klebs ließ sich mit einem behaglichen Fiepen auf seinen Stuhl nieder, blies seinem Gegenüber einen Schwaden Tabakrauch ins Gesicht, nahm einen Schluck aus der Flasche und fragte harmlos: »Na, was hast du nu auf dem Herzen, Persicke? Immer raus, alter Junge, frei die Brust! Und frisch gewaschen, sonst wirst du erschossen!«

Der alte Mann zitterte bei den letzten Worten. Er hatte nicht erfassen können, in welchem Zusammenhang sie gesprochen waren. Nur daß von Erschießen die Rede war, hatte er begriffen.

»Nein, nein!« murmelte er ängstlich. »Nicht schießen, nur nicht schießen. Baldur kommt, Baldur macht alles wieder gut!«

Die Ratte ließ es erst einmal unerörtert, wer Baldur war, der alles wiedergutmachende Baldur. »Ja, wenn du's nur wiedergutmachen kannst, Persicke!« sagte er vorsichtig.

Er warf einen Blick auf das Gesicht des andern, das, wie es ihm schien, finster und argwöhnisch auf ihn starrte. »Aber freilich, wenn erst Baldur kommt ...« meinte er versöhnlich.

Der alte Mann starrte ihn immer weiter schweigend an. Plötzlich sagte er, in einem jener lichten Momente, wie sie grade dauernd Betrunkene dann und wann haben, mit gar nicht mehr lallender Zunge: »Wer sind Sie eigentlich? Was sollen Sie von mir? Ich kenn Sie doch gar nicht!«

Die Ratte sah den plötzlich so klar Gewordenen vorsichtig an. In solchen Stadien wurden die Betrunkenen oft streit- und prügelsüchtig, und Klebs war bloß ein Männchen (und ein Feigling dazu), während man es dem alten Persicke selbst jetzt im schlimmsten Verfall ansah, daß er seinem Führer zwei stattliche SS-Männer und einen Schüler der Napola geschenkt hatte.

Klebs sagte einlenkend: »Hab's Ihnen schon gesagt, Herr Persicke. Sie haben's vielleicht nicht ganz erfaßt. Mein Name ist Klebs, komme von der Partei, um ein paar Erkundigungen einzuziehen ...«

Die Faust Persickes donnerte auf den Tisch. Die beiden Flaschen gerieten ins Schwanken – rasch rettete sie Klebs.

»Wie kommst du Hund dazu«, schrie Persicke, »zu sagen, ich hätte was nicht erfaßt? Bist du klüger als ich, du Stinktier? Sagst mir in meinem eigenen Hause an meinem eigenen Tisch, ich kann nicht erfassen, was du sagst, Stinktier, elendiges!«

»Nein, nein, nein, Herr Persicke!« säuselte die Ratte beruhigend. »Ich hab's nicht so gemeint. Kleines Mißverständnis. Alles in Friede und Freundschaft. Immer mit der Ruhe – alte Parteigenossen wie wir!«

»Wo hast du deinen Ausweis? Wieso kommst du in meine Bude und zeigst keinen Ausweis? Du weißt, das ist von Partei wegen verboten!«

Aber in diesem Punkt war Klebs nicht zu schrecken: die Gestapo hatte für vollgültige, ausgezeichnete, lückenlose Ausweise gesorgt.

»Da, Herr Persicke, sehen Sie sich alles in Ruhe an. Stimmt alles. Bin berechtigt, Erkundigungen einzuziehen, und Sie sollen mir helfen, wenn Sie können!«

Der alte Mann sah mit trüben Augen auf die Ausweise, die ihm vorgehalten wurden – Klebs hütete sich wohl, sie aus der Hand zu geben. Die Schrift verschwamm vor seinen Augen, er tippte schwerfällig mit dem Finger darauf: »Sind Sie das?«

»Aber das sehen Sie doch, Herr Persicke! Alle sagen, das Bild ist mir mächtig ähnlich!« Und eitel: »Nur soll ich in Wirklichkeit zehn Jahre jünger aussehen. Ich weiß das nicht, ich bin nicht eitel. Ich sehe nie in den Spiegel!«

»Nimm das Zeugs weg!« knurrte der Exbudiker. »Mag jetzt nicht lesen. Setz dich hin, trink Schnaps, rauch, aber sei ruhig. Ich muß erst mal nachdenken.«

Die Ratte Klebs tat, wie ihr befohlen, und beobachtete dabei aufmerksam ihr Gegenüber, das wieder in seinen Rausch zu versinken schien.

