Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

43.
Zwischenspiel: Ein Idyll auf dem Lande

Die Exbriefträgerin Eva Kluge arbeitet auf dem Kartoffelacker, genau wie sie es einmal geträumt hat. Es ist ein schöner, für die Arbeit ziemlich heißer Frühsommertag, der Himmel ist strahlend blau, und es ist, besonders hier in der geschützten Ecke nahe am Walde, fast windstill. Während des Hackens hat Frau Eva ein Kleidungsstück nach dem andern abgelegt; nun trägt sie nur noch Bluse und Rock. Ihre kräftigen nackten Beine, wie ihr Gesicht, wie ihre Arme, sind goldigbraun.

Ihre Hacke trifft Melde, Hederich, Disteln, Quecken – sie kommt nur langsam vorwärts, der Acker ist sehr verunkrautet. Oft trifft ihre Hacke auch einen Stein, da klingt es silbern-singend – das hört sich gut an. Nun gerät Frau Eva nahe dem Waldrand in ein Nest des roten Weiderichs – diese Senke ist feucht, die Kartoffeln kümmern, aber der rote Weiderich triumphiert. Eigentlich hat sie jetzt frühstücken wollen, und nach dem Stand der Sonne zu urteilen, wäre es auch Zeit dafür, aber nun will sie doch lieber erst diese Weiderichpest vernichten, ehe sie pausiert. Sie hackt angestrengt, ihre Lippen sind fest geschlossen. Sie hat es hier auf dem Lande gelernt, das Unkraut zu verachten, dieses Ungeziefer, erbarmungslos hackt sie drauflos.

Aber wenn Frau Evas Mund auch fest geschlossen ist, ihr Auge blickt klar und ruhig. Der Blick hat nicht mehr den strengen, stets versorgten Ausdruck wie vor zwei Jahren in ihrer Berliner Zeit. Sie ist ruhig geworden, sie hat überwunden. Sie weiß, daß der kleine Enno tot ist, Frau Gesch hat es ihr aus Berlin geschrieben. Sie weiß, daß sie beide Söhne verloren hat – Max ist in Rußland gefallen, und Karlemann ist ihr verloren. Sie ist noch nicht ganz fünfundvierzig Jahre alt, sie hat noch ein gutes Stück Leben vor sich, sie verzweifelt nicht, sie arbeitet. Sie will die ihr noch verbleibenden Jahre nicht einfach verwarten, sie will etwas schaffen.

Sie hat auch etwas, auf das sie sich alle Tage freuen kann: das ist das allabendliche Zusammensein mit dem Aushilfsschulmeister des Dorfes. Der »richtige« Lehrer Schwoch, ein wütendes Parteimitglied, ein kleiner, feiger Kläffer und Denunziant, der hundertmal mit Tränen in den Augen versichert hat, wie leid es ihm tue, daß er nicht an die Front dürfe, sondern nach dem Befehl des Führers auf seinem ländlichen Posten ausharren müsse – der »richtige« Lehrer Schwoch also ist nun doch trotz aller ärztlichen Atteste zur Wehrmacht eingezogen worden. Das ist nun fast ein halbes Jahr her. Aber der Weg zur Front muß für diesen Kampfbegeisterten schwierig sein: vorläufig sitzt der Lehrer Schwoch noch immer als Schreiber auf einer Zahlmeisterstube. Öfter fährt Frau Schwoch mit Speck und Schinken zu ihrem Mann, aber der Mann ißt wohl nicht alleine diese köstlichen Fettigkeiten –: Es habe geklappt, jetzt würde ihr guter Walter Unteroffizier, hat Frau Schwoch nach ihrer letzten Speckreise verkündet. Unteroffizier – wo doch nach einem Befehl des Führers Beförderungen nur bei der kämpfenden Truppe erfolgen durften. Aber für glühende Parteigenossen mit Schinken und Speck gelten solche Führerbefehle natürlich nicht.

