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10.
Was am Mittwochmorgen geschah

All die zuvor berichteten Ereignisse hatten sich an einem Dienstag zugetragen. Am Morgen des folgenden Mittwochs, sehr früh, zwischen fünf und sechs Uhr, verließ Frau Rosenthal, von der Trudel Baumann begleitet, die Quangelsche Wohnung. Otto Quangel schlief noch fest. Die Trudel hatte die unbehilfliche, völlig verängstigte Frau Rosenthal mit dem gelben Stern auf der Brust bis fast an die Frommsche Wohnungstür gebracht. Dann zog sie sich eine halbe Treppe höher zurück, fest entschlossen, die Frau, und sei es mit dem eigenen Leben und der eigenen Ehre, gegen einen etwa herabkommenden Persicke zu verteidigen.

Trudel beobachtete, wie Frau Rosenthal auf den Klingelknopf drückte. Fast sofort wurde die Tür geöffnet, als habe jemand schon wartend dahinter gestanden. Einige Worte wurden leise gewechselt, dann trat Frau Rosenthal ein, die Tür schloß sich, und Trudel Baumann ging an ihr vorbei auf die Straße. Das Haus war schon offen.

Die beiden Frauen hatten Glück gehabt. So früh es auch war und so sehr Frühaufstehen auch den Gewohnheiten der Persickes widersprach, so hatten doch die beiden SS-Männer keine fünf Minuten früher das Treppenhaus passiert. Um fünf Minuten war eine Begegnung vermieden, die bei der sturen Dummheit und der Brutalität der beiden Burschen nicht anders als verhängnisvoll, zum mindesten für Frau Rosenthal, ausgefallen wäre.

Auch die beiden SS-Männer waren nicht allein gegangen. Sie hatten von ihrem Bruder Baldur den Befehl erhalten, den Borkhausen und den Enno Kluge (Baldur hatte unterdes seine Papiere durchgesehen) aus dem Hause und zu ihren Frauen zu schaffen, die beiden Amateureinbrecher waren immer noch fast völlig benebelt von dem Übermaß genossenen Alkohols und von dem Schlag, den sie abbekommen hatten. Doch war es Baldur Persicke gelungen, ihnen begreiflich zu machen, daß sie sich wie die Schweine benommen hätten, daß es nur der großen Menschenliebe der Persickes zu verdanken sei, wenn sie nicht sofort der Polizei übergeben wurden, daß aber jedes Gequatsche sie unweigerlich dorthin bringen würde. Außerdem hatten sie sich nie wieder bei Persickes sehen zu lassen und keinen Persicke je zu kennen. Wenn sie sich aber erfrechen würden, je wieder in die Rosenthalsche Wohnung zu kommen, würden sie unweigerlich der Gestapo übergeben.

All dies hatte ihnen Baldur so oft und mit so vielen Drohungen und Beschimpfungen wiederholt, bis es in ihren verblödeten Hirnen völlig festzusitzen schien. Sie hatten sich da am Tisch der Persickeschen Wohnung gegenübergesessen, in einem halben Zwielicht, zwischen sich den unaufhörlich schwatzenden, drohenden, blitzenden Baldur. Auf dem Sofa hatten sich die beiden SS-Männer herumgelümmelt, drohende, finstere Gestalten, trotz ihres ewigen Zigarettenrauchens. Sie hatten das unsichere Gefühl, als ständen sie vor einem Gerichtshof zur Aburteilung, der Tod schien ihnen zu drohen. Sie schwankten auf ihren Stühlen hin und her und versuchten zu verstehen, was sie verstehen sollten. Dazwischen dösten sie ein und wurden sofort wieder durch einen schmerzhaften Faustschlag Baldurs geweckt. Alles, was sie geplant, getan, erlitten hatten, schien ihnen wie ein unwirklicher Traum, sie sehnten sich nur nach Schlaf und Vergessen.

Schließlich schickte sie Baldur mit seinen Brüdern fort. In den Taschen trugen Borkhausen wie Kluge, ohne es zu wissen, etwa fünfzig Mark in kleinen Scheinen. Baldur hatte sich zu diesem neuen, schmerzlichen Opfer entschlossen, durch das die Unternehmung Rosenthal für die Persickes vorläufig zu einem reinen Verlustgeschäft wurde. Aber er sagte sich, wenn die Männer ohne alles Geld, zerschlagen und arbeitsunfähig, zu ihren Frauen zurückkehrten, würde es bei den Weibern viel mehr Geschrei und Nachfrage geben, als wenn ihnen die betrunkenen Kerle einiges Geld zutrugen. Und er rechnete damit, daß bei dem Zustand der Männer die Frauen das Geld finden würden.

