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55.
Baldur Persicke macht Besuch

Baldur Persicke, der stolze Schüler der Napola, der erfolgreichste Sproß vom Hause Persicke, hat seine Geschäfte in Berlin abgeschlossen. Er kann endlich wieder zurückfahren und sich darin ausbilden, ein Herr der Welt zu sein. Er hat seine Mutter aus ihrem Schlupfwinkel bei den Verwandten zurückgeholt und ihr streng befohlen, die Wohnung nicht wieder zu verlassen, sonst passiere ihr allerlei, und er hat auch einmal seine Schwester im KZ Ravensbrück besucht.

Er hat ihr nicht seine Anerkennung für das treffliche Antreiben alter Frauen versagt, und abends haben Bruder und Schwester mit einigen andern Aufseherinnen von Ravensbrück und einigen Freunden aus Fürstenberg eine richtige saftige kleine Orgie gefeiert, ganz im intimsten Kreis, mit viel Alkohol, Zigaretten und »Liebe« ...

Aber die Hauptanstrengungen Baldur Persickes haben doch mehr der Erledigung ernster geschäftlicher Angelegenheiten gegolten. Der Vater, der alte Persicke, hatte ja einige kleine Dummheiten in seinem Suff begangen, Geld sollte in der Kasse fehlen, er sollte sogar vor ein Parteigericht gestellt werden. Aber Baldur hatte alle seine Beziehungen spielen lassen, er hatte mit ärztlichen Attesten gearbeitet, die den Vater als einen altersschwachen Mann schilderten, er hatte gebettelt und gedroht, er war zackig und demütig aufgetreten, er hatte auch den Einbruch, bei dem das Geld wieder gestohlen war, weidlich ausgebeutet – und schließlich hatte es der getreueste Sohn des Hauses wirklich erreicht, daß die ganze faule Kiste ohne Sang und Klang beigelegt wurde. Nicht einmal aus der Wohnung hatte er etwas verkaufen müssen – der Fehlbetrag war als gestohlen ausgebucht. Aber nicht etwa vom alten Persicke gestohlen – o nein, o nein! Sondern von Borkhausen und Genossen gestohlen, so wurde ein Schuh daraus, so blieb der Ehrenschild der Persickes rein.

Und während die Hergesells mit Schlägen und dem Tode bedroht wurden für ein Verbrechen, das sie nicht begangen hatten, wurde das Parteimitglied Persicke für ein begangenes Verbrechen entsühnt.

Also dieses alles hatte Baldur Persicke bestens erledigt, wie es ja auch gar nicht anders von ihm zu erwarten war. Er hätte abreisen können auf seine Napola, aber vorher will er doch noch eine Anstandspflicht erfüllen, er will seinen Vater in der Trinkerheilstätte besuchen. Außerdem möchte er ja gerne einer Wiederholung solcher Ereignisse vorbeugen und die ängstliche Mutter in der Wohnung sicherstellen.

Da er Baldur Persicke ist, bekommt er auch sofort Besuchserlaubnis, und er darf den Vater sogar allein sprechen, ohne Arzt- und Pflegeraufsicht.

Baldur findet, daß der Alte mächtig heruntergekommen aussieht, er ist zusammengefallen wie ein Gummitier, in das man mit einer Nadel gepiekt hat.

Ja, die guten Tage des verkrachten Budikers sind vorüber, er ist nur noch ein Gespenst, aber ein Gespenst, das nicht frei von Gelüsten ist. Der Vater bettelt den Sohn um etwas Rauchbares an, und nachdem der Sohn sich ein paarmal geweigert hat (»Das hast du alter Verbrecher gar nicht verdient«), schenkt er dem Alten doch eine Zigarette. Als aber der alte Persicke darum bettelt, der Sohn möge dem Vater nur ein einziges Mal eine Flasche Schnaps einschmuggeln, da lacht Baldur bloß. Er schlägt dem Vater auf die dürrgewordenen, zittrigen Knie und sagt: »Das mach dir man ab, Vater! Schnaps kriegst du nie mehr in deinem Leben zu saufen, damit hast du mir zuviel Dummheiten gemacht!«

Und während der Vater böse starrt, berichtet der Sohn selbstgefällig von all der Mühe, die ihm die Beilegung dieser Dummheiten gemacht hat.

Der alte Persicke ist nie ein großer Diplomat gewesen, er hat immer seine Meinung geradeheraus gepoltert und nie daran gedacht, was der andere fühlt.

