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29.
Ennos Austreibung

Zwei Stunden später war alles ausgestanden. Der Münchner Schnellzug war mit Borkhausen in einem Abteil zweiter Klasse aus der Halle des Anhalter-Bahnhofs gerollt, mit einem lächerlich angeberischen, geschwollenen Borkhausen, der zum ersten Male in seinem Leben ein Abteil zweiter Klasse benutzte. Ja, Frau Häberle, die auch großzügig sein konnte, hatte diesem kleinen Spitzel auf seine Bitte hin im Zuge noch eine Zuschlagskarte Zweiter gelöst, um ihn bei guter Laune zu halten, oder auch, weil sie selbst froh war, diesen Kerl für mindestens zwei Tage los zu sein.

Nun, als sich die andern Reisebegleiter langsam durch die Sperre drängten, sagte sie leise zu Enno: »Warte einmal, Enno, wir setzen uns einen Augenblick da in den Wartesaal und überlegen, was nun zu tun ist.«

Sie setzten sich so, daß sie die Eingangstür im Auge hatten. Der Wartesaal war nur mäßig besetzt, nach ihnen kam eine lange Zeit keiner mehr herein.

Frau Hete fragte: »Hast du darauf geachtet, Enno, was ich dir gesagt habe? Glaubst du, daß wir beobachtet worden sind?«

Und Enno Kluge mit seinem gewohnten Leichtsinn, kaum war die dringendste Gefahr vorüber: »I wo! Beobachtet? Glaubst du, jemand läßt sich von so 'nem Idioten, wie es Borkhausen ist, schicken? So blau! So dußlig ist keiner!«

Sie hatte es auf der Zunge, ihm zu sagen, daß sie diesen Borkhausen mit seiner argwöhnischen Gerissenheit für erheblich intelligenter hielt als den kleinen, feigen, leichtsinnigen Mann an ihrer Seite. Aber sie sagte es nicht. Sie hatte es sich heute früh beim Umkleiden zugeschworen, daß es mit allen Vorwürfen vorbei sein sollte. Ihre Aufgabe war nur noch, diesen Enno Kluge in Sicherheit zu bringen. War diese Aufgabe erfüllt, wollte sie ihn nie wiedersehen.

Er sagte aus dem immer wieder gleichen Gedanken heraus, der ihn seit einer Stunde quälte, er sagte voll Neid: »Wenn ich du wäre, ich hätte diesem Kerl nie zweitausendeinhundert Mark bezahlt. Und dann noch zweihundertfünfzig Mark Reisespesen. Und dann noch Fahrkarte und Zuschlagkarte. Du hast dem Kerl über zweitausendfünfhundert gegeben, so 'nem Schwein! Ich hätt's nie getan!«

Sie fragte: »Und was wäre aus dir geworden, wenn ich's nicht getan hätte?«

»Hättest du mir zweitausendfünfhundert gegeben, du hättest sehen sollen, wie fein ich das Ding gedreht hätte! Das kannst du glauben, der Borkhausen wäre auch mit fünfhundert zufrieden gewesen!«

»Tausend hat ihm ja schon die Gestapo versprochen!«

»Tausend – da muß ich doch lachen! Als wenn die auf der Gestapo mit den Tausendern nur so schmissen! Und dann noch an so einen kleinen Spitzel, wie es der Borkhausen ist! Dem brauchen sie doch nur zu befehlen – und er muß tun, was sie wollen, für fünf Mark Tagegeld! Tausend, zweitausendfünfhundert – der hat dich aber bildschön gerupft, Hete!«

Er lachte spöttisch.

Seine Undankbarkeit verletzte sie. Aber sie hatte keine Lust, sich mit ihm auf Erörterungen einzulassen. Sie sagte nur etwas scharf: »Ich will davon nicht mehr reden! Verstehst du, ich will nicht!« Sie sah ihn so lange fest an, bis seine blassen Augen sich senkten. »Wir wollen jetzt lieber überlegen, was wir nun mit dir tun.«

»Ach, das hat doch noch Zeit«, sagte er. »Vor übermorgen kann er nicht zurück sein. Wir gehen jetzt zum Geschäft zurück, bis übermorgen fällt uns schon was ein.«

»Ich weiß nicht, ich möchte dich nicht wieder ins Geschäft mitnehmen, oder höchstens, um deine Sachen zu packen. Ich bin so unruhig – vielleicht sind wir doch bespitzelt worden?«

»Aber ich sage dir, wir sind's nicht! Ich versteh mehr von so was als du! Und der Borkhausen kann sich auch nie einen Spitzel halten, der hat ja nie Geld!«

»Aber die Gestapo kann ihm einen stellen!«

»Und der Spitzel von der Gestapo sieht zu, wie der Borkhausen nach München, fährt und ich ihn zur Bahn bringe! So blau, Hete!«