Der ältere Persicke, der Borkhausen nach Haus zu bringen hatte, war mit seiner Aufgabe in zehn Minuten fertig, in jenen zehn Minuten, in denen Frau Rosenthal die Frommsche Wohnung erreicht hatte und Trudel Baumann auf die Straße getreten war. Er hatte den fast gehunfähigen Borkhausen einfach beim Kragen gepackt, über den Hof geschleppt, vor der Borkhausenschen Wohnung auf die Erde gesetzt und die Frau mit festen Faustschlägen gegen die Tür geweckt. Als sie erschrocken vor der finster drohenden Gestalt zurückgewichen war, hatte er sie angeschrien: »Da bring ich dir deinen Kerl! Pack ihn ins Bett rein! Hier bei uns im Treppenhaus besoffen rumliegen und alles vollkotzen ...!«

Damit ging er und überließ das andere Otti. Sie hatte noch ihre Mühe gehabt, den Emil aus den Kleidern und ins Bett zu bringen, dabei hatte der ältere bessere Herr, der noch bei ihr zu Gaste war, helfen müssen. Dann war er fortgeschickt worden – trotz der frühen Stunde. Auch jedes Wiederkommen war ihm verboten, vielleicht konnte man sich mal in einem Café treffen, aber hier, nein, nie wieder.

Denn Ottichen war von einer panischen Angst ergriffen, seit sie den SS-Mann Persicke an ihrer Tür erblickt hatte. Sie wußte von mancher Kollegin, die von diesen schwarzen Herren statt einer Bezahlung als asozial und arbeitsscheu in ein KZ geschafft worden war. Sie hatte geglaubt, in ihrer düsteren Kellerwohnung ein völlig unbeobachtetes Dasein zu fristen, nun hatte sie erfahren, daß sie – wie alles zu dieser Zeit – ständig bespitzelt wurde. Zum hundertstenmal in ihrem Leben gelobte sie sich Besserung. Dieser Entschluß wurde ihr erleichtert, als sie achtundvierzig Mark in Emils Tasche fand. Sie steckte das Geld in ihren Strumpf und entschloß sich abzuwarten, was Emil von seinen Erlebnissen berichten würde, sie jedenfalls würde von dem Gelde nichts wissen.

Die Aufgabe des zweiten Persicke war wesentlich schwieriger, vor allem dadurch, daß der zurückzulegende Weg sehr viel weiter war, denn Kluges wohnten jenseits des Friedrichshains. Enno konnte ebensowenig gehen wie Borkhausen, aber Persicke konnte ihn nicht auf der Straße am Kragen oder am Arm neben sich her schleifen. Es war ihm überhaupt peinlich, in der Gesellschaft dieses zerschlagenen, betrunkenen Mannes gesehen zu werden, denn je geringer er von seiner eigenen und seiner Mitmenschen Ehre dachte, um so höher stellte er die Ehre seiner Uniform.

Es war ebenso vergeblich, dem Kluge zu befehlen, kurz vor ihm, wie einen Schritt hinter ihm zu gehen, immer hatte er die gleiche Neigung, sich auf die Erde zu setzen, zu stolpern, sich an Bäumen und Wänden festzuhalten oder gegen Passanten zu streifen. Umsonst war da jeder Faustschlag, jedes noch so scharfe Kommando, der Körper tat einfach nicht mit, und ihm die scharfe Abreibung zu erteilen, die ihn vielleicht doch nüchtern gemacht hätte, dafür waren die Straßen schon zu belebt. Persicke stand der Schweiß auf der Stirn, seine Kinnbackenmuskeln bewegten sich krampfhaft vor Wut, und er schwor es sich zu, dieser kleinen Giftkröte von Baldur einmal gründlich zu sagen, was er von solchen Aufträgen hielt.

Er mußte die Hauptstraßen meiden, Umwege durch stillere Nebenstraßen machen. Dann packte er den Kluge unter dem Arm und trug ihn oft zwei, drei Straßenecken weit, bis er nicht mehr konnte. Viel Beschwer machte ihm auch eine Zeitlang ein Schupo, dem dieser etwas gewaltsame Frühtransport wohl aufgefallen war und der ihm durch seinen ganzen Bezirk folgte, den Persicke dadurch zu einem sanften und besorgten Benehmen zwingend.