So sagt er denn auch jetzt:

»Du bist immer ein Prahlhans gewesen, Baldur! Das habe ich doch gewußt, daß mir von der Partei aus nie was passieren würde, wo ich doch schon fünfzehn Jahre in dem Hitler seinen Laden bin! Nein, wenn's dich Mühe gekostet hat, ist nur deine eigne Blödheit daran schuld. Ich hätt's mit ein paar Sätzen erledigt, wenn ich erst draußen bin!«

Der Vater ist dumm. Hätte er dem Sohne ein bißchen geschmeichelt, ihm gedankt und ihn gelobt, so wäre Baldur Persicke wohl gnädiger gestimmt gewesen. Aber jetzt ist er tief in seiner Eitelkeit verletzt, und er sagt nur kurz: »Ja, wenn du erst draußen bist, Vater! Aber du kommst nicht wieder raus aus dieser Klapsmühle, nie in deinem Leben!«

Der Vater bekommt bei diesen erbarmungslosen Worten erst einen solchen Schreck, daß er am ganzen Leibe zittert. Aber er faßt sich wieder und sagt: »Den möchte ich sehen, der mich hier halten könnte! Vorläufig bin ich noch ein freier Mensch, und Oberarzt Martens hat mir selber gesagt, wenn ich noch sechs Wochen hier weiter die Kur mache, kann ich raus. Dann bin ich geheilt.«

»Du wirst nie geheilt, Vater«, sagt Baldur spöttisch. »Du fängst doch immer wieder mit deinen Saufereien an. Das habe ich nun oft genug erlebt. Ich werde das nachher dem Oberarzt auch sagen und dafür sorgen, daß du entmündigt wirst!«

»Das tut er nicht! Doktor Martens mag mich mächtig gerne; er hat gesagt, so schöne Schweinereien wie ich weiß keiner! Der tut mir das nicht an. Und außerdem hat er mir fest versprochen, daß ich in sechs Wochen entlassen werde!«

»Wenn ich ihm aber erzähle, daß du mich eben erst hast überreden wollen, dir eine Flasche einzuschmuggeln, wird er anders über deine Heilung denken!«

»Das tust du nicht, Baldur! Du bist doch mein Sohn, und ich bin dein Vater ...«

»Was ist denn da weiter bei? Von irgendwem muß ich doch der Sohn sein, und ich finde, ich habe gerade einen von den schäbigsten Vätern abbekommen.«

Er sah seinen Vater geringschätzig an. Und dann setzt er hinzu: »Nee, nee, Vater, das mach dir man ab, an den Gedanken gewöhn du dich nur: du bleibst hier. Du blamierst draußen ja doch nur die ganze Innung!«

Der Alte ist verzweifelt. Er sagt: »Die Mutter wird das nie zugeben, das mit der Entmündigung, und daß ich ewig hierbleibe!«

»Na, so ewig wird's gar nicht werden, wie du jetzt aussiehst!« Baldur lacht und schlägt die Beine mit den schön gebeutelten Reithosen übereinander. Zufrieden betrachtet er den – von der Mutter erzeugten – Glanz seiner Stiefel. »Und Mutter hat solche Angst vor dir; die weigert sich ja sogar, dich zu besuchen. Denkst du, Mutter hat vergessen, wie du sie beim Halse gehabt und gewürgt hast? Das vergißt dir Mutter nie!«

»Dann schreibe ich an den Führer!« rief der alte Persicke aufgebracht. »Der Führer läßt einen alten Kämpfer nicht im Stich!«

»Was bist du denn dem Führer noch nutze? Der Führer schert sich einen Dreck um dich, der wirft nicht einen Blick auf dein Geklaue! Außerdem kannst du mit deinen alten zittrigen Säuferhänden gar nicht mehr schreiben, und dann lassen die hier gar keinen Brief von dir raus, dafür werde ich sorgen! Schade um das Papier!«

»Baldur, habe doch Erbarmen mit mir! Du bist doch mal ein kleiner Junge gewesen! Ich bin doch sonntags mit dir spazierengegangen. Weißt du noch, wie wir mal auf dem Kreuzberg waren, und das Wasser lief so schön rosa und blau? Ich hab dir immer Würstchen und Bonbons gekauft, und als du damals mit elf Jahren die Geschichte mit dem kleinen Kind angestellt hattest, da habe ich dafür gesorgt, daß du nicht von der Schule flogst und in Zwangserziehung kamst! Was wärst du ohne deinen ollen Vater, Baldur? Und nun darfste mich auch nicht in dieser Klapsmühle steckenlassen!«

Baldur hatte sich diesen langen Erguß, ohne eine Miene zu verziehen, angehört. Nun sagte er: »Also jetzt willst du auf die Gefühlstube drücken, Vater? Finde ich ganz tüchtig von dir. Bloß so was wirkt bei mir nicht, das müßtest du doch wissen, daß ich mir aus Gefühlen nichts mache! Gefühle – eine richtige Schinkenstulle ist mir lieber als alle Gefühle! Aber ich will nicht so sein, ich will dir noch 'ne Zigarette schenken – allez hopp!«

Aber der Alte war zu aufgeregt, um jetzt an Rauchen zu denken. Die Zigarette fiel – zum neuen Ärger Baldurs – unbeachtet auf den Boden.