Nun, Frau Eva Kluge ist das gleichgültig. Sie weiß jetzt genau, wie das alles ist, seit sie aus der Partei ausgetreten ist. Jawohl, sie war in Berlin; als sie wieder die nötige innere Ruhe gewonnen hatte, fuhr sie nach Berlin und stellte sich dem Parteigericht und dem Postamt. Es waren keine angenehmen Tage gewesen, bei weitem nicht, sie war angebrüllt, bedroht und während ihrer fünftägigen Haft auch einmal verprügelt worden, das KZ war ihr nahe gewesen – aber schließlich hatte man sie laufenlassen. Staatsfeindin – nun, sie würde es ja eines Tages noch erleben, was sie davon hatte.

Eva Kluge hatte ihren Hausstand aufgelöst. Vieles hatte sie verkaufen müssen, denn im Dorf hatte man ihr nur eine Stube bewilligt, aber sie wohnte jetzt für sich allein. Sie arbeitete auch nicht mehr bloß für den Schwager, der ihr am liebsten nur die Kost und nie Geld gegeben hätte, sie sprang überall bei den Bauern ein. Sie machte nicht nur Feld- und Hofarbeit, sondern betätigte sich auch als Krankenpflegerin, als Näherin, als Gärtnerin, als Schafschererin. Sie hatte geschickte Hände, eigentlich war es nie so, als wenn sie etwas Neues lernte, sondern als erinnere sie sich nur einer lange nicht ausgeübten Arbeit. Die steckte ihr im Blut, die Landarbeit.

Aber dieses ganze kleine, nun friedvolle Leben, das sie sich da in all dem Zusammenbruch aufgerichtet hatte, bekam erst sein rechtes Licht und seine Freude durch den stellvertretenden Lehrer Kienschäper. Kienschäper war ein langer, immer etwas vornübergebeugt gehender Mann ausgangs der Fünfziger, mit weißen flatternden Haaren und einem sehr braunen Gesicht, in dem junge blaue Augen lächelten. So wie Kienschäper die Kinder des kleinen Dorfes mit diesen lächelnden blauen Augen bändigte und sie aus der zackigen Erziehung seines Vorgängers in etwas menschlichere Gefilde führte, so wie er, mit einer Baumschere bewaffnet, durch die Bauerngärten ging und die wildwachsenden Obstbäume von Wasserschossen und totem Holz befreite, Krebswunden ausschnitt und mit Karbolineum verstrich – so hatte er auch die Wunden Evas geheilt, Bitterkeit aufgelöst, ihr Frieden gebracht.

Nicht gerade, daß er viel darüber gesprochen hätte, Kienschäper war kein großer Redner. Aber wenn er mit ihr auf seinem Bienenstand war und von dem Leben der Bienen erzählte, die er leidenschaftlich liebte, wenn er mit ihr abends durch die Felder ging und ihr zeigte, wie liederlich dieser Acker bestellt war und mit wie wenig Arbeit er wieder ertragreicher zu machen wäre, wenn Kienschäper einer Kuh beim Kalben half, einen umgefallenen Zaun, ohne gebeten zu sein, wieder aufrichtete, wenn er an der Orgel saß und sachte nur für sie und sich spielte, wenn alles hinter seinen Schritten geordnet und friedlich erschien – so tat das für Evas Befriedigung mehr als alle tröstenden Worte. Ein sich neigendes Leben in einer Zeit voller Haß, Tränen und Blut, aber friedevoll, Frieden atmend.

Die Lehrersfrau Schwoch, die noch nationalsozialistischer war als ihr kriegsbegeisterter Mann, haßte natürlich sofort diesen Kienschäper und tat ihm alles zum Tort, was ihrem gehässigen Hirn nur einfiel. Sie hatte den Stellvertreter ihres Mannes zu behausen und zu beköstigen, aber sie tat es mit solch genauer Berechnung, daß Kienschäper vor dem Schulanfang nie ein Frühstück bekam, daß sein Essen stets angebrannt war, seine Stube aber nie gesäubert.

Doch gegen seine heitere Gelassenheit war sie machtlos. Sie konnte sich erhitzen, stürmen, geifern, Übles von ihm reden, an der Tür des Klassenzimmers lauschen und dann beim Schulrat Denunziationen vorbringen – unverändert sprach er mit ihr wie mit einem ungezogenen Kind, das seine Unarten eines Tages schon von selbst einsehen wird. Und schließlich gab sich Kienschäper bei Frau Eva Kluge in Kost, zog ins Dorf, und die fette, zornige Schwoch konnte ihren Krieg nur noch aus der Ferne gegen ihn führen.

