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69.
Es ist soweit, Quangel

Es ist noch Nacht, als ein Aufseher die Tür zu Otto Quangels Zelle aufschließt.

Quangel, aus tiefem Schlaf erwacht, sieht blinzelnd auf die große, schwarze Gestalt, die in seine Zelle getreten ist. Im nächsten Augenblick ist er hellwach, und sein Herz klopft schneller als sonst, denn er hat begriffen, was diese große, dort schweigend unter der Tür stehende Gestalt bedeutet.

»Ist es soweit, Herr Pastor?« fragt er und greift schon nach seinen Kleidern.

»Es ist soweit, Quangel!« antwortet der Geistliche. Und fragt: »Fühlen Sie sich bereit?«

»Ich bin jede Stunde bereit«, antwortet Quangel, und seine Zunge berührt das Röhrchen in seinem Munde.

Er fängt an, sich anzukleiden. Alle seine Griffe geschehen ruhig, ohne Hast.

Einen Augenblick mustern sich die beiden schweigend. Der Pastor ist ein noch junger, grobknochiger Mann, mit einem einfachen, vielleicht etwas törichten Gesicht.

Nicht viel los mit dem, entscheidet Quangel. Kein Mann wie der gute Pastor.

Der Pastor wieder sieht vor sich einen langen, verarbeiteten Mann. Das Gesicht mit dem scharfen, vogelhaften Profil mißfällt ihm, der musternde Blick des dunklen, merkwürdig runden Auges mißfällt ihm, es mißfällt ihm auch der schmale, blutlose Mund mit den eingekniffenen Lippen. Aber der Geistliche gibt sich einen Stoß und sagt so freundlich wie er kann: »Ich hoffe, Sie haben Ihren Frieden mit dieser Welt gemacht, Quangel?«

»Hat diese Welt Frieden gemacht, Herr Pastor?« fragt Quangel dagegen.

»Leider noch nicht, Quangel, leider noch nicht«, antwortet der Geistliche, und sein Gesicht versucht, einen Kummer auszudrücken, der nicht empfunden wird. Er übergeht diesen Punkt und fragt weiter: »Aber den Frieden mit Ihrem Herrgott haben Sie doch gemacht, Quangel?«

»Ich glaube an keinen Herrgott«, antwortet Quangel kurz.

»Wie?«

Der Pastor scheint fast erschrocken von dieser brüsken Erklärung. »Nun«, fährt er fort, »wenn Sie vielleicht auch an keinen persönlichen Gott glauben, so werden Sie doch ein Pantheist sein, nicht wahr, Quangel?«

»Was ist das?«

»Nun, das ist doch klar ...« Der Pastor versucht etwas zu erklären, was ihm selbst nicht ganz klar ist. »Eine Weltseele, verstehen Sie. Alles ist Gott, Sie verstehen? Ihre Seele, Ihre unsterbliche Seele wird in die große Weltenseele heimkehren, Quangel!«

»Alles ist Gott?« fragt Quangel. Er ist jetzt mit Anziehen fertig geworden und steht vor der Pritsche. »Ist Hitler auch Gott? Das Morden draußen Gott? Sie Gott? Ich Gott?«

»Sie haben mich falsch verstanden, vermutlich absichtlich falsch verstanden«, antwortet gereizt der Geistliche. »Aber ich bin nicht hier, Quangel, um mit Ihnen über religiöse Fragen zu diskutieren. Ich bin gekommen, Sie auf Ihren Tod vorzubereiten. Sie werden sterben müssen, Quangel, in wenigen Stunden. Sind Sie bereit?«

Statt einer Antwort fragt Quangel: »Haben Sie den Pastor Lorenz gekannt im Untersuchungsgefängnis beim Volksgerichtshof?«

Der Pastor, schon wieder aus dem Konzept gebracht, antwortet ärgerlich: »Nein, aber ich habe von ihm gehört. Ich darf wohl sagen, der Herr hat ihn zur rechten Zeit abberufen. Er hat unserm Stande Schande gemacht.«

Quangel sah den Geistlichen aufmerksam an. Er sagte: »Er war ein sehr guter Mann. Viele Gefangene werden mit Dankbarkeit an ihn denken.«

»Ja«, rief der Pastor in unverhülltem Ärger. »Weil er euren Lüsten nachgegeben hat! Er war ein sehr schwacher Mann, Quangel. Der Diener Gottes hat ein Kämpfer zu sein in diesen Kriegszeiten, kein flauer Kompromißmacher!« Er besann sich wieder. Er sah hastig auf die Uhr und sagte: »Ich habe nur noch acht Minuten für Sie, Quangel. Ich habe noch einige Ihrer Leidensgefährten, die gleich Ihnen heute den letzten Gang antreten, mit meinem geistlichen Trost zu versehen. Wir wollen beten ...«

Der Geistliche, dieser starkknochige, grobe Bauer, hatte ein weißes Tuch aus der Tasche gezogen und entfaltete es behutsam.

