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39.
Der Herr Kriminalrat Zott

Der Kriminalrat Zott, mit Spitzbart und Spitzbauch, ein Männchen wie aus den Geschichten des Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, ein Geschöpf wie zusammengebraut aus Papier, Aktenstaub, Tinte und viel Scharfsinn, war in früheren Zeiten eine recht lächerliche Figur unter den Kriminalisten Berlins gewesen. Er verschmähte die üblichen Methoden, er machte fast nie eine Vernehmung, und der Anblick eines Ermordeten machte ihn krank.

Am liebsten saß er über den Akten der andern, verglich, schlug nach, machte seitenlange Exzerpte – und sein Steckenpferd war es, sich über alles Tabellen anzulegen, endlose, minuziös durchdachte Tabellen, aus denen er seine scharfsinnigen Schlüsse zog. Da Kriminalrat Zott mit seiner Methode, nur seinen Kopf arbeiten zu lassen, einige überraschende Erfolge erzielt hatte in Fällen, die ganz ohne Hoffnung schienen, hatte man sich daran gewöhnt, ihm alle aussichtslosen Sachen zuzuschanzen – wenn Zott nichts herausholte, fand keiner was.

An sich war also der Vorschlag Kommissar Escherichs, den Fall Klabautermann an den Kriminalrat Zott abzugeben, gar nicht so ungewöhnlich gewesen. Nur hätte Escherich diesen Vorschlag eben von seinen Vorgesetzten ausgehen lassen müssen, von ihm gemacht war er einfach eine Frechheit, nein, Feigheit vor dem Feinde, Fahnenflucht ...

Kriminalrat Zott hatte sich drei Tage lang mit den Akten Klabautermann eingeschlossen und dann erst den Obergruppenführer um eine Unterredung gebeten. Der Obergruppenführer, begierig, diesen Fall endlich erledigt zu sehen, war gleich zu Zott gekommen.

»Nun, Herr Kriminalrat, was haben Sie oller Sherlock Holmes denn nun wieder ausgeschnüffelt? Ich bin überzeugt, Sie haben den Mann schon beim Wickel. Dieser Esel von Escherich ...«

Und nun folgte eine lange Schimpfkanonade auf den Escherich, der alles verbockt hatte. Der Kriminalrat Zott hörte sie an, ohne eine Miene zu verziehen, nicht einmal durch Nicken oder Kopfschütteln tat er seine eigene Meinung kund.

Als das Feuer endlich verraucht war, sagte Zott: »Herr Obergruppenführer, da haben wir also diesen Kartenschreiber, einen einfachen, ziemlich ungebildeten Mann, der in seinem Leben nicht viel geschrieben hat, und dem es auch ziemlich schwerfällt, sich schriftlich auszudrücken. Er muß Junggeselle oder Witwer sein und ganz allein in seiner Wohnung leben, sonst hätte ihn in diesen zwei Jahren schon längst einmal seine Frau oder Wirtin beim Schreiben ertappt. Daß nie etwas über seine Person laut geworden ist, trotzdem, wie anzunehmen, in der Gegend nördlich vom Alexanderplatz viel über diese Karten geschwatzt wird, das beweist, daß ihn nie jemand beim Schreiben gesehen hat. Er muß absolut allein leben. Er muß ein älterer Mann sein – einem jüngeren wäre dieses Schreiben ohne sichtbare Wirkung längst übergeworden, und er hätte längst was anderes angefangen. Auch besitzt er keinen Radioapparat ...«

»Schön, schön, Herr Kriminalrat!« unterbrach ihn der Obergruppenführer Prall ungeduldig. »Das alles hat mir genau mit den gleichen Worten schon längst dieser Idiot, der Escherich, erzählt. Was ich brauche, sind neue Auswertungen, Ergebnisse, die mir die Inhaftnahme dieses Burschen ermöglichen. Ich sehe, Sie haben da eine Tabelle. Was ist mit dieser Tabelle?«