»Baldur!« flehte der Alte wieder. »Du weißt nicht, was dies für ein Haus ist! Hier lassen sie einen verhungern, und immer schlagen einen die Pfleger. Und die andern Kranken schlagen mich auch. Ich hab so zittrige Hände, ich kann mich nicht wehren, und dann nehmen sie mir das bißchen Essen auch noch weg ...«

Während der Alte so flehte, hatte Baldur sich zum Fortgehen fertiggemacht, aber sein Vater klammerte sich an ihn, er hielt den Sohn fest und fuhr immer eiliger fort: »Und es kommen noch viel schrecklichere Dinge vor. Manchmal gibt der Oberpfleger den Kranken, die ein bißchen laut waren, eine Spritze mit so 'nem grünen Zeug, ich weiß nicht, wie es heißt. Und davon müssen die Leute immerzu kotzen, sie kotzen sich die Seele aus dem Leibe, und plötzlich sind sie weg. Mausetot, Baldur, du wirst doch nicht wollen, daß dein Vater so stirbt, indem er sich die Seele aus dem Leibe kotzt, dein eigener Vater! Baldur, sei gut, hilf mir! Nimm mich hier raus, ich habe solche Angst!«

Aber Baldur Persicke hatte sich jetzt lange genug dieses Geflenne angehört. Er machte sich von dem alten Persicke gewaltsam los, drückte ihn in einen Sessel und sagte: »Na, dann mach's gut, Vater! Ich werde die Mutter von dir grüßen. Und denke daran, daß da am Tisch noch eine Zigarette liegt. Wäre ja schade darum!«

Damit ging dieser echte Sohn seines Vaters.

Baldur aber verließ noch nicht die Trinkerheilanstalt, sondern er ließ sich bei Herrn Oberarzt Dr. Martens melden. Er hatte auch Glück, der Oberarzt war sowohl da wie auch zu sprechen. Er begrüßte seinen Besucher höflich, und einen Augenblick sahen sich die beiden vorsichtig musternd an.

Dann sagte der Oberarzt: »Wie ich sehe, sind Sie auf der Napola, Herr Persicke, oder irre ich mich?«

»Nein, Herr Oberarzt, ich bin auf der Napola«, antwortete Baldur stolz.

»Ja, heute geschieht für unsere Jugend allerhand«, meinte der Oberarzt beifällig nickend. »Ich wollte, ich hätte in meiner Jugend auch solche Förderung erfahren. Sie sind noch nicht zum Kriegsdienst eingezogen, Herr Persicke?«

»Mit dem üblichen Kommiß werde ich wohl verschont werden«, sagte nachlässig-verächtlich Baldur Persicke. »Ich werde wohl ein großes ländliches Gebiet zur Verwaltung bekommen, Ukraine oder Krim. Ein paar Dutzend Quadratkilometer.«

»Ich verstehe«, nickte der Arzt.

»Sie sind in der Partei, Herr Doktor Martens?«

»Leider nicht. Die Wahrheit zu gestehen, ein Großvater von mir hat eine Torheit begangen, der bekannte kleine Webfehler, Sie wissen?« Und eilig fortfahrend: »Aber die Sache ist beigelegt und geordnet, meine Chefs sind für mich eingetreten, ich gelte als reiner Arier. Ich möchte sagen: Ich bin es. In Kürze hoffe ich auch, das Hakenkreuz tragen zu dürfen.«

Baldur saß sehr gerade. Als reiner Arier fühlte er sich seinem Gegenüber weit überlegen, der solche Hintertreppen brauchte. »Ich wollte mit Ihnen wegen meines Vaters reden, Herr Oberarzt«, sagte er, fast im Tone eines Vorgesetzten.