Aber er nahm, als sie endlich im Friedrichshain angekommen waren, seine Rache dafür. Er setzte den Kluge hinter einem Gebüsch auf die Bank und bearbeitete ihn dann so, daß der Mann zehn Minuten lang völlig ohnmächtig dalag. Dieser kleine Rennwetter, dem alles auf der Welt außer Interesse war, ausgenommen die Rennpferde, die er freilich zeit seines Lebens nur in den Zeitungen zu Gesicht bekommen hatte, dieses Geschöpf, das weder Liebe noch Haß empfinden konnte, dieser Arbeitsscheue, der alle Windungen seines kümmerlichen Hirns damit beschäftigt hatte, wie wirklicher Anstrengung zu entgehen war, dieser Mann Enno Kluge, blaß, genügsam, farblos, er behielt von diesem Zusammentreffen mit den Persickes vor jeder Parteiuniform eine Angst, die ihn fortan in Seele und Geist lähmen sollte, wenn er mit solchen Parteileuten in Berührung kam.

Ein paar Tritte in die Rippen weckten ihn aus seiner Ohnmacht, ein paar Schläge auf seinen Rücken setzten ihn in Gang, und so trabte er denn, feige wie ein verprügelter Hund, vor seinem Peiniger her, bis die Wohnung der Frau erreicht war. Aber die Tür war verschlossen: die Briefträgerin Eva Kluge, die in der Nacht noch an ihrem Sohn und damit an ihrem Leben verzweifelt war, hatte sich wieder auf ihren gewohnten Trott gemacht, den Brief an ihren Sohn Max in der Tasche, aber mit sehr wenig Hoffnung und Glauben im Herzen. Sie bestellte Post, wie sie es seit Jahren getan hatte, es war immer noch besser, als tatenlos und von trüben Gedanken gequält zu Hause zu sitzen.

Persicke, nachdem er sich überzeugt hatte, die Frau war wirklich nicht zu Haus, klingelte an der Nachbartür, zufällig an der Tür jener Frau Gesch, die dem Enno am Abend zuvor mit einer Lüge in die Wohnung seiner Frau geholfen hatte. Persicke schob der Öffnenden das Jammergestell einfach in die Arme, sagte: »Da! Kümmern Sie sich um den Kerl, er gehört ja wohl hierher!« Und ging.

Frau Gesch war fest entschlossen gewesen, sich nie wieder in die Angelegenheiten der Kluges zu mischen. Aber so groß war die Gewalt eines SS-Mannes und die Angst jedes Volksgenossen vor ihm, daß sie den Kluge widerspruchslos in ihre Wohnung aufnahm, an den Küchentisch setzte und Kaffee und Brot vor ihn hinstellte. Ihr Mann war schon zur Arbeit gegangen. Frau Gesch sah wohl, wie erschöpft der kleine Kluge war, sie sah auch in seinem Gesicht, an dem zerrissenen Hemd, dem Schmutzfleck am Mantel die Spuren einer dauernden Mißhandlung. Da ihr der Kluge aber von einem SS-Mann übergeben war, so hütete sie sich, eine einzige Frage zu stellen. Ja, sie hätte ihn eher vor ihre Wohnungstür gesetzt als eine Schilderung des ihm Widerfahrenen angehört. Sie wollte nichts wissen. Wenn sie nichts wußte, konnte sie auch nichts aussagen, nicht sich verplappern, nicht schwatzen, konnte sie sich also auch nicht in Gefahr bringen.

Der Kluge aß langsam kauend das Brot, trank den Kaffee. Dabei rannen dicke Tränen des Schmerzes und der Erschöpfung über sein Gesicht. Die Gesch warf schweigend von der Seite dann und wann einen beobachtenden Blick auf ihn. Dann, als er endlich fertig geworden war, fragte sie: »Und wo wollen Sie nu hin? Ihre Frau nimmt Sie nicht wieder auf, das wissen Se doch!«

Er antwortete nicht, er starrte nur vor sich hin.

»Und bei mir können Se auch nicht bleiben. Erstens mal erlaubt's der Justav nich, und denn mag ich ooch nich allens vor Ihnen abschließen. Wo wollen Se also hin?«

Er antwortete wieder nicht.

Die Gesch sagte hitzig: »Denn setz ich Sie vor die Tür auf die Treppe! Gleich auf der Stelle tu ich das! Oder?«

Er sagte mühsam: »Tutti – alte Freundin ...« Und weinte schon wieder.

»Jottedoch, so 'n Schmachtlappen!« sagte die Gesch verächtlich. »Wenn ich immer gleich schlappmachen wollte, wenn mir mal was schiefgeht! Also Tutti – wie heißt sie denn richtig und wo wohnt sie?«

Nach längerem Fragen und Drohen erfuhr sie, daß Enno Kluge Tuttis eigentlichen Namen nicht wußte, sich aber zutraute, ihre Wohnung zu finden.