Sie mußte zugeben, daß er mit diesem Einwand recht hatte. Aber ihre Unruhe blieb. Sie fragte: »Ist dir das nicht aufgefallen mit den Zigaretten?«

Er erinnerte sich nicht mehr. Sie mußte es ihm erst erzählen, wie der Borkhausen, sie waren kaum aus dem Haus, überall nach Zigaretten herumsuchte, er mußte durchaus welche haben. Er hatte auch Hete und Enno deswegen angeschnorrt. Aber die hatten auch keine, Enno hatte in der Nacht alle aufgeraucht. Borkhausen war aber dabei geblieben, er müsse welche haben, er hielte das nicht aus, er sei es gewohnt, eine am Morgen zu stoßen. Er hatte sich rasch von Hete zwanzig Mark »geborgt« und einen älteren Jungen angerufen, der mit viel Geschrei auf der Straße herumspielte.

»Du, hör mal, Ede, weeßte hier nich wen, bei den du Zigaretten krichst? Aber Tabakkarte hab ick keene.«

»Valleicht weeß ick eenen. Ha'm Se denn Jeld?«

Es war ein sehr blonder, blauäugiger Junge in der Tracht des Jungvolks gewesen, mit dem Borkhausen da gesprochen hatte, ein echtes, helles Berliner Gewächs.

»Na, jeb'n Se ma den Zwanzijer her, ick wer hol'n ...«

»Und det Wiederkomm vajess'n! Nee, ick jeh mit dir. Augenblick mal, Frau Häberle!«

Damit waren die beiden in einem Hause verschwunden. Nach einer Weile war dann Borkhausen allein zurückgekommen und hatte Frau Hete die zwanzig Mark ohne alle Aufforderung zurückgegeben.

»Die hatten keine. Der Rotzjunge hat mich natürlich bloß um die zwanzig Mark beschummeln wollen. Ich hab ihm aber eine geschallert, der liegt noch auf dem Hof!«

Sie waren weitergegangen, zur Post, zum Reisebüro.

»Na, und was findest du da Komisches bei, Hete? Der Borkhausen ist da wie ich: Wenn es den roochert, der ist imstande und quatscht 'nen General auf der Straße an und bittet ihn um die Kippe!«

»Aber er hat hinterher nicht ein Wort mehr von Zigaretten gesagt, trotzdem er keine gekriegt hat! Ich finde das komisch. Ob er doch was mit dem Jungen vorgehabt hat?«

»Was soll er denn mit dem Jungen vorgehabt haben, Hete? Dem hat er eine geschallert, das wird schon stimmen.«

»Ob der Bengel vielleicht unser Aufpasser ist?«

Einen Augenblick stutzte selbst Enno Kluge. Aber dann sagte er mit seinem gewohnten Leichtsinn: »Was du dir alles wieder einbildest! Deine Sorgen möchte ich wirklich haben!«

Sie schwieg. Aber die Unruhe saß weiter in ihr, und so bestand sie auch darauf, daß sie jetzt nur kurz in den Laden gingen, um seine Sachen zu holen. Dann wollte sie ihn mit aller erdenklichen Vorsicht bei einer Freundin unterbringen.

Ihm paßte das gar nicht. Er fühlte: Sie wollte sich von ihm lösen. Und er wollte nicht gehen. Bei ihr war Sicherheit und gutes Essen und nicht mehr Arbeit, als ihm behagte. Und Liebe und Wärme und Trösten. Und dann: Sie war so ein gutes Wollschaf, der Borkhausen hatte sie eben um zweitausendfünfhundert geschoren, nun war er dran!

»Deine Freundin!« sagte er unzufrieden. »Was ist denn das für eine Frau? Ich gehe nicht gern bei fremde Leute.«

Hete hätte ihm sagen können, daß diese Freundin eine alte Mitarbeiterin ihres Mannes war, daß sie jetzt noch in aller Stille weiterwirkte, und daß jeder Verfolgte bei ihr Zuflucht fand. Aber sie mißtraute jetzt Enno, ein paarmal hatte sie ihn schon feige gesehen, er mußte nicht zuviel wissen.

»Meine Freundin?« sagte sie darum. »Das ist eine Frau wie ich. In meinen Jahren. Vielleicht ein paar Jahre jünger.«

»Und was tut sie? Wovon lebt sie?« forschte er weiter.

»Weiß ich nicht genau, ist wohl irgendwo Sekretärin. Übrigens ist sie unverheiratet.«

»In deinen Jahren, wenn sie das ist, dann wird's aber langsam Zeit«, sagte er spöttisch.

Sie zuckte zusammen, antwortete aber nicht.

