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18.
Die erste Karte wird abgelegt

Sie wagt es erst auf der Straße, ihm davon zu sprechen, so wortkarg war Otto an diesem Vormittag. »Wo willst du die Karte hinbringen, Otto?«

Er antwortet mürrisch: »Sprich jetzt nicht davon. Nicht jetzt auf der Straße.«

Und dann setzt er doch noch widerwillig hinzu: »Ich habe mir ein Haus in der Greifswalder Straße ausgesucht.«

»Nein«, sagt sie entschieden. »Nein, tu das nicht, Otto. Das ist falsch, was du da tun willst!«

»Komm!« sagt er böse, denn sie ist stehengeblieben. »Ich sage dir doch nicht hier auf der Straße!«

Er geht weiter, sie folgt ihm und besteht auf ihrem Recht, mitzusprechen. »Nicht so in der Nähe unserer Wohnung«, betont sie. »Wenn diese Sache denen in die Hände fällt, haben sie gleich einen Fingerzeig über die Gegend. Laß uns bis zum Alex runtergehen ...«

Er denkt nach, er überlegt. Vielleicht, nein, sicher hat sie recht. Man muß mit allem rechnen. Und doch, dieses plötzliche Umändern seiner Pläne paßt ihm nicht recht. Wenn sie jetzt bis zum Alex laufen, wird die Zeit sehr knapp, und er muß doch zum Arbeitsbeginn zurechtkommen. Auch weiß er kein passendes Haus am Alex. Sicher gibt es dort viele, aber man muß das richtige erst suchen und das tut er lieber allein als mit der Frau, die ihn dabei stört.

Dann, ganz plötzlich, entschließt er sich. »Gut«, sagt er. »Du hast recht, Anna. Gehen wir zum Alex.«

Sie sieht ihn dankbar von der Seite an. Sie ist glücklich, daß er auch einmal einen Ratschlag von ihr angenommen hat. Und weil er sie eben grade so glücklich gemacht hat, will sie ihn nicht noch um das andere bitten, daß sie mit ihm ins Haus gehen darf. Nun gut, soll er allein gehen. Sie wird während des Wartens auf seine Rückkehr ein bißchen ängstlich sein – aber warum eigentlich? Sie zweifelt nicht einen Augenblick daran, daß er zurückkommen wird. Er ist so ruhig und so kalt, er läßt sich nicht überrumpeln. Noch in deren Händen würde er sich nicht verraten, er würde sich freikämpfen.

Während sie so überlegend neben dem schweigsamen Manne einhergeht, sind sie von der Greifswalder in die Neue Königstraße hineingekommen. Sie ist so beschäftigt gewesen mit ihren Gedanken, daß sie nicht darauf geachtet hat, wie wachsam Otto Quangels Augen an den Häusern entlangstrichen. Nun bleibt er plötzlich stehen – sie haben noch ein gutes Stück bis zum Alexanderplatz – und sagt: »Da, sieh dir da das Schaufenster an, ich bin gleich zurück.«

Schon geht er über die Fahrbahn auf ein großes, helles Bürohaus zu.

Ihr Herz fängt stark an zu klopfen. Sie möchte ihm zurufen: Nein, nicht, wir haben Alex ausgemacht. Laß uns so lange noch zusammenbleiben! Und: Sage mir wenigstens Lebewohl! Aber die Tür dort schlug schon hinter ihm zu.

Mit einem schweren Seufzer wendet sie sich dem Schaufenster zu. Aber sie sieht nichts von dem Ausgestellten. Sie lehnt die Stirn gegen die kalte Scheibe, vor ihren Augen flirrt und flimmert es. Ihr Herz klopft so sehr, daß sie kaum atmen kann, alles Blut scheint ihr in den Kopf zu treten.

Also habe ich doch Angst, denkt sie. Um Gottes willen, er darf das nie merken, daß ich Angst habe. Sonst nimmt er mich nie wieder mit. Aber ich habe auch keine richtige Angst, überlegt sie weiter. Ich habe keine Angst um mich. Ich habe um ihn Angst. Wenn er nun nicht wiederkommt!

Sie kann es nicht lassen, sie muß sich nach dem Bürohaus umdrehen. Die Tür wird aufgestoßen, Menschen kommen, Menschen gehen; warum kommt Quangel nicht? Er muß fünf, nein, zehn Minuten fort sein. Warum rennt der Mann, der eben aus dem Haus kam, so? Soll er vielleicht die Polizei rufen? Haben sie Quangel gleich beim ersten Male gefaßt?