Wann Frau Eva Kluge und der weißhaarige Lehrer Kienschäper zuerst davon gesprochen hatten, daß sie heiraten könnten, wußten beide nicht. Vielleicht hatten sie auch nie davon gesprochen. Es hatte sich ganz von selbst ergeben. Sie hatten es auch nicht eilig damit – eines Tages, irgendwann, würde es soweit sein. Zwei alternde Leute, die keinen einsamen Feierabend haben wollten. Nein, keine Kinder mehr, nie wieder Kinder – davor schauderte Frau Eva. Aber Kameradschaft, verstehende Liebe und vor allem Vertrauen. Sie, die in ihrer ganzen ersten Ehe nie hatte vertrauen dürfen, sie, die immer hatte führen müssen, sie will sich jetzt die letzte Lebensstrecke vertrauensvoll führen lassen. Als es ganz dunkel war, da, als sie völlig verzagt hat, da trat noch einmal die Sonne durch die Wolken.

Der rote Weiderich liegt am Boden, fürs erste ist er einmal ausgerottet. Gewiß, er wird nachwachsen, das ist so ein Unkraut, das man beim Pflügen aus der lockeren Erde sammeln muß, jedes unterirdische Wurzelstückchen treibt immer wieder neu aus. Aber Frau Eva kennt jetzt die Stelle, sie wird sie nicht vergessen, sie wird so lange hierhergehen, bis der Weiderich völlig ausgerottet ist.

Eigentlich könnte sie jetzt frühstücken, es wäre Zeit dafür, ihr Magen sagt es auch. Aber als sie zu den im Schatten des Waldrandes hingelegten Broten und ihrer Kaffeeflasche hinblickt, sieht sie, daß sie nicht frühstücken wird, heute nicht, ihr Magen hat still zu sein. Denn da ist schon einer am Werk, ein vielleicht vierzehnjähriger Junge, unglaublich abgerissen und verdreckt, und er schlingt an ihren Broten, als sei er dem Verhungern nahe gewesen.

So sehr ist dieser Junge mit seiner Sättigung beschäftigt, daß er gar nicht darauf achtet, wie die Hacke im Unkrautacker still geworden ist. Er fährt erst zusammen, als die Frau direkt vor ihm steht, und starrt sie mit großen blauen Augen unter seinem verfilzten Schopf blonder Haare an. Obwohl er nun beim Stehlen erwischt und die Flucht nicht mehr möglich ist, blickt der Bengel nicht angstvoll oder schuldbewußt, sondern sein Auge sieht eher herausfordernd drein.

In den letzten Monaten hat das Dorf und in ihm Frau Kluge sich an diese Kinder gewöhnen gelernt: die Fliegerangriffe auf Berlin haben sich ständig gesteigert, und die Bevölkerung ist aufgefordert worden, ihre Kinder aufs Land zu schicken. Die Provinz ist mit Berliner Kindern überschwemmt. Aber seltsam, manche dieser Kinder konnten sich durchaus nicht an das stille Landleben gewöhnen. Hier hatten sie Ruhe, besseres Essen, ungestörten Nachtschlaf, aber sie hielten es nicht aus, es zog sie in die große Stadt zurück. Und sie machten sich auf den Weg; barfuß, um ein bißchen Essen bettelnd, ohne Geld, von den Landjägern bedroht, suchten sie unbeirrt ihren Weg in die fast allnächtlich brennende Stadt zurück. Aufgegriffen, in ihre ländliche Gemeinde zurückgeschickt, warteten sie es kaum ab, daß sie wieder ein bißchen aufgefüttert wurden, und sie liefen von neuem los.

Dieser da mit dem herausfordernden Blick, der Frau Evas Frühstücksbrot aß, war wohl schon lange unterwegs. Die Frau konnte sich nicht erinnern, je eine so zerlumpte, verdreckte Gestalt gesehen zu haben. Im Haar hingen ihm Strohhalme, und in den Ohren hätte man Mohrrüben säen können.