»Na also!« sagte die Gesch. »Aber allein können Se so nicht gehen, jeder Schupo nimmt Sie fest. Ich bring Sie. Aber wenn die Wohnung nicht stimmt, laß ich Sie auf der Straße stehen. Ich hab keine Zeit für langes Rumsuchen, ich muß arbeiten!«

Er bettelte: »Erst 'nen Augenblick schlafen!«

Sie entschied nach kurzem Zögern: »Aber nich länger als 'ne Stunde! In einer Stunde nischt wie ab die Post! Da, legen Se sich aufs Kanapee, ich deck Sie zu!«

Sie war noch nicht mit der Decke bei ihm, da war er schon fest eingeschlafen. –

Der alte Kammergerichtsrat Fromm hatte Frau Rosenthal selbst geöffnet. Er hatte sie in sein Arbeitszimmer geführt, dessen Wände völlig mit Büchern bedeckt waren, und sie dort in einem Sessel Platz nehmen lassen. Eine Leselampe brannte, ein Buch lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Der alte Herr trug jetzt selbst ein Tablett mit einem Teekännchen und einer Tasse, mit Zucker und zwei dünnen Scheiben Brot herzu und sagte zu der Verängstigten: »Erst frühstücken Sie bitte, Frau Rosenthal, dann reden wir!« Und als sie ihm wenigstens ein Wort des Dankes sagen wollte, meinte er freundlich: »Nein, bitte, wirklich erst frühstücken. Tun Sie ganz so, als seien Sie hier zu Hause, ich tue es ja auch!«

Damit nahm er das Buch unter der Leselampe wieder auf und begann in ihm zu lesen, wobei seine freie linke Hand ganz mechanisch immer wieder von oben nach unten den eisgrauen Kinnbart strich. Er schien seine Besucherin vollkommen vergessen zu haben.

Allmählich kam wieder ein bißchen Zuversicht in die verängstigte alte Jüdin. Seit Monaten hatte sie in Furcht und Unordnung gelebt, zwischen gepackten Sachen, stets gewärtig des brutalsten Überfalls. Seit Monaten kannte sie weder Heim noch Ruhe, noch Frieden, noch Behagen. Und nun saß sie hier bei dem alten Herrn, den sie kaum je zuvor auf der Treppe gesehen; von den Wänden sahen die hell- und dunkelbraunen Lederbände vieler Bücher, ein großer Mahagonischreibtisch am Fenster, Möbel, wie sie sie selbst in der ersten Zeit ihrer Ehe besessen, ein etwas vertretener Zwickauer Teppich auf dem Fußboden. Und dazu dieser lesende alte Herr, der ununterbrochen sein Zickenbärtlein streichelte, genauso ein Bärtlein, wie es auch viele Juden gerne trugen, und dazu kam noch dieser lange Schlafrock, der ein wenig an den Kaftan ihres Vaters erinnerte.

Es war, als sei wie nach einem Zauberspruch die ganze Welt aus Schmutz, Blut und Tränen versunken, und sie lebe wieder in der Zeit, da sie noch angesehene, geachtete Menschen waren, nicht gehetztes Ungeziefer, das zu vertilgen Pflicht ist.

Unwillkürlich strich sie sich übers Haar, ganz von selbst nahm ihr Gesicht einen andern Ausdruck an. Es gab also doch noch Frieden auf der Welt, sogar hier in Berlin.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Kammergerichtsrat«, sagte sie. Selbst ihre Stimme klang anders, fester.

Er sah rasch hoch von seinem Buch. »Trinken Sie bitte Ihren Tee, solange er noch heiß ist, und essen Sie Ihr Brot. Wir haben viel Zeit, wir versäumen nichts.«

Und er las schon wieder. Gehorsam trank sie jetzt den Tee und aß auch das Brot, trotzdem sie viel lieber mit dem alten Herrn gesprochen hätte. Aber sie wollte ihm in allem gehorsam sein, sie wollte den Frieden seiner Wohnung nicht stören. Sie sah sich wieder um. Nein, all dies mußte so bleiben, wie es jetzt war. Sie brachte es nicht in Gefahr. (Drei Jahre später sollte eine Sprengmine dieses Heim in Atome zerreißen, und der gepflegte alte Herr sollte im Keller sterben, langsam und qualvoll ...)

