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62.
Die Hauptverhandlung: Ankläger Pintscher

Während der Präsident des Volksgerichtshofes, Feisler, für jeden unvoreingenommenen Beobachter mit einem bösartigen Bluthund zu vergleichen war, spielte der Ankläger nur die Rolle eines kleinen kläffenden Pintschers, der darauf lauert, den vom Bluthund Angefallenen in die Wade zu beißen, während sein großer Bruder ihn bei der Kehle hatte. Ein paarmal hatte der Ankläger während der Verhandlung gegen die Quangels versucht, loszukläffen, aber immer hatte ihn sofort wieder das Gebell des Bluthundes übertönt. Was gab es da auch noch groß für ihn zu kläffen? Der Präsident verrichtete ja von der ersten Minute an die Dienste des Anklägers, von der ersten Minute an hatte Feisler die Grundpflicht jedes Richters verletzt, der die Wahrheit ermitteln soll: er war höchst parteiisch gewesen.

Aber nach der Mittagspause, in der vom Präsidenten ein sehr reichhaltiges Mahl kartenfrei eingenommen war, zu dem es auch Wein und Schnaps gegeben hatte, war Feisler ein wenig müde. Was sollte auch noch alle Anstrengung? Die waren ja beide schon tot. Zudem war jetzt das Weib dran, diese kleine Arbeiterfrau – und die Weiber waren dem Präsidenten ziemlich gleichgültig, von seinem Richterstandpunkt aus. Die Weiber waren alle doof und nur zu einer Sache nütze. Sonst taten sie, was ihre Männer wollten.

Feisler litt es also gnädig, daß nun der Pintscher sich in den Vordergrund drängte und zu kläffen anhob. Mit halbgeschlossenen Augen lehnte er in seinem Richterstuhl, den Kopf gestützt, scheinbar aufmerksam zuhörend, in Wirklichkeit aber ganz seiner Verdauung hingegeben.

»Angeklagte, Sie waren doch schon ziemlich ältlich, als Ihr jetziger Mann Sie heiratete?«

»Ich war an die Dreißig.«

»Und vorher?«

»Ich verstehe das nicht.«

»Tun Sie bloß nicht so unschuldig, ich will wissen, was Sie vor Ihrer Ehe für Beziehungen zu den Männern hatten. Nun, wird's bald?«

Bei der abgrundtiefen Gemeinheit dieser Frage wurde Anna Quangel erst rot, dann blaß. Hilfeflehend sah sie zu ihrem ältlichen Verteidiger hin, der aufsprang und sagte: »Ich bitte, die Frage als nicht zur Sache gehörig zurückzuweisen!«

Und der Ankläger: »Meine Frage gehört zur Sache. Hier ist die Vermutung laut geworden, die Angeklagte sei nur eine Mitläuferin ihres Mannes gewesen. Ich werde beweisen, daß sie eine moralisch ganz tiefstehende Person war, aus dem Pöbel stammend, daß man sich bei ihr jedes Verbrechens zu versehen hat.«

Der Präsident erklärte gelangweilt: »Die Frage gehört zur Sache. Sie ist zugelassen.«

Der Pintscher kläffte neu: »Also mit wieviel Männern hatten Sie bis zu Ihrer Ehe Beziehungen?«

Alle Augen sind auf Frau Anna Quangel gerichtet. Einige Studenten im Hörerraum lecken sich die Lippen, jemand stöhnt wohlig.

Quangel sieht mit einiger Besorgnis auf Anna, er weiß doch, wie empfindlich sie in diesem Punkte ist.

Aber Anna Quangel hat sich entschlossen. Wie ihr Otto vorhin alle Bedenken wegen seiner Spargelder hinter sich geworfen hat, so war sie jetzt willens, schamlos vor diesen schamlosen Männern zu sein.

Der Ankläger hatte gefragt: »Also mit wieviel Männern hatten Sie bis zu Ihrer Ehe Beziehungen?«

Und Anna Quangel antwortet: »Mit siebenundachtzig.«

Jemand prustet im Zuhörerraum los.

Der Präsident wacht aus seinem Halbschlaf auf und sieht beinah interessiert auf die kleine Arbeiterfrau mit der gedrungenen Gestalt, den roten Bäckchen, der vollen Brust.

Quangels dunkle Augen haben aufgeleuchtet, nun hat er die Lider wieder tief über sie gesenkt.

Er sieht niemanden an.

Der Ankläger aber stottert völlig verwirrt: »Mit siebenundachtzig? Wieso grade mit siebenundachtzig?«

»Das weiß ich nicht«, sagt Anna Quangel ungerührt. »Mehr waren's eben nicht.«

»So?« sagt der Ankläger mißmutig. »So!«

Er ist sehr mißmutig, denn er hat die Angeklagte plötzlich zu einer interessanten Figur gemacht, was keineswegs in seiner Absicht lag. Auch ist er, wie die meisten Anwesenden, fest davon überzeugt, daß sie lügt, daß es vielleicht nur zwei oder drei Liebhaber waren, womöglich sogar keiner. Man könnte sie wegen Verhöhnung des Gerichts in Strafe nehmen lassen. Aber wie ihr diese Absicht beweisen?