»Nee, Hete«, sagte er und gab seiner Stimme einen zärtlichen Ton. »Was soll ich denn bei deiner Freundin? Wir beide allein, das ist doch das Schönste. Laß mich bei dir bleiben – der Borkhausen kommt ja erst übermorgen – wenigstens bis übermorgen!«

»Nein, Enno!« sagte sie. »Ich möchte jetzt, daß du das tust, was ich dir sage. Ich gehe allein in die Wohnung und packe. Du kannst unterdessen in einer Wirtschaft warten. Dann fahren wir gemeinsam zu meiner Freundin.«

Er hatte noch viele Widerworte, aber schließlich fügte er sich. Er fügte sich, als sie – nicht ohne Berechnung – sagte: »Du wirst auch Geld brauchen. Ich lege dir Geld obenauf in deinen Koffer, genug, daß du für die erste Zeit aus der Not bist.«

Die Aussicht, bald Geld in seinem Koffer zu finden (und sie konnte ihm doch unmöglich weniger geben, als sie dem Borkhausen gegeben hatte!), diese Aussicht lockte ihn, bestimmte ihn. Blieb er bis übermorgen bei ihr, gab es erst übermorgen Geld. Er aber wollte sofort wissen, wieviel sie ihm zugedacht hatte.

Sie sah mit Kummer, was ihn zum Einlenken bestimmte. Er sorgte selbst dafür, daß der letzte Rest von Achtung und Liebe in ihr zerstört wurde. Aber sie fand sich darein ohne Murren. Sie wußte es längst aus ihrem Leben, daß man für alles bezahlen mußte, und für das meiste mehr, als es wert war. Die Hauptsache blieb, daß er ihr jetzt den Willen tat.

Als Frau Hete Häberle sich ihrer Wohnung näherte, sah sie wieder den blonden, blauäugigen Jungen von vorhin mit einer Rotte anderer auf der Straße toben. Sie schreckte zusammen. Dann winkte sie ihn zu sich heran: »Was machst du denn hier immer noch?« fragte sie. »Mußt du denn ausgerechnet hier rumtoben?«

»Ick wohn hier doch!« sagte er. »Wo soll ick denn sonst toben?«

Sie spähte nach den Spuren von einem Schlag in seinem Gesicht, aber sie konnte nichts sehen. Sichtlich hatte der Bengel sie nicht wiedererkannt, bei seinem Gespräch mit Borkhausen hatte er sie wohl gar nicht beachtet. Das würde gegen Spitzelei sprechen.

»Hier wohnst du?« fragte sie. »Ich hab dich doch noch nie hier auf der Straße gesehen.«

»Kann ick for Ihre Oogen?!« fragte er frech. Er pfiff durchdringend den Ludenpfiff auf einem Finger. Er schrie an dem Hause hoch: »Mutta, kiek mal aus't Fenster! Da is 'ne Frau, die will nich gloob'n, dette schielst! Mutta, schiel ihr mal watt!«

Lachend lief Frau Hete in ihren Laden, jetzt auch völlig überzeugt, daß sie, was diesen Jungen anlangte, Gespenster gesehen hatte.

Aber beim Packen wurde sie wieder ernst. Ihr kamen Bedenken, ob sie auch recht daran tat, den Enno zu ihrer Freundin Anna Schönlein zu bringen. Gewiß, die Änne riskierte alle Tage ihr Leben für jeden Unbekannten, dem sie Obdach gewährte. Aber der Frau Hete war es, als schmuggle sie der Änne doch mit Enno Kluge ein rechtes Kuckucksei ein. Zwar schien der Enno wirklich ein politischer, kein gewöhnlicher Verbrecher, das hatte jetzt sogar der Borkhausen bestätigt, aber ...

Er war so leichtsinnig, nicht so sehr aus Unbedachtheit, sondern aus einer völligen Gleichgültigkeit gegen das Schicksal seiner Mitmenschen heraus. Es kam ihm gar nicht darauf an, was mit ihnen geschah. Er dachte immer nur an sich, und er war imstande, jeden Tag zweimal zu ihr, zur Hete, zu laufen, unter dem Vorgeben, er sehne sich nach ihr, und zog so alle Gefahr auf Ännes Kopf. Sie, die Hete, hatte Autorität über ihn, die Änne aber nicht.

Mit einem schweren Seufzer tut Frau Hete Häberle dreihundert Mark in einen Umschlag, den sie oben in den Koffer legt. Heute hat sie mehr Geld ausgegeben, als sie in zwei Jahren gespart hat. Aber sie wird noch ein weiteres Opfer bringen, sie wird dem Enno für jeden Tag, an dem er die Wohnung der Freundin überhaupt nicht verläßt, hundert Mark versprechen. Er ist ja leider so, daß sie ihm einen solchen Vorschlag machen kann. Er wird nicht gekränkt sein, er wird höchstens im ersten Augenblick ein bißchen gekränkt tun. Aber das wird ihn wohl im Hause halten, er ist auf Geld gierig.

Mit dem Koffer in der Hand verläßt Frau Hete das Haus. Der blonde Junge spielt nicht mehr auf der Straße, vielleicht ist er jetzt bei seiner schielenden Mutter. Sie geht zu der Kneipe am Alexanderplatz, wo sie den Enno treffen wird.


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