Sie sagte, indem sie die leere Tasse auf das Tablett zurückstellte: »Sie sind sehr gütig zu mir, Herr Kammergerichtsrat, und sehr mutig. Aber ich will Sie und Ihr Heim nicht nutzlos in Gefahr bringen. Es hilft doch alles nichts. Ich gehe in meine Wohnung zurück.«

Der alte Herr hatte sie aufmerksam angesehen, während sie sprach, nun führte er die schon Aufgestandene in ihren Sessel zurück. »Bitte, setzen Sie sich noch einen Augenblick, Frau Rosenthal!«

Sie tat es widerstrebend. »Wirklich, Herr Kammergerichtsrat, es ist mir Ernst mit dem, was ich sage.«

»Hören Sie mich bitte erst an. Auch mir ist es Ernst mit dem, was ich Ihnen sagen werde. Was zuerst die Gefahr anlangt, in die Sie mich bringen, so habe ich mein Lebtag, seit ich im Beruf stehe, in Gefahr geschwebt. Ich habe eine Herrin, der ich zu gehorchen habe, sie regiert mich, Sie, die Welt, selbst die Welt jetzt draußen, und diese Herrin ist die Gerechtigkeit. An sie habe ich immer geglaubt, glaube ich heute noch, die Gerechtigkeit habe ich allein zur Richtschnur meines Handelns gemacht ...«

Während er so sprach, ging er leise auf und ab im Zimmer, die Hände auf dem Rücken, stets in Frau Rosenthals Gesichtsfeld bleibend. Die Worte kamen ruhig und leidenschaftslos von seinen Lippen, er sprach von sich wie von einem vergangenen, eigentlich nicht mehr existierenden Mann. Frau Rosenthal folgte gespannt jedem seiner Worte.

»Doch«, fuhr der Kammergerichtsrat fort, »ich spreche von mir, statt von Ihnen zu sprechen, eine üble Angewohnheit aller, die sehr einsam leben. Verzeihen Sie, sprechen wir noch ein Wort von der Gefahr. Ich bekam Drohbriefe, zehn Jahre, zwanzig Jahre, dreißig Jahre ... Nun, Frau Rosenthal, hier sitze ich, ein alt gewordener Mann, und lese meinen Plutarch. Gefahr bedeutet nichts für mich, sie ängstigt mich nicht, sie beschäftigt nie mein Hirn oder Herz. Reden Sie nicht von Gefahren, Frau Rosenthal ...«

»Doch das sind andere Menschen heute«, widersprach Frau Rosenthal.

»Wenn ich Ihnen sage, daß diese Drohungen von Verbrechern und ihren Komplicen ausgingen? Nun also!« Er lächelte leicht. »Es sind keine anderen Menschen. Es sind ein bißchen mehr geworden, und die anderen sind ein bißchen feiger geworden, aber die Gerechtigkeit ist dieselbe geblieben, und ich hoffe, wir beide erleben noch ihren Sieg.« Einen Augenblick stand er da, grade aufgerichtet. Dann nahm er seine Wanderung wieder auf. Er sagte leise: »Und der Sieg der Gerechtigkeit wird nicht der Sieg dieses deutschen Volkes sein!«

Er schwieg einen Augenblick, dann begann er wieder leichteren Tons: »Nein, Sie können nicht in Ihre Wohnung zurück. Die Persickes sind heute nacht dort gewesen, diese Parteileute über mir, wissen Sie. Die Wohnungsschlüssel sind in ihrem Besitz, sie werden Ihr Heim jetzt unter ständiger Beobachtung halten. Dort wären Sie wirklich völlig nutzlos in Gefahr.«

»Aber ich muß dort sein, wenn mein Mann zurückkommt!« bat Frau Rosenthal flehend.

»Ihr Mann«, sagte der Kammergerichtsrat Fromm freundlich beruhigend, »Ihr Mann kann Sie vorläufig nicht besuchen. Er befindet sich zur Zeit im Untersuchungsgefängnis Moabit unter der Beschuldigung, mehrere Auslandsguthaben verheimlicht zu haben. Er ist also in Sicherheit, solange es gelingt, das Interesse der Staatsanwaltschaft und der Steuerbehörde an diesem Verfahren wachzuhalten.«

Der alte Rat lächelte weise, er sah Frau Rosenthal ermutigend an und nahm dann seine Wanderung wieder auf.

»Aber woher können Sie wissen?«, rief Frau Rosenthal aus.

Er machte eine beschwichtigende Handbewegung. Er sagte: »Ein alter Richter hört immer dies und das, auch wenn er nicht mehr im Amte ist. Es wird Sie auch interessieren, daß Ihr Mann einen tüchtigen Anwalt hat und verhältnismäßig anständig versorgt wird. Den Namen und die Adresse des Anwalts sage ich Ihnen nicht, er wünscht keine Besuche in dieser Sache ...«

»Aber vielleicht kann ich meinen Mann in Moabit besuchen!« rief Frau Rosenthal aufgeregt aus. »Ich könnte ihm frische Wäsche bringen – wer sorgt denn dort für seine Wäsche? Und Toilettensachen und vielleicht etwas zu essen ...«

»Liebe Frau Rosenthal«, sagte der Kammergerichtsrat a. D. und legte seine altersfleckige Hand mit den hohen blauen Adern fest auf ihre Schultern. »Sie können Ihren Mann ebensowenig besuchen, wie er Sie besuchen kann. Ein solcher Besuch nützt ihm nichts, denn Sie kommen nicht bis zu ihm, und er schadet nur Ihnen.«

Er sah sie an.

