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53.
Otto Quangels schwerste Last

Während der neunzehn Tage, die Otto Quangel im Bunker der Gestapo zubringen mußte, ehe er dem Untersuchungsrichter beim Volksgerichtshof ausgeliefert wurde, waren für ihn nicht die Verhöre durch den Kommissar Laub das am schwersten zu Ertragende, trotzdem dieser Mann alle seine nicht geringen Kräfte aufwandte, um den Widerstand Quangels zu brechen, wie er es nannte. Das hieß nichts anderes, als daß er mit all seinen schlimmen Kräften bemüht war, aus dem Häftling ein schreiendes, angstvolles Garnichts zu machen.

Es war auch nicht die ständig wachsende, sehr quälende Sorge um seine Frau Anna, die Otto Quangel so zermürbte. Er sah seine Frau nicht, er hörte nie direkt etwas von ihr. Aber als Laub bei den Vernehmungen den Namen Trudel Baumanns, nein, jetzt Trudel Hergesells nannte, wußte er, seine Frau hatte sich verängstigen lassen, sie war überlistet worden, ein Name war ihr entschlüpft, den sie nie hätte zu nennen brauchen.

Später, als immer klarer wurde, auch Trudel Baumann und ihr Mann waren verhaftet worden, sie hatten ausgesagt, sie waren mit in diesen Strudel gezogen, da haderte er in Gedanken viele Stunden mit seiner Frau. Es war immer sein Stolz gewesen in diesem seinem Leben, ein Mensch ganz für sich allein zu sein, die andern nicht zu brauchen, ihnen nie lästig zu fallen, und nun waren durch sein Verschulden (denn er fühlte sich voll verantwortlich für Anna) zwei junge Menschen in seine Sachen hereingezogen worden.

Aber der Hader hielt nicht lange an, die Trauer und die Sorge um seine Lebensgefährtin überwogen. Allein mit sich preßte er oft die Nägel in die Handteller, er schloß die Augen, er sammelte alle seine Stärke in sich – und dann dachte er an Anna, er suchte sie sich vorzustellen in ihrer Zelle, und er schickte Kraftströme aus, um ihr neuen Mut zu geben, damit sie nur nicht ihre Würde vergäße, sich nicht demütige vor diesem Elenden, der kaum noch etwas Menschliches hatte.

Diese Sorge um Anna war schwer zu ertragen, aber sie war bei weitem das Schwerste nicht.

Das Schwerste waren auch nicht die fast alltäglichen Einbrüche in die Zelle von betrunkenen SS-Männern und ihren Führern, die ihre Wut und Quälereien an den Wehrlosen ausließen. Fast alltäglich rissen sie die Zellentür auf, stürzten herein, wild vom Alkohol, nur von der Gier besessen, Blut zu sehen, Menschen verzucken, vergehen zu sehen, sich an der Schwäche des Fleisches zu erbauen. Auch dies war sehr schwer zu ertragen, aber das Schwerste war es noch nicht.

Sondern das Schwerste war, daß er nicht allein in seiner Zelle war, daß er einen Zellengefährten hatte, einen Mitleidenden, einen, der ebenso schuldig sein sollte, einen Mitmenschen. Denn das war ein Mensch, vor dem Quangel ein Grausen ankam, ein wildes, unflätiges Tier, herzlos und feige, zitternd und roh, ein Mensch, den Quangel nicht ansehen konnte, ohne einen tiefen Ekel vor ihm zu empfinden, und dem er doch willfährig sein mußte, denn der Mann besaß viel mehr Kräfte als der alte Werkmeister.

Karl Ziemke, von den Wachen Karlchen genannt, war ein etwa dreißigjähriger Mann von herkulischem Körperbau, mit einem runden, bullenbeißerhaften Kopf, in dem sehr kleine Augen saßen, und mit langen, dichtbehaarten Armen und Händen. Seine niedrige, bucklige Stirn, in die stets ein Wisch filziger Haare hing, war von vielen Längsfalten gefurcht. Er sprach nur wenig, und das wenige, was er sprach, war nur Zeterei und Mord. Wie Quangel bald aus den Reden der Wachen erfuhr, war Karlchen Ziemke früher selbst ein prominentes Mitglied der SS gewesen, er hatte eine außerordentliche Henkersmission zu erfüllen gehabt, und wie viele Menschen diese behaarten Tatzen umgebracht hatten, das würde nie zu erfahren sein, denn Karlchen wußte es selbst nicht.

Doch für den Berufsmörder Karlchen Ziemke hatte es selbst in diesen mordlustigen Zeiten oft nicht genug zu morden gegeben, und da war er in solchen beschäftigungslosen Zeiten dazu übergegangen, auch dann Morde zu begehen, wenn sie nicht von seinen Vorgesetzten angeordnet worden waren. Wenn er es dabei auch nicht verschmähte, seinen Opfern Geld und Wertsachen abzunehmen, so war doch nie das Rauben der Grund zu seinen Übeltaten gewesen, sondern stets nur die reine Mordlust. Und schließlich war man ihm darauf gekommen, und da er so ungeschickt gewesen war, nicht nur Juden, Volksfeinde und ähnliches Freiwild umzubringen, sondern auch einwandfreie Arier und darunter sogar einen Parteigenossen, so saß er nun erst hier einmal im Bunker, und es war noch ungewiß, was mit ihm geschehen sollte.