»Na, schmeckt's?« fragte Frau Kluge.

»Klar!« sagte er, und schon dies eine Wort verriet seiner Berliner Herkunft. Er sah sie an. »Willste mir vahaun?« fragte er.

»Nein«, sagte sie. »Iß nur ruhig weiter. Bei mir geht's auch mal ohne Frühstück, und du hast Hunger.«

»Klar!« sagte er wieder nur. Und dann: »Willste mir nachher laufenlassen?«

»Vielleicht«, antwortete sie. »Aber vielleicht bist du einverstanden, daß ich dich vorher wasche und deine Kleider ein bißchen in Ordnung bringe. Vielleicht finde ich auch noch eine passende heile Hose für dich.«

»Det laß man!« sagte er abweisend. »Die verscheuer ick bloß, wenn ick Kohldampf habe. Wat denkste, wat ick alles schon verscheuert habe in dem Jahr, wo ick uff de Walze bin! Mindestens fuffzehn Hosen! Und zehn Paar Schuhe!«

Er sah sie triumphierend an.

»Und warum erzählst du mir das?« fragte sie. »Für dich wäre es doch vorteilhafter gewesen, du hättest die Hose genommen und mir nichts gesagt.«

»Weeß ick nich«, sagte er. »Valleicht weil de mir nich ausgeschimpft hast, weil ick dein Frühstück jeklaut habe. Ick finde Schimpfen blöde.«

»Also ein Jahr bist du schon unterwegs?«

»Det is 'n bißchen jeprahlt. Den Winter über bin ick unterjekrochen. Bei so 'nem Kneipier in 'nem Kaff. Hab die Schweine jefüttert und Bierjläser jewaschen, ick hab allet jemacht. Det war 'ne janz jute Zeit«, sagte er nachdenklich, »'ne ulkige Kruke, der Jastwirt. Imma besoffen, aber mit mir hat er jeredet, als wär ick detselbe wie er, ebenso alt und so. Da ha'ck Schnapstrinken und Rauchen jelernt. Magste ooch Schnaps?«

Frau Kluge verschob die Erörterung der Frage, ob Schnapstrinken für vierzehnjährige Jungens gerade rätlich sei, auf später.

»Aber du bist dann da doch wieder fortgelaufen? Willst du zurück nach Berlin?«

»Nee«, sagte der Junge. »Bei meine Leute jeh ick nich mehr. Die sind mir zu jewöhnlich.«

»Aber deine Eltern werden sich Sorgen um dich machen; sie wissen doch gar nicht, wo du steckst!«

»Die un Sorjen! Die sind froh, det se mir los sind!«

»Was ist denn dein Vater?«

»Der? Ach, der is so 'n bißken von allet: Louis un Spitzel, und klauen tut der ooch. Wenn a wat zu klauen findt. Bloß, er is dußlig, er findt nie wat Rechts.«

»So«, sagte Frau Kluge, und nach diesen Eröffnungen klang ihre Stimme doch etwas schärfer. »Und was sagt deine Mutter dazu?«

»Meine Mutta? Wat soll die sag'n? Die is doch ooch bloß Nutte!«

Batsch! Nun hatte er doch, trotz ihres Versprechens, seine Ohrfeige weg.

»Schämst du dich denn gar nicht, so von deiner Mutter zu reden? Pfui Deibel!«

Der Bengel rieb sich, ohne die Miene zu verziehen, die Backe.

»Die hat jesessen«, stellte er fest. »Von der Sorte möchte ick nich mehr.«

»Du sollst nicht so von deiner Mutter sprechen! Verstehst du?« sagte sie zornig.