Plötzlich lächelten seine Augen nicht mehr, auch seine Stimme klang streng. Sie begriff, daß dieser kleine, sanfte gütige Mann einem unerbittlichen Gesetz in sich folgte, wohl dieser Gerechtigkeit, von der er gesprochen hatte.

»Frau Rosenthal«, sagte er leise, »Sie sind mein Gast – solange Sie die Gesetze der Gastfreundschaft befolgen, von denen ich Ihnen gleich ein paar Worte sagen werde. Dieses ist das erste Gebot der Gastfreundschaft: Sobald Sie eigenmächtig handeln, sobald einmal, ein einziges Mal nur, die Tür dieser Wohnung hinter Ihnen zugeschlagen ist, öffnet sich diese Tür Ihnen nie wieder, ist Ihr und Ihres Mannes Name für immer ausgelöscht hinter dieser Stirn. Sie haben mich verstanden?«

Er berührte leicht seine Stirn, er sah sie durchdringend an.

Sie flüsterte leise ein »Ja«.

Erst jetzt nahm er die Hand wieder von ihrer Schulter. Seine vor Ernst dunkel gewordenen Augen wurden wieder heller, langsam nahm er seine Wanderung von neuem auf. »Ich bitte Sie«, fuhr er leichter fort, »das Zimmer, das ich Ihnen gleich zeigen werde, bei Tage nicht zu verlassen, auch sich dort nicht am Fenster aufzuhalten. Meine Bedienerin ist zwar zuverlässig, aber ...« Er brach unmutig ab, er sah jetzt nach dem Buch unter der Leselampe hinüber. Er fuhr fort: »Versuchen Sie es wie ich, die Nacht zum Tage zu machen. Ein Schlafmittel werde ich Ihnen täglich hineinschicken. Mit Essen versorge ich Sie des Nachts. Wenn Sie mir jetzt folgen wollen?«

Sie folgte ihm auf den Korridor hinaus. Sie war jetzt wieder etwas verwirrt und verängstigt, ihr Gastgeber war so völlig verändert. Aber sie sagte sich ganz richtig, daß der alte Herr seine Stille über alles liebte und kaum noch den Umgang mit Menschen gewohnt war. Er war jetzt ihrer müde, er sehnte sich nach seinem Plutarch zurück, wer das immer auch sein mochte.

Der Rat öffnete eine Tür vor ihr, schaltete das Licht ein. »Die Jalousien sind geschlossen«, sagte er. »Es ist hier auch verdunkelt, lassen Sie das bitte so, es könnte Sie sonst einer aus dem Hinterhaus sehen. Ich denke, Sie werden hier alles finden, was Sie brauchen.«

Er ließ sie einen Augenblick dies helle, fröhliche Zimmer betrachten mit seinen Birkenholzmöbeln, einem vollbesetzten, hochbeinigen Toilettetischchen und einem Bett, das noch einen »Himmel« aus geblümtem Chintz besaß. Er sah das Zimmer an wie etwas, das er lange nicht gesehen und nun wiedererkannte. Dann sagte er mit tiefem Ernst: »Es ist das Zimmer meiner Tochter. Sie starb im Jahre 1933 – nicht hier, nein, nicht hier. Ängstigen Sie sich nicht!«

Er gab ihr rasch die Hand. »Ich schließe das Zimmer nicht ab, Frau Rosenthal«, sagte er, »aber ich bitte Sie, sich jetzt sofort einzuriegeln. Sie haben eine Uhr bei sich? Gut! Um zehn Uhr abends werde ich bei Ihnen klopfen. Gute Nacht!«

Er ging. In der Tür wandte er sich noch einmal um. »Sie werden in den nächsten Tagen sehr allein sein mit sich, Frau Rosenthal. Versuchen Sie, sich daran zu gewöhnen. Alleinsein kann etwas sehr Gutes bedeuten. Und vergessen Sie nicht: Es kommt auf jeden Überlebenden an, auch auf Sie, grade auf Sie! Denken Sie an das Abriegeln!«

Er war so leise gegangen, so leise hatte er die Tür geschlossen, daß sie erst zu spät merkte, sie hatte ihm weder gute Nacht gesagt noch gedankt. Sie ging rasch zur Tür, aber schon während des Gehens besann sie sich. Sie drehte nur den Riegel zu, dann ließ sie sich auf den nächsten Stuhl nieder, ihre Beine zitterten. Aus dem Spiegel des Toilettetischchens schaute sie ein bleiches, von Tränen und Wachen gedunsenes Gesicht an. Sie nickte langsam, trübe diesem Gesicht zu.