Ja, der alte Persicke, der auch einen großen Schluck aus seiner Flasche genommen hatte, war wieder von seiner Klarheit verlassen, unwiderstehlich zog es ihn zurück in den Strudel seiner Betrunkenheit, und was er Nachdenken nannte, das war ein hilfloses Grübeln, das Suchen nach etwas, das ihm längst entfallen war. Er wußte nicht einmal, was er suchte.

Er war in einer schlimmen Lage, der alte Mann. Erst war der eine Sohn nach Holland gekommen, dann der andere nach Polen. Baldur war auf eine Napola geschickt worden, der ehrgeizige Bengel hatte sein erstes Ziel erreicht: er war unter die Ersten der deutschen Nation aufgenommen worden, ein Sonderschüler des Führers selbst. Er lernte weiter, er lernte beherrschen, nicht grade sich selbst, aber alle anderen Menschen, die es nicht so weit gebracht hatten wie er.

Der Vater war mit Frau und Tochter allein geblieben. Er hatte immer schon zu gerne getrunken, der alte Persicke war schon in der verkrachten Budike sein bester Gast gewesen. Als die Söhne fort waren, als vor allem Baldurs Aufsicht fehlte, hatte Persicke zu trinken angefangen, mit Saufen war er fortgefahren. Der Frau war es zuerst unheimlich geworden, klein, ängstlich, weinerlich in diesem Männerhaushalt, in dem sie nie mehr als ein unbezahltes und sehr schlecht behandeltes Dienstmädchen gewesen war, hatte sie die Angst gepackt, woher denn der Mann wohl all das Geld für den vielen Schnaps nahm. Dazu kam die Angst vor den Drohungen, den Mißhandlungen durch den Betrunkenen – und sie war heimlich zu Verwandten geflohen, den Vater der Tochter überlassend.

Die Tochter, ein wüstes Ding, durch den BDM gegangen, sogar Führerin im BDM gewesen, hatte nicht die geringste Neigung gehabt, dem Alten seinen Dreck nachzuräumen und sich dafür noch schlecht behandeln zu lassen. Sie verschaffte sich durch ihre Verbindungen eine Stellung als Aufseherin im Frauen-KZ Ravensbrück und zog es vor, dort alte Frauen, die nie in ihrem Leben körperliche Arbeit geleistet hatten, mit scharfen Schäferhunden und schwipper Reitpeitsche dahin zu bringen, daß sie mehr Arbeit taten, als ihr Körper leisten konnte.

Der alleingebliebene Vater versank immer mehr. Auf seinem Büro hatte er sich krank melden lassen, niemand sorgte für sein Essen, er lebte fast nur noch von Alkohol. In den ersten Tagen hatte er sich auf seine Marken wenigstens noch ab und zu Brot geholt, aber die Marken waren ihm abhanden gekommen oder man hatte sie ihm auch gestohlen, seit Tagen hatte Persicke nichts mehr gegessen.

In der vergangenen Nacht war er sehr krank gewesen, das wußte er noch. Er wußte nicht mehr, daß er getobt hatte, Geschirr zerschlagen, Schränke umgestürzt, daß er in grauenvoller Angst überall Verfolger gesehen hatte. Quangels und der alte Kammergerichtsrat Fromm hatten an seiner Tür gestanden und hatten geklingelt und geklingelt. Aber er hatte sich nicht gerührt, er hatte sich gehütet, seinen Verfolgern aufzumachen. Dort draußen standen nur die Boten der Partei, die von ihm die Abrechnung über seine Kasse haben wollten und es fehlten doch über dreitausend Mark (es konnten auch sechstausend sein, selbst in seinen lichtesten Momenten konnte er das so genau nicht sagen).