Oh, ich halte das nicht aus! Was hat er sich vorgenommen?! Und ich dachte, es wäre etwas Kleines! Jede Woche einmal, und wenn er erst zwei Karten schreibt, jede Woche zweimal in Lebensgefahr! Und er wird mich nicht immer mitnehmen wollen! Ich habe das heute früh schon gemerkt, eigentlich war ihm mein Mitkommen nicht recht. Er wird allein gehen, allein wird er die Karten fortbringen, und von da wird er zur Fabrik gehen (oder er wird auch nie wieder zur Fabrik gehen!), und ich werde zu Hause sitzen, sitzen und mit Angst auf ihn warten. Ich fühle, diese Angst wird nie aufhören, daran werde ich mich nie gewöhnen. Da kommt Otto! Endlich! Nein, er ist es nicht. Er ist es wieder nicht! Jetzt gehe ich ihm nach, er kann noch so böse werden! Es ist bestimmt etwas passiert, er muß schon eine Viertelstunde fort sein, so lange kann das nie und nimmer dauern! Jetzt suche ich ihn!

Sie macht drei Schritte auf das Haus zu – und kehrt wieder um. Stellt sich vor das Schaufenster, starrt hinein.

Nein, ich werde ihm nicht nachgehen, ich werde ihn nicht suchen. Nicht schon gleich beim ersten Male kann ich so versagen. Ich bilde mir ja nur ein, daß was geschehen ist; sie gehen in dem Haus ein und aus wie immer. Sicher ist Otto auch noch keine Viertelstunde fort. Ich will jetzt sehen, was in diesem Schaufenster ist. Büstenhalter, Gürtel ...

Unterdes war Quangel in das Bürohaus eingetreten. Er hatte sich nur darum so rasch dazu entschlossen, weil die Frau an seiner Seite war. Sie machte ihn unruhig, jeden Augenblick konnte sie wieder »davon« zu reden anfangen. In ihrer Gegenwart mochte er nicht lange suchen. Sie würde sicher wieder davon zu reden anfangen. Dieses Haus vorschlagen, jenes ablehnen. Nein, nichts mehr davon! Da ging er lieber in das erste beste hinein, wenn es auch das erste schlechteste war.

Es war das erste schlechteste. Es war ein helles, modernes Bürohaus, mit vielen Firmen wohl, aber auch mit einem Portier in grauer Uniform. Quangel geht, ihn gleichgültig ansehend, an ihm vorüber. Er ist darauf gefaßt, nach dem Wohin gefragt zu werden, er hat sich gemerkt, daß Rechtsanwalt Toll im vierten Stock sein Büro hat. Aber der Portier fragt ihn nichts, er redet mit einem Herrn. Er streift den Vorübergehenden nur mit einem flüchtigen, gleichgültigen Blick. Quangel wendet sich nach links, schickt sich an, die Treppe hochzusteigen, da hört er einen Fahrstuhl surren. Siehe da, damit hat er auch nicht gerechnet, daß es in einem solchen modernen Haus Fahrstühle gibt, so daß die Treppen kaum benutzt werden.

Aber Quangel steigt weiter die Treppe hoch. Der Junge im Lift wird denken: Das ist ein alter Mann, er mißtraut einem Fahrstuhl. Oder er wird denken, er will nur in den ersten Stock. Oder er wird überhaupt nichts denken. Jedenfalls sind diese Treppen kaum benutzt. Er ist schon auf der zweiten, und bisher ist ihm nur ein Bürojunge begegnet, der eilig, ein Paket Briefe in der Hand, die Treppen hinabstürzte. Er sah Quangel gar nicht an. Der könnte seine Karte hier überall ablegen, aber er vergißt nicht einen Augenblick, daß dieser Fahrstuhl da ist, durch dessen blinkende Scheiben er jederzeit beobachtet werden kann. Er muß noch höher, und der Fahrstuhl muß grade in die Tiefe versunken sein, dann wird er es tun.

Er bleibt an einem der hohen Fenster zwischen zwei Stockwerken stehen und starrt auf die Straße hinunter. Dabei zieht er, gut gegen Sicht gedeckt, den einen Handschuh aus der Tasche und streift ihn über seine Rechte. Er steckt diese Rechte wieder in die Tasche, vorsichtig gleitet sie an der dort bereitliegenden Karte vorbei, vorsichtig, um sie nicht zu zerknittern. Er faßte sie mit zwei Fingern ...