Das bist du, Sara, sagte es in ihr. Lore, die jetzt Sara genannt wird. Du bist eine tüchtige Geschäftsfrau gewesen, immer tätig. Du hast fünf Kinder gehabt, eines lebt nun in Dänemark, eines in England, zwei in den USA, und eines liegt hier auf dem jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee. Ich bin nicht böse, wenn sie dich Sara nennen. Aus der Lore ist immer mehr eine Sara geworden; ohne daß sie es wollten, haben sie mich zu einer Tochter meines Volkes gemacht, nur zu seiner Tochter. Er ist ein guter, feiner, alter Herr, aber so fremd, so fremd ... Ich könnte nie richtig mit ihm reden, wie ich mit Siegfried gesprochen habe. Ich glaube, er ist kalt. Trotzdem er gütig ist, ist er kalt. Selbst seine Güte ist kalt. Das macht das Gesetz, dem er untertan ist, diese Gerechtigkeit. Ich bin immer nur einem Gesetz untertan gewesen: die Kinder und den Mann liebzuhaben und ihnen vorwärtszuhelfen im Leben. Und nun sitze ich hier bei diesem alten Mann, und alles, was ich bin, ist von mir abgefallen. Das ist das Alleinsein, von dem er sprach. Es ist jetzt noch nicht halb sieben Uhr morgens, und vor zehn Uhr abends werde ich ihn nicht wiedersehen. Fünfzehn und eine halbe Stunde allein mit mir – was werde ich alles erfahren über mich, das ich noch nicht wußte? Mir ist angst, mir ist so sehr angst! Ich glaube, ich werde schreien, noch im Schlafe werde ich schreien vor Angst! Fünfzehn und eine halbe Stunde! Die halbe Stunde hätte er noch bei mir sitzen können. Aber er wollte durchaus in seinem alten Buch lesen. Menschen bedeuten ihm trotz all seiner Güte nichts, ihm bedeutet nur seine Gerechtigkeit etwas. Er tut es, weil sie es von ihm verlangt, nicht um meinetwillen. Es hätte erst Wert für mich, wenn er's um meinetwillen täte!

Sie nickt diesem gramentstellten Gesicht Saras im Spiegel langsam zu. Sie sieht sich nach dem Bett um. Das Zimmer meiner Tochter. Sie starb 1933. Nicht hier! Nicht hier! schießt es ihr durch den Kopf. Sie schaudert. Wie er es sagte. Sicher ist die Tochter auch durch – die gestorben, aber er wird nie darüber sprechen, und ich werde ihn auch nie zu fragen wagen. Nein, ich kann nicht in diesem Zimmer schlafen, es ist grauenvoll, unmenschlich. Er soll mir die Kammer seiner Bedienerin geben, ein Bett noch warm vom Leib eines wirklichen Menschen, der darin schlief. Ich kann hier nie schlafen. Ich kann hier nur schreien ...

Sie tippt die Döschen und die Schächtelchen auf dem Toilettetisch an. Vertrocknete Cremes, krümeliger Puder, grünbelaufene Lippenstifte – und sie ist seit 1933 tot. Sieben Jahre. Ich muß etwas tun. Wie es jagt in mir – das ist die Angst. Jetzt, da ich auf dieser Insel des Friedens angelangt bin, kommt meine Angst hervor. Ich muß etwas tun. Ich darf nicht so allein sein mit mir.

Sie kramte in ihrer Tasche. Sie fand Papier und Bleistift. Ich werde den Kindern schreiben, Gerda in Kopenhagen, Eva in Ilford, dem Bernhard und dem Stefan in Brooklyn. Aber es hat keinen Sinn, die Post geht nicht mehr, es ist Krieg. Ich werde an Siegfried schreiben, irgendwie schmuggle ich den Brief schon durch nach Moabit. Wenn diese alte Bedienerin wirklich zuverlässig ist. Der Rat braucht nichts zu merken, und ich kann ihr Geld oder Schmuck geben. Ich habe noch genug ...