Endlich entschließt er sich. Er sagt grämlich: »Ich bin fest davon überzeugt, daß Sie maßlos übertreiben, Angeklagte. Eine Frau, die siebenundachtzig Liebhaber gehabt hat, wird sich wohl kaum der Zahl erinnern. Sie wird antworten: Viele. Aber Ihre Antwort beweist grade Ihre Verkommenheit. Sie rühmen sich noch Ihrer Schamlosigkeit! Sie sind stolz darauf, eine Hure gewesen zu sein. Und aus der Hure sind Sie dann das geworden, was aus allen Huren gemeiniglich wird, Sie sind eine Kuppelmutter geworden. Den eigenen Sohn haben Sie verkuppelt.«

Jetzt hat er Anna Quangel doch gebissen, der Pintscher.

»Nein!« schreit Anna Quangel und erhebt bittend die Hände. »Sagen Sie doch das nicht! So etwas habe ich nie getan!«

»Das haben Sie nicht getan?« kläfft der Pintscher. »Und wie wollen Sie das nennen, daß Sie der sogenannten Braut Ihres Sohnes mehrfach nachts Unterkunft gewährt haben? Da haben Sie wohl Ihren Sohn unterdes ausquartiert? He? Wo hat denn diese Trudel geschlafen? Sie wissen doch, sie ist tot, ja, das wissen Sie doch? Sonst säße dieses Frauenzimmer, diese Mithelferin Ihres Mannes bei seinen Verbrechen, auch hier auf der Anklagebank!«

Aber die Erwähnung der Trudel hat Frau Quangel neuen Mut eingeflößt. Sie sagt, nicht zum Ankläger, sondern zum Gerichtshof hinüber: »Ja, gottlob, daß die Trudel tot ist, daß sie diese letzte Schande nicht miterlebt hat ...«

»Mäßigen Sie sich gefälligst! Ich warne Sie, Angeklagte!«

»Sie war ein gutes, anständiges Mädchen ...«

»Und trieb ihr fünf Monate altes Kind ab, weil sie keine Soldaten zur Welt bringen wollte!«

»Sie hat das Kind nicht abgetrieben, sie war unglücklich über seinen Tod!«

»Sie hat es selber eingestanden!«

»Das glaube ich nicht.«

Der Ankläger schreit los: »Was Sie hier glauben oder nicht, das ist uns gleich! Aber ich rate Ihnen dringend, Ihren Ton zu ändern, Angeklagte, sonst erleben Sie noch etwas sehr Unangenehmes! Die Aussage der Hergesell ist von dem Kommissar Laub protokolliert. Und ein Kriminalkommissar lügt nicht!«

Drohend sah sich der Pintscher im ganzen Saal um.

»Und nun ersuche ich Sie nochmals, Angeklagte, mir zu sagen: Hat Ihr Sohn in intimen Beziehungen zu diesem Mädchen gestanden oder nicht?«

»Danach sieht eine Mutter nicht hin. Ich bin keine Schnüfflerin.«

»Aber Sie hatten eine Aufsichtspflicht! Wenn Sie den unsittlichen Verkehr Ihres Sohnes in der eigenen Wohnung zulassen, haben Sie sich der schweren Kuppelei schuldig gemacht, so bestimmt es das Strafgesetzbuch.«

»Davon weiß ich nichts. Aber ich weiß, daß Krieg war und daß mein Junge vielleicht sterben mußte. In unsern Kreisen ist das so, wenn zwei verlobt sind oder so gut wie verlobt, und noch dazu Krieg ist, so sehen wir nicht so genau hin.«

»Aha, jetzt gestehen Sie also, Angeklagte! Sie haben von den unsittlichen Beziehungen gewußt, und Sie haben sie geduldet! Das nennen Sie dann: nicht so genau hinsehen. Aber das Strafgesetzbuch nennt es schwere Kuppelei, und eine Mutter ist schändlich und völlig verworfen, die so etwas duldet!«

»So, ist sie das? Na, dann möchte ich wohl wissen«, sagt Anna Quangel ganz ohne Angst und mit fester Stimme, »dann möchte ich wohl wissen, wie das Strafgesetzbuch das nennt, was der Bubi-drück-mich-Verein tut?«

Lebhaftes Lachen ...

»Und was die SA ausfrißt mit ihren Mädchen ...«

Das Lachen bricht ab.

»Und die SS – sie erzählen ja, die SS schändet die Judenmädchen erst und schießt sie hinterher tot ...«

Einen Augenblick Totenstille ...

Aber dann bricht der Tumult los. Sie schreien. Welche von den Zuhörern klettern über die Schranken und wollen auf die Angeklagte eindringen.

Otto Quangel ist aufgesprungen, bereit, seiner Frau zu Hilfe zu eilen ...

Der Schutzpolizist aber und die fehlenden Hosenträger behindern ihn.

Der Präsident steht da und gebietet heftig, aber vergeblich Ruhe.

Die Beisitzer reden laut miteinander.

Der Ankläger Pintscher kläfft und kläfft, und niemand versteht ein Wort ...

Schließlich wird Anna Quangel aus dem Saal geschleppt, der Lärm beruhigt sich wieder, der Gerichtshof zieht sich zur Beratung zurück ...

In fünf Minuten erscheint er wieder:

»Die Angeklagte Anna Quangel ist von der Teilnahme an der Verhandlung gegen sie ausgeschlossen. Sie bleibt von jetzt an in Fesseln. Dunkelarrest bis auf weiteres. Wasser und Brot nur jeden zweiten Tag.«

Die Verhandlung geht weiter.


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