Während Otto Quangel all das tut, hat er längst gesehen, daß Anna nicht auf ihrem Platz am Schaufenster, sondern daß sie am Rande des Fahrdamms steht und höchst auffallend mit sehr blassem Gesicht nach dem Bürohaus hinübersieht. So hoch, wie er steht, erhebt sie den Blick nicht, sie mustert wohl die Türen im Erdgeschoß. Er schüttelt unmutig den Kopf, fest entschlossen, die Frau nie wieder auf einen solchen Weg mitzunehmen. Natürlich hat sie Angst um ihn. Aber warum hat sie Angst um ihn? Sie sollte um sich selbst Angst haben, so falsch wie sie sich benimmt. Sie erst bringt sie beide in Gefahr!

Er steigt weiter treppauf. Als er am nächsten Fenster vorbeikommt, schaut er noch einmal auf die Straße, aber jetzt sieht Anna wieder in das Schaufenster hinein. Gut, sehr gut, sie hat ihre Angst untergekriegt. Sie ist eine mutige Frau. Er wird gar nicht mit ihr darüber sprechen. Und plötzlich nimmt Quangel die Karte, legt sie vorsichtig auf das Fensterbrett, reißt, schon im Gehen, den Handschuh von der Hand und steckt ihn in die Tasche.

Die ersten Stufen hinabsteigend, sieht er noch einmal zurück. Da liegt sie im hellen Tageslicht, von hier aus kann er noch sehen, eine wie große, deutliche Schrift seine erste Karte bedeckt! Jeder wird sie lesen können! Und verstehen auch! Quangel lächelt grimmig.

Zugleich hört er aber auch, daß eine Tür im Stockwerk über ihm geht. Der Fahrstuhl ist vor einer Minute in die Tiefe gesunken. Wenn es dem da oben, der grade ein Büro verlassen hat, zu langweilig ist, auf das Wiederheraufkommen des Fahrstuhls zu warten, wenn er die Treppe hinuntersteigt, die Karte findet: Quangel ist nur eine Treppe tiefer. Wenn der Mann läuft, kann er Quangel noch erwischen, vielleicht erst ganz unten, aber kriegen kann er ihn, denn Quangel darf nicht laufen. Ein alter Mann, der wie ein Schuljunge die Treppe hinunterläuft – nein, das fällt auf. Und er darf nicht auffallen, niemand darf sich erinnern, einen Mann von dem und dem Aussehen überhaupt in diesem Hause gesehen zu haben ...

Er geht aber immerhin ziemlich rasch diese Steinstufen hinunter, und zwischen dem Geräusch, das seine Schritte machen, lauscht er nach oben, ob der Mann wohl wirklich die Treppe benutzt hat. Dann muß er eigentlich die Karte gesehen haben, die ist gar nicht zu übersehen. Aber Quangel ist seiner Sache nicht sicher. Einmal glaubt er, Schritte gehört zu haben. Aber nun hört er schon lange nichts mehr. Und jetzt ist er zu tief unten, um noch irgend etwas zu hören. Der Fahrstuhl fährt lichterglänzend an ihm vorbei in die Höhe.

Quangel tritt in den Ausgang. Grade kommt ein großer Trupp Menschen vom Hofe her, Arbeiter aus irgendeiner Fabrik, Quangel schiebt sich unter sie. Diesmal, ist er ganz sicher, hat ihn der Portier überhaupt nicht angesehen.

Er geht über den Fahrdamm und stellt sich neben Anna.

»Erledigt!« sagt er.

Und als er das Aufleuchten ihres Auges, das Nachzittern ihrer Lippen sieht, setzt er hinzu: »Niemand hat mich gesehen!« Und schließlich: »Komm, laß uns gehen. Es ist grade noch Zeit, daß ich zu Fuß in die Fabrik komme.«

Sie gehen. Aber beide werfen im Gehen noch einen Blick auf dieses Bürohaus zurück, in dem nun die erste Karte Quangels ihren Weg in die Welt antritt. Sie nicken dem Haus gewissermaßen abschiednehmend zu. Es ist ein gutes Haus, und so viele Häuser sie auch in den nächsten Monaten und Jahren in der gleichen Absicht aufsuchen werden – dieses Haus wird von ihnen nicht vergessen werden.

Anna Quangel möchte gerne einmal rasch die Hand des Mannes streicheln, aber sie wagt es nicht. So streift sie nur wie zufällig dagegen und sagt erschrocken: »Verzeihung, Otto!«

Er sieht sie verwundert von der Seite an, aber er schweigt.

Sie gehen weiter.


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