»Ich habe da eine Tabelle«, antwortete der Kriminalrat und ließ sich nicht anmerken, wie schwer Prall ihn eben gekränkt hatte, als er alle scharfsinnigen Deduktionen Zotts als schon von Escherich vorgetragen bezeichnet hatte, »ich habe da alle Fundzeiten der Karten aufgezeichnet. Es handelt sich bis heute um zweihundertdreiunddreißig Karten und acht Briefe. Wenn wir uns diese Fundzeiten genauer ansehen, so kommen wir zu folgenden Ergebnissen: Nach acht Uhr abends und vor neun Uhr morgens ist nie eine Karte abgelegt ...«

»Aber das ist doch klar wie Kloßbrühe!« rief der Obergruppenführer ungeduldig. »Weil da die Häuser abgeschlossen sind! Dazu brauche ich wahrhaftig keine Tabellen, um das zu wissen!«

»Einen Augenblick, bitte!« sagte Zott, und seine Stimme klang jetzt recht ärgerlich. »Ich war mit meinen Feststellungen noch nicht fertig. Im übrigen werden die Häuser nicht erst morgens um neun Uhr, sondern schon um sieben, oft bereits um sechs Uhr aufgeschlossen. Ich fahre fort: Weiter sind achtzig Prozent der Karten in der Zeit zwischen neun Uhr morgens und zwölf Uhr mittags abgelegt worden. Nie ist eine Karte zwischen zwölf und vierzehn Uhr abgelegt. Dann zwanzig Prozent wieder zwischen vierzehn und zwanzig Uhr. Daraus folgt, daß der Kartenschreiber, der bestimmt mit dem Verteiler identisch ist, regelmäßig von zwölf bis vierzehn Uhr Mittag ißt, daß er nachts arbeitet, jedenfalls nie am Vormittag, selten am Nachmittag. Nehme ich eine Fundstelle, sagen wir am Alex, stelle ich fest, daß die Karte um elf Uhr fünfzehn abgelegt worden ist, nehme ich nun die Entfernung, die ein Mann in fünfundvierzig Minuten gehen kann, nämlich bis zwölf Uhr, und schlage ich mit dem Zirkel einen Kreis um die Fundstelle, so treffe ich stets nördlich auf diesen Fleck, der frei von Fähnchen ist. Das trifft mit einigen Einschränkungen, die man darum machen muß, weil nicht jede Fundzeit mit der Ablegezeit identisch ist, auf alle Fundstellen zu. Daraus schließe ich erstens: der Mann ist sehr pünktlich. Zweitens: er liebt es nicht, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Er wohnt in jenem Dreieck, dessen Seiten von der Greifswalder, Danziger und Prenzlauer Straße begrenzt werden, und zwar in dem nördlichen Ende dieses Dreiecks, vermutlich in der Chodowiecki-, der Jablonski- oder der Christburger Straße.«

»Ganz ausgezeichnet, Herr Kriminalrat!« sagte der Obergruppenführer immer enttäuschter. »Übrigens erinnere ich mich, daß schon Escherich diese Straßen genannt hat. Er meinte nur, eine Haussuchung sei nutzlos. Wie denken Sie über eine Haussuchung?«

»Einen Augenblick, bitte«, sagte Zott und hob die kleine Hand, die von all dem Aktenpapier, auf dem sie gelegen, etwas Vergilbtes angenommen zu haben schien. Jetzt war er wirklich tief verletzt. »Ich möchte Ihnen meine Ergebnisse genau vortragen, damit Sie es selbst übersehen können, ob die von mir vorzuschlagenden Maßnahmen auch zweckmäßig sind ...«

Will sich sichern, der kleine Schlaufuchs! dachte Prall bei sich. Na warte, bei mir gibt's keine Sicherungen, und wenn ich mit dir Schlitten fahren will, tu ich's doch!