»Oh, mit Ihrem Vater geht alles glatt, Herr Persicke! Ich denke, in sechs, acht Wochen werden wir ihn als geheilt entlassen können ...«

»Mein Vater ist nicht heilbar!« unterbrach ihn Baldur Persicke schroff. »Mein Vater hat getrunken, seit ich denken kann. Und wenn Sie ihn hier vormittags als geheilt entlassen, wird er nachmittags bei uns betrunken ankommen. Wir kennen diese Heilungen. Meine Mutter und meine Geschwister wünschen, daß mein Vater den Rest seines Lebens hier verbringt. Ich schließe mich diesen Wünschen an, Herr Oberarzt!«

»Gewiß, gewiß!« beeilte sich der Arzt zu versichern. »Ich werde mit dem Professor darüber sprechen ...«

»Das ist ganz unnötig. Was wir hier vereinbaren, ist endgültig. Sollte mein Vater wirklich wieder bei uns zu Hause eintreffen, so wird dafür gesorgt sein, daß noch am gleichen Tage eine neue Einlieferung hier erfolgt, und zwar eines völlig betrunkenen Mannes! So würde Ihre vollständige Heilung aussehen, Herr Oberarzt, und ich stehe Ihnen dafür, daß die Folgen für Sie nicht angenehm sein würden!«

Die beiden sahen einander durch ihre Brillengläser an. Aber leider war der Oberarzt ein Feigling: er senkte vor dem schamlos frechen Blick Baldurs das Auge. Er sagte: »Gewiß ist bei Dipsomanen, bei Trinkern, die Gefahr eines Rückfalls stets groß. Und wenn Ihr Herr Vater, wie Sie mir eben berichtet haben, schon stets getrunken hat ...«

»Er hat seine Kneipe versoffen. Er hat alles, was meine Mutter verdient hat, versoffen. Und er würde heute noch alles, was wir vier Kinder verdienen, versaufen, wenn wir es zuließen. Mein Vater bleibt hier!«

»Ihr Vater bleibt hier. Bis auf weiteres. Wenn Sie später, eventuell nach dem Kriege, bei einem Besuch doch den Eindruck haben sollten, daß Ihr Herr Vater sich wesentlich gebessert hat ...«

Wieder schnitt Baldur Persicke dem Arzt das Wort ab. »Mein Vater wird keine Besuche mehr empfangen, weder von mir noch von meinen Geschwistern, noch von meiner Mutter. Wir wissen, er ist hier gut aufgehoben, das genügt uns.« Baldur sah den Arzt durchdringend an, hielt seinen Blick fest. Während er bisher mit lauter, fast befehlender Stimme gesprochen hatte, fuhr er nun leise fort: »Mein Vater hat mir von gewissen grünen Spritzen gesprochen, Herr Oberarzt ...«

Der Oberarzt fuhr ein wenig zusammen.

»Eine reine Erziehungsmaßnahme. Ganz gelegentlich bei renitenten jüngeren Patienten angewandt. Schon das Alter Ihres Vaters verbietet ...«

Wieder wurde er unterbrochen. »Mein Vater hat bereits eine dieser grünen Spritzen bekommen ...«

Der Arzt rief: »Das ist ausgeschlossen! Verzeihung, Herr Persicke, da muß ein Irrtum vorliegen!«

Baldur sagte streng: »Mein Vater hat mir von dieser einen Spritze berichtet. Er erzählte mir, sie habe ihm gutgetan. Warum wird er nicht weiter so behandelt, Herr Oberarzt?«

Der Arzt war völlig verwirrt. »Aber Herr Persicke! Eine reine Erziehungsmaßnahme! Der Behandelte bricht stundenlang, oft tagelang danach!«

»Na, und was weiter? Lassen Sie ihn doch kotzen! Vielleicht macht ihm Kotzen Spaß! Mir hat er versichert, die grüne Spritze hätte ihm gutgetan. Er sehnt sich geradezu nach der zweiten. Warum verweigern Sie ihm das Mittel, da es ihn doch bessert?«

»Nein, nein!« entgegnete der Arzt eilig. Und er setzte voll Scham über sich selbst hinzu: »Es muß ein Mißverständnis vorliegen! Ich habe noch nie gehört, daß Patienten eine Spritze mit ...«

»Herr Oberarzt, wer versteht einen Patienten besser als der eigene Sohn? Und ich bin der Lieblingssohn meines Vaters, müssen Sie wissen. Ich wäre Ihnen wirklich sehr verbunden, wenn Sie dem Oberpfleger, oder wer dafür zuständig ist, jetzt noch in meiner Gegenwart die Weisung erteilen würden, meinem Vater sofort solch eine Spritze zu verabfolgen. Ich ginge sozusagen beruhigter nach Haus – habe ich dem alten Mann doch einen Wunsch erfüllt!«

Der Arzt sah sehr blaß in das Gesicht seines Gegenübers.