Quangel fragte: »Versehen Sie auch die hinzurichtenden Frauen mit Ihrem geistlichen Trost?«

Sein Spott war so undurchdringlich, daß der Pastor nichts von ihm merkte. Er breitete das schneeweiße Tuch auf dem Zellenboden aus und antwortete dabei gleichgültig: »Es finden heute keine Hinrichtungen von Frauen statt.«

»Erinnern Sie sich vielleicht«, fragte Quangel hartnäckig weiter, »ob Sie in der letzten Zeit bei einer Frau Anna Quangel gewesen sind?«

»Frau Anna Quangel? Das ist Ihre Frau? Nein, bestimmt nicht. Ich würde mich erinnern. Ich habe ein ungewöhnlich gutes Namengedächtnis ...«

»Ich habe eine Bitte, Herr Pastor ...«

»Nun, sagen Sie schon, Quangel! Sie wissen, meine Zeit ist knapp!«

»Ich bitte Sie, meiner Frau, wenn es soweit ist, nichts zu sagen, daß ich vor ihr hingerichtet worden bin. Sagen Sie ihr bitte, daß ich in der gleichen Stunde mit ihr sterbe.«

»Das wäre eine Lüge, Quangel, und ich als Diener Gottes darf mich nicht gegen sein achtes Gebot vergehen.«

»Sie lügen also nie, Herr Pastor? Sie haben noch nie in Ihrem Leben gelogen?«

»Ich hoffe«, sagte der Pastor, verwirrt unter dem spöttisch musternden Blick des andern, »ich hoffe, daß ich mich stets nach meinen schwachen Kräften bemüht habe, Gottes Gebote zu halten.«

»Und Gottes Gebote verlangen also von Ihnen, meiner Frau den Trost, daß sie in der gleichen Stunde mit mir stirbt, zu versagen?«

»Ich darf nicht falsch Zeugnis reden wider meinen Nächsten, Quangel!«

»Schade, schade! Sie sind wirklich nicht der gute Pastor.«

»Wie?« rief der Geistliche, halb verwirrt, halb drohend.

»Herr Pastor Lorenz hieß im Gefängnis nur der gute Pastor«, erklärte Quangel.

»Nein, nein«, rief der Pastor zornig, »ich sehne mich nicht nach einem solchen von euch gespendeten Ehrennamen! Ich würde das einen Unehrennamen heißen!« Er besann sich. Mit einem Plumps fiel er auf die Knie, genau auf das weiße Taschentuch. Er deutete auf eine Stelle des dunklen Zellenbodens neben sich (denn das weiße Tuch reichte nur für ihn aus): »Knien Sie auch nieder, Quangel, wir wollen beten!«

»Vor wem soll ich knien?« fragte Quangel kalt. »Zu wem soll ich beten!«

»Oh!« brach der Pastor ärgerlich aus. »Fangen Sie doch nicht schon wieder damit an! Ich habe schon viel zuviel Zeit an Sie verschwendet!« Er sah kniend zu dem Mann mit dem harten, bösen Gesicht auf. Er murmelte: »Gleichviel, ich werde meine Pflicht tun. Ich werde für Sie beten!«

Er senkte den Kopf, faltete die Hände, und seine Augen schlossen sich. Dann stieß er den Kopf vor, öffnete die Augen weit und schrie plötzlich so laut, daß Quangel erschrocken zusammenfuhr: »O Du mein Herr und mein Gott! Allmächtiger, allwissender, allgütiger, allgerechter Gott, Richter über Gut und Böse! Ein Sünder liegt hier vor Dir im Staube, ich bitte Dich, Du wollest die Augen in Barmherzigkeit wenden auf diesen Menschen, der viele Missetat begangen hat, ihn erquicken an Leib und Seele und ihm alle seine Sünden in Gnaden vergeben ...«

Der kniende Pastor schrie noch lauter: »Nimm an das Opfer des unschuldigen Todes Jesu Christi, Deines lieben Sohnes, für die Bezahlung seiner Missetat! Er ist ja auch auf desselbigen Namen getauft und mit desselbigen Blut gewaschen und gereinigt. So errette ihn nun von des Leibes Qual und Pein! Verkürze ihm seine Schmerzen, erhalte ihn wider die Anklage des Gewissens! Verleihe ihm eine selige Heimfahrt zum ewigen Leben!«

Der Geistliche senkte seine Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern: »Schicke Deine heiligen Engel her, daß sie ihn begleiten zur Versammlung Deiner Auserwählten in Christo Jesu, unserm Herrn.«

Der Pastor rief wieder sehr laut: »Amen! Amen! Amen!«

Er stand auf, faltete das weiße Tuch sorgfältig wieder zusammen und fragte, ohne Quangel anzusehen: »Es ist wohl vergeblich, daß ich Sie frage, ob Sie bereit sind, das heilige Abendmahl einzunehmen?«

»Völlig vergeblich, Herr Pastor.«

Der Pastor streckte zögernd seine Hand gegen Quangel aus.

Quangel schüttelte den Kopf und legte seine Hände auf den Rücken.

»Auch das ist vergeblich, Herr Pastor!« sagte er.

Der Pastor ging, ohne ihn anzusehen, zur Tür. Er wandte sich noch einmal um, warf einen flüchtigen Blick auf Quangel und sagte: »Nehmen Sie noch diesen Spruch mit zur letzten Richtstätte, Philipper 1, 21: Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn.«

Die Tür klappte, er war gegangen.

Quangel atmete auf.


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