»Sehen wir diese Tabelle weiter an«, dozierte der Kriminalrat fort, »so finden wir, daß alle Karten an Wochentagen abgelegt sind. Daraus müssen wir schließen, daß der Mann an Sonntagen seine Wohnung nicht verläßt. Der Sonntag ist sein Schreibetag, was auch dadurch erhärtet wird, daß die meisten Karten am Montag oder Dienstag gefunden wurden. Der Mann hat es immer eilig, dieses belastende Material aus dem Haus zu bekommen.«

Der kleine Spitzbauch hob den Finger. »Eine Ausnahme bilden allein die neun Karten, die südlich des Nollendorfplatzes gefunden worden sind. Sie sind alle an Sonntagen abgelegt worden, meist mit fast vierteljährlichem Abstand, und stets am späten Nachmittag oder frühen Abend. Woraus zu schließen ist, daß der Schreiber dort einen Verwandten, vielleicht eine alte Mutter, wohnen hat, der er in regelmäßigen Abständen einen Pflichtbesuch macht.«

Der Kriminalrat Zott machte eine Pause und sah den Obergruppenführer durch seine goldgeränderte Brille an, als erwarte er ein Wort der Anerkennung.

Aber der sagte nur: »Alles ganz schön und gut. Sicher sehr scharfsinnig. Aber ich sehe nicht, wie uns das weiterführt ...«

»Ein wenig doch, Herr Obergruppenführer!« widersprach der Kriminalrat. »Ich werde natürlich in den Häusern der genannten Straßen vertraulich und sehr behutsam nachforschen lassen, ob dort ein Mann wohnt, auf den meine Folgerungen zutreffen.«

»Das wäre doch was!« rief der Obergruppenführer erleichtert. »Sonst noch was?«

»Ich habe nun«, sagte der Kriminalrat in stillem Triumph und zog eine zweite Karte hervor, »ich habe nun noch eine zweite Tabelle angefertigt, auf der ich mit Kreisen, die einen Durchmesser von einem Kilometer haben, die Hauptfundstellen rot eingekreist habe. Dabei sind die beiden Fundstellen Nollendorfplatz und mutmaßliche Wohnung außer Ansatz geblieben. Sehe ich mir diese elf Hauptfundstellen – es sind elf, Herr Obergruppenführer – genauer an, so mache ich die überraschende Entdeckung, daß sie alle, ausnahmslos alle an oder in der Nähe von Straßenbahnhöfen liegen. Sehen Sie selbst, Herr Obergruppenführer! Hier! Und hier! Und dort! Da liegt der Bahnhof, hier – etwas rechts, fast außerhalb des Kreises, aber immerhin auf seinem Radius. Und nun wieder hier – schön in der Mitte ...«

Zott sah den Obergruppenführer fast flehend an. »Das kann kein Zufall sein!« sagte er. »Solche Zufälle gibt's in der Kriminalistik nicht! Herr Obergruppenführer, der Mann muß irgendwas mit der elektrischen Straßenbahn zu tun haben. Es ist gar nicht anders möglich. Er muß dort nachts arbeiten, gelegentlich auch mal nachmittags. Er wird aber keine Uniform tragen, das wissen wir aus den Berichten der beiden Zeuginnen, die ihn beim Ablegen gesehen haben. Herr Obergruppenführer, ich erbitte Ihre Erlaubnis, auf jedem dieser Bahnhöfe einen sehr guten Mann einsetzen zu dürfen. Ich verspreche mir von dieser Aktion noch mehr als von der Nachfrage in den Häusern. Aber beide zusammen, und gründlich durchgeführt, dann werden wir bestimmt einen Erfolg erzielen!«

»Sie schlauer Fuchs, Sie!« rief jetzt der Obergruppenführer, auch ganz aufgeräumt, und schlug den Kriminalrat auf die Schulter, daß das Männchen in die Knie sackte. »Sie alter schlauer Verbrecher! Das mit den Straßenbahnhöfen ist großartig. Der Escherich ist ein Hornvieh! Darauf mußte er kommen. Natürlich haben Sie meine Erlaubnis! Machen Sie ein bißchen schnell, und in zwei, drei Tagen melden Sie mir, daß der Mann geschnappt ist! Ich will's dem Kamel, dem Escherich, noch selbst in die Schnauze schlagen können, was für ein Kamel er ist!«

Der Obergruppenführer ging, vergnügt lächelnd, aus dem Zimmer.