»Sie meinen also wirklich? Ich soll jetzt auf der Stelle?« murmelte er.

»Aber kann denn an meiner Meinung noch ein Zweifel bestehen, Herr Oberarzt? Ich finde Sie für einen leitenden Arzt entschieden ein wenig weich. Sie hatten vorhin wirklich ganz recht: Sie hätten eine Napola besuchen und Ihre Führereigenschaften kräftiger entwickeln müssen!« Und er fügte boshaft hinzu: »Freilich gibt es bei Ihrem Geburtsfehler noch andere Erziehungsmöglichkeiten ...«

Nach einer langen Pause sagte der Arzt leise: »Ich werde jetzt also gehen und Ihrem Vater seine Spritze machen ...«

»Aber, bitte, Herr Doktor Martens, warum lassen Sie das nicht den Oberpfleger tun? Da es doch zu seinen Pflichten zu gehören scheint?«

Der Arzt saß in einem schweren Kampf mit sich. Es war wieder ganz still im Zimmer.

Dann stand er langsam auf. »Ich werde also dem Oberpfleger Bescheid sagen ...«

»Ich begleite Sie gerne. Ich interessiere mich mächtig für Ihren Betrieb. Sie verstehen, Aussonderung des nicht Lebenswerten, Sterilisierungen und so weiter ...«

Baldur Persicke stand daneben, wie der Arzt dem Oberpfleger seine Weisungen erteilte. Dem Patienten Persicke sei die und die Spritze zu verabfolgen ...

»Also eine Kotzspritze, mein Lieber!« sagte Baldur huldreich. »Wieviel geben Sie denn im allgemeinen? Soso, na, ein bißchen mehr wird auch nichts schaden, was? Kommen Sie mal, ich habe hier ein paar Zigaretten. Na, nehmen Sie schon die ganze Schachtel, Oberpfleger!«

Der Oberpfleger bedankte sich und ging, die Spritze mit der grünen Flüssigkeit in der Hand.

»Na, da haben Sie aber einen richtigen Bullen zum Oberpfleger! Ich kann mir schon denken, wenn der dazwischenschlägt, gibt's Kleinholz. Muskeln, Muskeln sind das halbe Leben, Herr Doktor Martens! Na, denn noch meinen schönsten Dank, Herr Oberarzt! Hoffentlich geht die Behandlung recht erfolgreich weiter. Na denn, Heil Hitler!«

»Heil Hitler, Herr Persicke!«

In seinem Dienstzimmer angekommen, sank der Oberarzt Dr. Martens schwer in seinen Sessel. Er fühlte, daß er an allen Gliedern zitterte und daß kalter Schweiß seine Stirn bedeckte. Aber er fand noch keine Ruhe. Er stand wieder auf und ging an den Medikamentenschrank. Langsam zog er sich eine Spritze auf. Aber es war keine grüne Flüssigkeit darin, so sehr er auch Grund fühlte, über die ganze Welt und sein Leben insbesondere zu kotzen. Dr. Martens zog Morphium vor.

Er kehrte in seinen Sessel zurück, streckte die Glieder behaglich aus, auf die Wirkung des Narkotikums wartend.

Wie feige ich doch bin! dachte er. Feige zum Ekeln! Dieser elende, freche Bengel – wahrscheinlich besteht der einzige Einfluß, den er hat, in seiner großen Schnauze. Und ich bin vor ihm gekrochen. Ich hätte es nicht nötig gehabt. Aber immer diese verfluchte Großmutter, und daß ich den Mund nicht halten kann! Und dabei war sie eine so reizende alte Dame, und ich habe sie so geliebt ...

Seine Gedanken verloren sich, er sah die alte Dame mit dem feinen Gesicht wieder vor sich. In ihrer Wohnung roch es überall nach dem Potpourritopf mit Rosenblättern und nach Aniskuchen. Sie hatte eine so feine Hand, eine altgewordene Kinderhand ...

Und ihretwegen habe ich mich vor diesem Schuft gedemütigt! Aber ich glaube, Herr Persicke, ich werde doch lieber nicht in die Partei eintreten. Ich glaube, dafür ist es zu spät. Es hat schon ein bißchen sehr lange gedauert mit euch!

Er blinzelte, er streckte sich. Er atmete wohlig, jetzt war ihm wieder gut zumute.

Ich werde gleich nachher nach dem Persicke sehen. Mehr Spritzen bekommt er jedenfalls nicht. Hoffentlich übersteht er's. Gleich nachher sehe ich nach ihm, erst einmal will ich die schönste Wirkung genießen. Aber gleich nachher – Ehrenwort!


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