»Warum denn nich!« fragte er und lehnte sich zurück. Er blinzelte, jetzt völlig gesättigt, behaglich auf seine Gastgeberin. »Warum denn nich! Wo se doch mal 'ne Nutte is. Sie sagt's doch selber. ›Wenn ick nich uff'n Strich ginge‹, hat se oft jesacht, ›müßtet ihr alle vahungern!‹ Wa sind nemlich fümf Jeschwister, aba alle mit 'n andern Vata. Meiner soll 'n Rittajut in Pommern hab'n. Ick wollt 'n eijentlich suchen jehn un ihn ma bekieken. Muß 'ne ulkige Pflaume sein, Kuno-Dieter heißt a mit Vornamen. Es kann nich ville mit so 'n dußligen Vornamen jebn, finden müßt ick ihn eijentlich ...«

»Kuno-Dieter«, sagte Frau Kluge. »Du heißt also auch Kuno-Dieter?«

»Sach man lieber Kuno, den Dieter kannste dir an 'n Hut stecken!«

»Also, Kuno, sag mal, in welche Gemeinde bist du denn evakuiert? Wie heißt das Dorf, wohin du mit der Bahn gefahren bist?«

»Ick bin doch nich evakuiert! Ick bin doch von meine Ollen jetürmt!«

Er lag jetzt auf der Seite, die schmutzige Backe ruhte auf dem ebenso schmutzigen Unterarm. Er blinzelte sie träge an, völlig bereit zu einem kleinen Klatsch. »Ick will dir erzählen, wie allet jekommen is. Also, wat mein sojenannter Vata is, der hat mich damals, det is schon über 'n Jahr her, um fuffzig Emm beschissen, und dazu hat a mir noch vakloppt. Na, da ha'ck mir 'n paar Freunde jeholt, det heeßt, Freunde waren's eijentlich ooch nich, so Halbstarke, weeßte, und denn sind wa alle über Vatan her und haben nu ma ihn vatrimmt. Det war den Mann janz jesund, hat a doch mal jelernt, det det nich imma so jeht: die Jroßen uff de Kleenen! Und denn ha'm wa ihn noch sein Jeld aus die Tasche jeklaut. Ick weeß nich, wieviel 's jewesen ist, die Jroßen von uns ham's jeteilt. Ick hab bloß zwanzich Emm jekricht, und denn ha'm se mir jesacht: Hau du bloß ab, dein Olla schlächt dir tot oder steckt dir in Fürsorge. Mach uff't Land bei de Bauern. Und da bin ick denn uff't Land bei de Bauern jemacht. Un een janz schönet Leben ha'ck seitdem jeführt, det kann ick wohl behaupten!«

Er schwieg und sah sie wieder an.

Sie sah still auf ihn hinunter, sie dachte an Karlemann. Dieser war nur drei Jahre später auch ein Karlemann, ohne Liebe, ohne Glauben, ohne Streben, nur auf sich selbst bedacht.

Sie fragte: »Und was, denkst du, soll einmal aus dir werden, Kuno?« Und sie setzte hinzu: »Du willst wohl später mal zu der SA oder zu der SS?«

Lang gedehnt: »Bei die Brüder? So blau! Die sind ja noch schlimma wie Vata! Imma bloß schimpfen un kommandieren! Nee, danke für Backobst, det is nischt für mich!«

»Aber vielleicht würde es dir Spaß machen, wenn du erst andere kommandieren kannst?«

»Wieso denn det? Nee, ich bin for so wat nich. Weeßte – wie heißte eijentlich?«

»Eva – Eva Kluge.«

»Weeßte, Eva, wat mir richtig Spaß machen würde, det wäre Auto. Von't Auto möcht ick jerne allet wissen, woso der Motor funktioniert und wie det is mit Vajaser un Zündung – nee, nich, wie det is, det weeß ick schon halweje, aba warum det so is ... Aba det möcht ick schon ma wissen, bloß, for so wat bin ich zu doof. Mir ha'm se in meine Jugend zu ville uff de Birne jekloppt, seitdem is die weech. Nich ma richtig schreiben kann ick!«

»Aber so dumm siehst du gar nicht aus! Ich bin sicher, du lernst das, das Schreiben und später auch das mit den Motoren.«

»Lernen? Nochma in de Schule jehn? Knif, kommt nicht in Frage, für so wat bin ick schon zu alt. Ick hab doch schon zwei Jeliebte jehabt.«