Der alte Kammergerichtsrat meinte kühl: »Also lassen wir ihn weitertoben. Ich habe kein Interesse ...«

Das sonst so liebenswürdige, meist leicht ironische Gesicht hatte sehr kalt ausgesehen. Der alte Herr war die Treppe wieder hinuntergegangen.

Und Otto Quangel, mit seiner tiefen Abneigung, in etwas hineingezogen zu werden, hatte auch gesagt: »Was sollen wir uns da einmischen? Wir haben nur Scherereien davon! Du hörst doch, Anna, er ist besoffen! Er wird schon wieder nüchtern werden.«

Aber Persicke, der von all diesen Dingen am nächsten Tage kaum noch etwas wußte, Persicke war nicht nüchtern geworden. Am Morgen war es ihm schlimm gegangen, er hatte so sehr an allen Gliedern gezittert, daß er kaum noch den Flaschenhals an den Mund bringen konnte. Aber je mehr Schnaps er trank, um so geringer wurde das Zittern, die Angst, die ihn noch immer ruckweise überfiel. Nur noch das dunkle Gefühl, er habe etwas vergessen, das ihm unbedingt einfallen müsse, quälte ihn noch.

Und nun saß ihm die Ratte gegenüber, geduldig, listig, gierig. Die Ratte hatte es nicht eilig, sie hatte ihre Gelegenheit gesehen und war entschlossen, sie zu nützen. Die Ratte Klebs hatte es nicht eilig mit ihrem Bericht an den Herrn Kriminalrat Zott. Dem konnte man noch immer was vorsohlen, warum man noch nicht weitergekommen war. Dies war eine einzigartige Gelegenheit, die man sich nicht entgehen lassen konnte.

Er ließ sie sich wirklich nicht entgehen, der Klebs! Der alte Persicke versank immer tiefer in seine Betrunkenheit, und wenn er auch nur mühsam lallen konnte, auch eine gelallte Auskunft ist etwas wert.

Nach einer Stunde wußte Klebs alles, was zu wissen not tat, von den Veruntreuungen des Alten; er wußte auch, wo die Schnapsflaschen lagen und die Rauchwaren – da steckte der Rest des Geldes schon in seiner Tasche.

Jetzt ist die Ratte längst der beste Freund des Alten. Sie hat ihn in sein Bett gepackt, und wenn Persicke brüllt, läuft Klebs zu ihm und gibt ihm so viel Schnaps zu trinken, daß er wieder mit Brüllen aufhört. Dazwischen packt die Ratte eilig in zwei Koffer, was ihr mitnehmenswert erscheint. Die schöne Damastwäsche der toten Rosenthal wechselt schon wieder den Besitzer, wiederum nicht völlig legal.

Dann gibt Klebs dem Alten noch einmal tüchtig zu trinken, nun nimmt er die Koffer und schleicht aus der Wohnung.

Als er die Flurtür öffnet, tritt dicht vor ihn ein großer knochiger Mann mit einem finsteren Gesicht und sagt: »Was machen Sie denn hier in der Wohnung von Persickes? Was schleppen Sie denn hier raus? Sie sind doch ohne Koffer gekommen! He, wird's bald? Oder wollen Sie lieber mit mir auf die Polizei kommen?«

»Bitte, treten Sie doch näher«, pfeift die Ratte demütig. »Ich bin ein alter Freund und Parteigenosse des Herrn Persicke. Er wird es Ihnen bestätigen. Sie sind der Hausverwalter, nicht wahr, Herr Hausverwalter, mein Freund Persicke ist nämlich sehr krank ...«


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