Sie holte auch das aus der Handtasche, sie legte es vor sich hin, das in Pakete gepackte Geld, den Schmuck. Sie nahm ein Armband in die Hand. Das hat mir Siegfried geschenkt, als ich die Eva bekam. Es war meine erste Geburt, ich habe viel aushalten müssen. Wie er gelacht hat, als er das Kind sah! Der Bauch hat ihm gewackelt vor Lachen. Alle mußten lachen, wenn sie das Kind sahen mit seinen schwarzen Ringellöckchen über den ganzen Schädel und seinen Wulstlippen. Ein weißes Negerbaby, sagten sie. Ich fand Eva schön. Damals schenkte er mir das Armband. Es hat sehr viel gekostet; alles Geld, das er in einer Weißen Woche verdient hatte, gab er dafür. Ich war sehr stolz, eine Mutter zu sein. Das Armband bedeutete mir nichts. Jetzt hat Eva schon drei Mädels, und ihre Harriet ist neun. Wie oft sie an mich denken mag, da drüben in Ilford. Aber was sie auch denken mag, sie wird sich nie vorstellen, wie ihre Mutter hier sitzt, in einem Totenzimmer beim Richter Fromm, der nur der Gerechtigkeit gehorcht. Ganz allein mit sich ...

Sie legte das Armband hin, sie nahm einen Ring. Sie saß den ganzen Tag vor ihren Sachen, sie murmelte mit sich, sie klammerte sich an ihre Vergangenheit, sie wollte nicht daran denken, wer sie heute war.

Dazwischen kamen Ausbrüche wilder Angst. Einmal war sie schon an der Tür, sie sagte zu sich: Wenn ich nur wüßte, sie quälen einen nicht lange, sie machten es schnell und schmerzlos, ich ginge zu ihnen. Ich ertrage dieses Warten nicht mehr, und wahrscheinlich ist es ganz zwecklos. Eines Tages kriegen sie mich doch. Wieso kommt es auf jeden Überlebenden an, wieso grade auf mich? Die Kinder werden seltener an mich denken, die Enkel gar nicht, Siegfried dort in Moabit wird auch bald sterben. Ich verstehe nicht, was der Kammergerichtsrat damit gemeint hat, ich muß ihn heute abend danach fragen. Aber wahrscheinlich wird er nur lächeln und irgend etwas sagen, mit dem ich gar nichts anfangen kann, weil ich ein richtiger Mensch bin, heute noch, aus Fleisch und Blut, eine alt gewordene Sara.

Sie stützte sich mit der Hand auf den Toilettetisch, sie betrachtete düster ihr Gesicht, das von einem Netz von Fältchen überzogen war. Fältchen, die Sorge, Angst, Haß und Liebe gezogen hatten. Dann kehrte sie zu ihrem Tisch zurück, zu ihren Schmucksachen. Sie zählte, nur um die Zeit hinzubringen, die Scheine immer wieder durch; später versuchte sie, alle Scheine nach Serien und Nummern zu ordnen. Dann und wann schrieb sie auch einen Satz in dem Brief an ihren Mann. Aber es wurde kein Brief, nur ein paar Fragen: Wie er denn untergebracht sei, was er zu essen bekomme, ob sie nicht für seine Wäsche sorgen könne? Kleine, belanglose Fragen. Und: Ihr ging es gut. Sie war in Sicherheit.

Nein, kein Brief, ein sinnloses, unnötiges Geschwätz, dazu auch unwahr. Sie war nicht in Sicherheit. Noch nie hatte sie sich in den letzten grauenvollen Monaten so in Gefahr gefühlt wie in diesem stillen Zimmer. Sie wußte, sie mußte sich hier verändern, sie würde sich nicht entwischen können. Und sie hatte Angst vor dem, was aus ihr werden konnte. Vielleicht mußte sie dann noch Schrecklicheres erleiden und ertragen, sie, die schon ohne ihren Willen aus einer Lore zu einer Sara geworden war.

Später legte sie sich doch auf das Bett, und als ihr Gastgeber um zehn Uhr gegen ihre Tür klopfte, schlief sie so fest, daß sie ihn nicht hörte. Er öffnete die Tür vorsichtig mit einem Schlüssel, der den Riegel zurückschob, und als er die Schlafende sah, nickte er und lächelte. Er holte ein Tablett mit Essen, setzte es auf den Tisch, und als er dabei die Schmucksachen und das Geld beiseite schob, nickte und lächelte er wieder. Leise ging er aus dem Zimmer, drückte den Riegel wieder herum, ließ sie schlafen ...

So kam es, daß Frau Rosenthal in den ersten drei Tagen ihrer »Schutzhaft« keinen einzigen Menschen zu sehen bekam. Sie verschlief stets die Nacht, um zu einem schrecklichen, angstgequälten Tag zu erwachen. Am vierten Tage, halb von Sinnen, tat sie dann etwas ...


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