Einen Augenblick schauderte ihr. Aber dann sagte sie mutig: »Glaubst du denn, so ein Ingenieur oder Techniker hat je ausgelernt? Die müssen doch immer weiterlernen, auf der Hochschule oder in Abendkursen.«

»Weeß ick doch! Weeß ick doch allet! Det steht ja an de Litfaßsäulen! Abendkurse für fortgeschrittene Elektrotechniker –« plötzlich sprach er ein ganz fehlerfreies Deutsch – »die Grundlage der Elektrotechnik.«

»Na also!« rief Frau Eva. »Und du denkst, du bist zu alt für so was! Du willst nichts mehr lernen? Du willst dein Lebtag ein Penner bleiben, der den Winter über Gläser wäscht und Holz hackt? Das wird ja ein nettes Leben werden, viel Spaß wird dir das nicht machen!«

Er hatte die Augen jetzt wieder weit geöffnet und sah sie forschend, aber auch mißtrauisch an.

»Du willst wohl, det ick bei meine Leute zurückmache und in Berlin zur Schule jeh? Oder willste mir in Fürsorge stecken?«

»Nichts von beiden. Ich will sehen, daß du bei mir bleiben kannst. Und dann will ich dich selber unterrichten, und ein Freund von mir.«

Er blieb mißtrauisch. »Un wat vadienst du denn bei det Jeschäft? Ick würde dir doch 'ne Masse kosten, mit Essen un Kleider un Schulbücher und so weiter.«

»Ich weiß nicht, ob du das verstehen wirst, Kuno. Ich habe mal einen Mann und zwei Jungens gehabt, die habe ich verloren. Und nun bin ich ganz allein, nur den einen Freund habe ich noch!«

»Da kannste doch noch 'n Kind kriejen!«

Sie wurde rot, sie, die alternde Frau, errötete unter dem Blick des vierzehnjährigen Jungen.

»Nein, ich kann keine Kinder mehr kriegen«, sagte sie und sah ihn fest an. »Aber es würde mir Freude machen, wenn du noch etwas würdest, ein Autoingenieur oder ein Flugzeugkonstrukteur. Das würde mir Freude machen, daß ich aus so einem Jungen, wie du bist, noch etwas gemacht habe.«

»Du denkst woll, ick bin een janz jemeenet Aas?«

»Das weißt du doch selbst, daß jetzt nicht viel mit dir los ist Kuno!«

»Da haste recht. Det muß wahr sind!«

»Und du hast keine Lust, was anderes zu werden?«

»Lust schon, aber ...«

»Aber was? Möchtest du nicht zu mir kommen?«

»Möchten schon, aba ...«

»Was ist das noch für ein Aber?«

»Ick denk imma, du krichst mir schnell üba, und fortschicken laß ick mir nich jerne, ick jeh lieba von alleene.«

»Du kannst jeden Tag von mir fortgehen, ich werde dich nie halten.«

»Is det ein Wort?«

»Das ist ein Wort, ich verspreche es dir, Kuno. Bei mir bist du ganz frei.«

»Aba, wenn ick bei dir bin, denn muß ick richtig jemeldet wer'n und denn wissen's ooch meine Ollen, wo ick bin. Die lassen mir nich eenen Tach bei dir.«

»Wenn das so aussieht bei euch zu Haus, wie du erzählt hast, wird dich keiner zwingen, zurückzugehen. Vielleicht werden mir dann die Rechte übertragen, und du bist ganz mein Junge ...«

Einen Augenblick sahen sich die beiden an. Sie meinte, in diesem blauen, gleichgültigen Blick einen fernen Glanz zu entdecken. Aber dann sagte er – und legte den Kopf auf den Arm, schloß die Augen: »Na, denn schön. Denn will ick ma 'n bißken schlafen. Jeh du man wieder bei deine Kartoffeln!«

»Aber Kuno!« rief sie. »Du mußt mir doch wenigstens eine Antwort auf meine Frage geben!«

»Muß ick?« fragte er sehr schläfrig. »Keen Mensch muß müssen.«

Sie sah ein Weilchen zweifelnd auf ihn herab. Dann ging sie mit einem leichten Lächeln wieder an ihre Arbeit.