Der Kriminalrat Zott, allein gelassen, hüstelte. Er setzte sich hinter seine Tabellen auf dem Schreibtisch, sah schief durch die Brille nach der Tür und hüstelte noch einmal. Er haßte alle diese lauten, hirnlosen Kerle, die nur brüllen konnten. Und diesen da, der eben aus dem Zimmer gegangen war, haßte er noch ganz besonders, diesen blöden Affen, der ihm immer den Escherich vorgehalten hatte. ›Das hat der Escherich gesagt‹ und ›Das weiß ich schon vom Escherich, dem Kamel!‹

Und dann hatte er ihn scherzhaft auf die Schulter geschlagen, und dem Kriminalrat war jede körperliche Berührung verhaßt. Nein, dieser Kerl – nun, man mußte die Zeit abwarten. Ganz so sicher saßen auch diese Herren nicht im Sattel, nur schlecht verbargen sie unter ihrem Gebrüll die Angst, eines Tages gestürzt zu werden. So sicher und zackig sie auch auftraten, im Innern wußten sie recht gut, daß sie nichts konnten und nichts waren. Einem solchen Flachkopf hatte er seine große Entdeckung von den Straßenbahnhöfen mitteilen müssen, einem Mann, der den Scharfsinn gar nicht würdigen konnte, der dazu gehörte, so etwas herauszufinden! Perlen vor die Säue – immer das alte Lied!

Dann aber wendet sich der Kriminalrat wieder seinen Akten, seinen Tabellen, den Plänen zu. Er hat einen wohlgeordneten Kopf; er schiebt eine Lade zu und weiß von ihrem Inhalt nichts mehr. Er zieht die Lade Straßenbahnhöfe auf und beginnt, darüber nachzudenken, was der Kartenschreiber wohl für einen Posten bekleiden kann. Er ruft bei der Direktion der Verkehrsbetriebe, Abteilung Personalamt, an und läßt sich eine endlose Liste von Berufen aller bei der BVG Beschäftigten geben. Ab und zu macht er sich Notizen.

Er ist nur erfüllt von dem Gedanken, daß der Täter etwas mit der Straßenbahn zu tun hat. Er ist so stolz auf diese Entdeckung. Er wäre maßlos enttäuscht, wenn sie ihm jetzt den Quangel als Täter hereinbrächten, diesen Werkmeister aus einer Möbelfabrik. Es wäre ihm ganz egal, daß der Täter nun endlich gefaßt ist, sondern es würde ihn nur schmerzen, daß seine schöne Theorie falsch ist.

Und darum, als ein oder zwei Tage später die Suchaktion sowohl in den Häusern wie auf den Straßenbahnhöfen in vollem Gange ist, als da der Reviervorsteher dem Kriminalrat mitteilt, sie haben vielleicht den Täter, darum fragt er nur nach dem Beruf. Er hört Tischler, und der Mann ist für ihn erledigt. Straßenbahner muß er sein!

Angehängt und erledigt! So vollkommen erledigt, daß der Kriminalrat sich nicht einmal klarmacht, daß dieses Revier am Nollendorfplatz liegt, daß es Sonntag gegen Abend ist und daß am Nollendorfplatz grade wieder einmal eine Karte fällig ist! Nicht einmal die Nummer des Reviers merkt sich der Kriminalrat. Diese Idioten, machen nichts als Dummheiten – erledigt!

Meine Leute werden mir schon Bescheid bringen, morgen, spätestens übermorgen. Was die Schupo macht, das ist doch meist Mist, das sind eben keine Kriminalisten!

Und so kommen die schon gefaßten Quangels wieder frei ...


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