Karlchen Ziemke, der so viele ohne einen schnelleren Herzschlag in den Tod geschickt hatte, war es angst um das eigene kostbare Leben geworden, und in seinem Kopf, der nicht viel mehr Gedanken, als ein fünfjähriges Kind hat, in sich trug, aber sehr viel bösere, war der Gedanke aufgetaucht, daß er sich vor den Folgen seiner Taten retten konnte, wenn er den Wahnsinnigen spielte. Er hatte sich dafür die Rolle eines Hundes ausgedacht. Oder sie war ihm auch von irgendwelchen Kameraden angeraten worden, was das Wahrscheinlichere war, und er führte diese Rolle mit Konsequenz durch.

Meist lief er völlig nackt auf allen vieren in der Zelle herum, bellte hündisch, fraß aus seiner Schüssel wie ein Hund und legte es immer wieder darauf an, Quangel in die Beine zu beißen. Oder er verlangte von dem alten Werkmeister, daß er ihm stundenlang eine Bürste zuwarf, die Karlchen dann apportierte, wofür er gestreichelt und belobt werden wollte. Oder Quangel mußte die Hosen Karlchens wie ein Sprungseil schwingen, worüber dann Karlchen ununterbrochen sprang.

Zeigte sich der Werkmeister nicht willig genug, so überfiel ihn der »Hund«, warf ihn zu Boden und faßte seine Kehle wie ein Hund mit den Zähnen, und nie war er sicher, daß aus dem Spiel nicht ernst wurde. Die Wachen hatten eine tiefe Freude an den Ergötzungen Karlchens. Oft standen sie lange in der Zellentür und hetzten den Hund, sie machten ihn scharf, und Quangel mußte alles über sich ergehen lassen. Kamen sie aber in ihrer betrunkenen Wut, sie an den Gefangenen auszulassen, so warfen sie Karlchen auf die Erde, er breitete seine Arme auf der Erde aus und flehte sie an, ihm die Gedärme aus dem nackten Leib zu treten.

Mit diesem Mann war Quangel verurteilt, Tag für Tag, Stunde um Stunde, Minute nach Minute zusammen zu leben. Er, der stets für sich allein gelebt hatte, konnte nun nicht mehr eine Viertelstunde für sich allein sein. Selbst nachts, wenn er den Tröster Schlaf suchte, war er vor seinem Quäler nicht sicher. Plötzlich hockte er an seinem Bett, hatte die Pranke auf Quangels Brust gelegt und verlangte Wasser oder auch einen Platz auf Quangels Lager. Der mußte beiseite rücken, er schüttelte sich vor Ekel vor diesem Körper, der nie gewaschen wurde, der haarig war wie der eines Tieres, der aber nichts von der Reinheit und Unschuld der Tiere hatte. Und dann bellte Karlchen leise und fing an, das Gesicht Otto Quangels abzulecken und nach dem Gesicht den ganzen Körper.

Ja, dies war schwer zu ertragen, und oft fragte sich Otto Quangel, warum er es denn eigentlich ertrug, da das Ende doch gewiß war, das nahe Ende. Aber da war ein Widerstand in ihm, sich selbst auszulöschen, Anna zu verlassen, die er doch nicht mehr sah. Da war ein Widerstand in ihm, es denen so leicht zu machen, das Urteil vorwegzunehmen. Sie sollten ihm das Leben absprechen, es ihm nehmen, mit Strick oder Fallbeil, gleichviel. Sie sollten nicht glauben, daß er sich schuldig fühlte. Nein, er wollte ihnen nichts ersparen, und so ersparte er sich Karlchen Ziemke nicht.

Und es war seltsam: je weiter diese neunzehn Tage vorrückten, um so ergebener schien ihm der »Hund« zu werden. Er biß ihn nicht mehr, er warf ihn nicht mehr und faßte ihn an der Kehle. Hatten ihm seine SS-Kameraden einmal einen besseren Bissen zugeteilt, so mußte er durchaus geteilt werden, und oft lag der Hund stundenlang mit seinem riesigen Rundschädel im Schoße des alten Mannes, die Augen geschlossen, leise vor sich hin blaffend, während die Finger Otto Quangels durch seine Haare fuhren.

Dann fragte sich der Werkmeister oft, ob dieses Tier über dem Vortäuschen eines Wahnsinns nicht wirklich wahnsinnig geworden war. Aber wenn er's wirklich war, so waren es seine »freien« Kameraden auf den Gängen des Bunkers auch. Dann änderte es auch nichts, dann waren sie samt ihrem wahnsinnigen Führer und ihrem ständig blöde grinsenden Himmler ein Geschlecht, das ausgelöscht werden mußte von dem Antlitz der Erde, damit die Vernünftigen leben konnten.

Als es dann hieß, Otto Quangel käme auf Transport, war Karlchen sehr unglücklich. Er jaulte und wimmerte, er zwang Quangel sein ganzes Brot auf, und als der Werkmeister auf den Gang heraustreten und mit hocherhobenen Armen das Gesicht gegen die Wand pressen mußte, schlüpfte der nackte Mann auf allen vieren aus der Zelle, hockte sich neben ihn und jaulte leise und jammervoll. Dies hatte das Gute, daß die rohen SS-Männer nicht ganz so roh mit Quangel umsprangen wie mit den andern Transportgefangenen; ein Mann, der die Ergebenheit eines solchen Hundes gewonnen hatte, dieser Mann mit dem kalten, bösen Vogelgesicht machte sogar auf die Henkersknechte Eindruck.

Und als es dann «Abrücken!« hieß, als der Hund Karlchen in seine Zelle zurückgejagt wurde, da war das Gesicht Quangels nicht mehr nur kalt und böse, da empfand er in seinem Herzen einen leichten Druck, etwas wie Bedauern. Der Mann, der in seinem ganzen Leben sein Herz nur an einen Menschen, nämlich an seine Frau, gehängt hatte, sah den vielfachen Mörder, dieses Vieh von einem Menschen, nur ungern aus seinem Leben scheiden.


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