Sie hackte, aber jetzt hackte sie ganz gedankenlos. Zweimal ertappte sie sich dabei, daß sie eine Kartoffel umgelegt hatte. Paß doch auf, Eva! sagte sie dann ärgerlich zu sich selbst.

Aber viel besser paßte sie darum doch nicht auf. Sondern sie dachte daran, daß es vielleicht besser sei, wenn es mit diesem verkommenen Jungen und ihr nichts würde. Wieviel Liebe und Arbeit hatte sie in den Karlemann gesteckt, der ein unverdorbenes Kind gewesen war – und was war aus Liebe und Arbeit geworden? Und sie wollte einen vierzehnjährigen Bengel, der das ganze Leben und alle Menschen verachtete, noch einmal völlig umändern? Was hatte sie sich da eingebildet? Außerdem würde Kienschäper nie damit einverstanden sein ...

Sie sah sich nach dem Schläfer um. Aber der Schläfer war nicht mehr da, allein lagen ihre Sachen im Schatten des Waldrandes.

Also gut! dachte sie bei sich. Er hat mir schon jede Entscheidung abgenommen. Ausgerissen! Um so besser!

Und sie hackte zornig drauflos.

Aber einen Augenblick später entdeckte sie Kuno-Dieter auf dem andern Ende des Kartoffelackers, wie er fleißig Unkraut ausriß und die Bündel am Feldrand aufschichtete. Sie stieg über die Furchen fort zu ihm hin.

»Schon ausgeschlafen?« fragte sie.

»Kann nich schlafen«, sagte er. »Mir haste den Kopp dußlig jeredt. Muß nachdenken.«

»Denn tu das man! Aber denk nicht, daß du meinetwegen arbeiten mußt.«

»Deinetwegen!« Soviel Verachtung, wie er in dieses eine Wort legte, war gar nicht auszudenken. »Ick reiß Unkraut aus, weil sich's dabei besser nachdenkt, und weil's mir eben Spaß macht. Wahrhaftig! Wejen dir! Für die paar Sechserstullen meenste?«

Wieder ging Frau Eva Kluge mit einem stillen Lächeln an ihre Arbeit zurück. Und er tat es doch ihretwegen, wenn er es auch nicht einmal vor sich selber wahrhaben wollte. Jetzt hatte sie keinen Zweifel mehr, daß er mittags mit ihr gehen würde, und davor verloren alle mahnenden und warnenden Stimmen, die in ihr laut geworden waren, an Gewicht.

Früher als sonst machte sie Schluß mit der Arbeit. Sie ging wieder zu dem Jungen zurück und sagte zu ihm: »Ich mach jetzt Mittag. Wenn du willst, Kuno, kannst du mit mir kommen.«

Er riß noch ein paar Unkräuter aus und sah dann auf das gesäuberte Stück, »'ne janz schöne Ecke ha'ck jeschafft«, sagte er befriedigt. »Natürlich ha'ck nur det jrobe Unkraut jenomm, for det kleene mußte noch mal mit de Hacke langjehn, det schafft denn aba mehr.«

»Natürlich«, sagte sie. »Nimm du nur das grobe Unkraut weg, mit dem kleinen will ich schon fertig werden.«

Er sah sie wieder von der Seite an, und sie merkte, daß diese blauen Augen auch schelmisch blicken konnten.

»Det soll woll 'ne Anspielung sind?« erkundigte er sich.

»Wie du meinst«, sagte sie. »Es braucht keine zu sein.«

»Na denn!«

Sie blieb stehen auf dem Rückweg, an einem kleinen, eilig dahinströmenden Wasser.

»Ich möchte dich so, wie du aussiehst, nicht mit ins Dorf nehmen, Kuno«, sagte sie.

Sofort erschien eine Falte auf seiner Stirn, und er fragte argwöhnisch: »Du schämst dir woll for mir?«

»Natürlich kannst du auch so mitkommen, meinetwegen«, sagte sie. »Aber wenn du länger im Dorf bleiben willst, und du kannst fünf Jahre da sein und immer ordentlich gekleidet herumlaufen, die Bauern vergessen doch nie, wie du zu ihnen gekommen bist. Wie ein Dreckschwein, werden sie noch in zehn Jahren sagen. Wie ein Penner.«

»Da haste recht«, sagte er. »So sind die Brüder. Na, denn mach ma und hol Zeuch! Ick will ma sehn, det ick mir unterdes hier 'n bißken abschrubbe.«

»Ich bringe Seife und Bürste mit«, rief sie noch und machte sich eilig auf den Weg ins Dorf.

Später am Tage, sehr viel später am Tage, schon am Abend, als sie zu dreien ihr Abendbrot gegessen hatten: Frau Eva, der weißhaarige Kienschäper und ein fast bis zur Unkenntlichkeit verwandelter Kuno-Dieter, später also sagte Frau Eva: »Heute schläfst du hier noch auf dem Heuboden, Kuno. Von morgen an kriege ich die kleine Kammer, sie müssen nur erst das Gerümpel rausstellen. Ich richte sie dir hübsch ein. Möbel habe ich genug.«

Kuno sah sie nur an. »Det soll heeßen, det ick jetzt zu vaduften habe«, sagte er, »det de Herrschaften unter sich sein wollen. Na denn! Aba schlafen jeh ick jetzt noch nich, Eva, ick bin doch keen Siebenmonatskind. Ick wer mir erst ma det Kaff bekieken.«

»Aber laß es nicht zu spät werden, Kuno! Und rauch nicht auf dem Heuboden!«

»I wo denn! Wo wer ick! Ick wär ja der erste, der abnibbeln müßte. Na denn! Ville Spaß noch, junge Leute, sagte der Vata, da machte er Mutta een Kind!«

Und Herr Kuno-Dieter ging ab.

Frau Eva Kluge lächelte etwas bekümmert. »Ich weiß doch nicht, Kienschäper«, sagte sie, »ob ich grade recht daran getan habe, dieses Früchtchen in unsere kleine Familie aufzunehmen. Er ist eine Zumutung, das ist er!«

Kienschäper lachte. »Aber Evi«, sagte er, »du mußt doch selber merken, daß der Junge jetzt nur angibt! Der will sich hier ganz groß zeigen! Auch in aller Scheußlichkeit. Und gerade, weil er merkt, du bist ein bißchen zimperlich ...«

»Ich bin doch nicht zimperlich!« rief sie. »Aber wenn mir ein vierzehnjähriger Junge erzählt, er hat schon zwei Geliebte gehabt ...«

»... so bist du eben doch zimperlich, Evi. Und was heißt übrigens zwei Geliebte, die er bestimmt gar nicht gehabt hat, sondern im schlimmsten Falle haben sie ihn gehabt! Das heißt gar nichts! Ich will es deinen Ohren ersparen, Evi, dir zu erzählen, was die Kinder dieses schlichten, frommen Dorfes alles miteinander vorhaben, dagegen ist dein Kuno-Dieter noch Gold!«

»Aber die Kinder reden nicht davon!«

»Weil sie ein schlechtes Gewissen haben. Er aber hat keines, sondern sieht es ganz natürlich an, weil er es nämlich nie anders gesehen und gehört hat. Das gibt sich alles. Ein guter Kern steckt in dem Jungen; in einem halben Jahr wird er schon schamrot werden, wenn er an das denkt, was er dir in den ersten Tagen alles gesagt hat. Er wird's ablegen, genauso wie sein Berlinisch. Hast du gemerkt, er kann ganz gut hochdeutsch reden, er will bloß nicht.«

»Ich habe ein schlechtes Gewissen, besonders vor dir, Kienschäper.«

»Das brauchst du nicht zu haben, Evi. Der Junge macht mir Spaß, und dessen sei sicher, er mag werden, wie er will: einer aus dem Hitlerdutzend wird er nie. Vielleicht ein Sonderling, aber nie ein Parteimann.«

»Das gebe Gott!« sagte Eva. »Mehr will ich ja gar nicht erreichen.«

Und sie hatte das dunkle Gefühl, als mache sie mit dem geretteten Kuno-Dieter die von Karlemann begangenen Schandtaten ein bißchen wieder gut.


 << zurück weiter >>