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63.
Die Hauptverhandlung: Zeuge Ulrich Heffke

Der Zeuge Ulrich Heffke, dieser Qualitätsarbeiter, der bucklige Bruder Anna Quangels, hat schwere Monate hinter sich. Der tüchtige Kommissar Laub hatte ihn mit seiner Frau gleich nach der Festnahme der Quangels verhaftet, ohne jeden stichhaltigen Verdacht, nur weil er ein Verwandter der Quangels war.

Von da an hatte Ulrich Heffke in Angst gelebt. Dieser sanfte Mensch mit einem schlichten, einfachen Geist, der sein Lebtag allem Streit aus dem Wege gegangen war, war von dem Sadisten Laub verhaftet worden, gequält, angeschrien, geschlagen. Man hatte ihn hungern lassen, gedemütigt, kurz, er war mit allen teuflischen Künsten gemartert worden.

Darüber war der Geist des Buckels völlig verwirrt. Er hatte nur ängstlich gelauscht, was seine Quäler hören wollten, und er hatte dann besinnungslos auch die ihn belastenden Geständnisse abgelegt, deren Widersinn ihm doch sofort bewiesen wurde.

Und von neuem hatte man ihn gemartert, in der Hoffnung, von dem kleinen Buckel doch noch ein neues, bisher unbekannt gebliebenes Verbrechen zu erfahren. Denn Kommissar Laub handelte nach dem Satz dieser Zeiten: Jeder hat was ausgefressen. Man muß nur lange genug suchen, so findet man auch was.

Laub wollte und wollte es nicht glauben, daß er auf einen Deutschen gestoßen war, der kein Parteimitglied war, und der trotzdem nie einen ausländischen Sender abgehört, keine defätistische Flüsterpropaganda getrieben, nie eine Lebensmittelverordnung übertreten hatte. Laub sagte es dem Heffke auf den Kopf zu, daß er die Karten am Nollendorfplatz für seinen Schwager eingesteckt habe.

Heffke gab es zu – und nach drei Tagen konnte es ihm Laub beweisen, daß er, Ulrich Heffke, die Karten unmöglich eingesteckt haben konnte.

Kommissar Laub beschuldigte den Heffke nun des Verrates von Betriebsgeheimnissen in der optischen Fabrik, in der er arbeitete. Heffke gestand, und nach einer Woche mühsamer Ermittlungen konnte Laub feststellen, daß es in dieser Fabrik gar keine Geheimnisse zu verraten gab; niemand wußte dort, für welche Waffe eigentlich die Einzelteile, die man dort herstellte, bestimmt waren.

Jedes falsche Geständnis mußte Heffke teuer bezahlen, aber das machte ihn nur verschreckter, nicht klüger. Er gestand blindlings, nur um Ruhe zu haben, einem weiteren Verhör zu entrinnen, er unterschrieb jedes Protokoll. Er hätte sein eigenes Todesurteil unterschrieben. Er war nichts wie Gallert, ein Häufchen Angst, das schon beim ersten Wort zu zittern anfing.

Kommissar Laub war schamlos genug, diesen Unglücksmenschen zusammen mit den Quangels in die Untersuchungshaft überführen zu lassen, obwohl nicht eines der Protokolle eine Beteiligung Heffkes an den »Verbrechen« der Quangels bewies. Sicher war sicher, mochte der Untersuchungsrichter sehen, ob er nicht doch etwas Belastendes aus dem Heffke herausbekam. Ulrich Heffke benutzte die etwas vielseitigeren Möglichkeiten der Untersuchungshaft dazu, daß er sich erst einmal aufhängte. Man fand ihn im allerletzten Augenblick, schnitt ihn ab und schenkte ihn einem Leben wieder, das ihm völlig unerträglich geworden war.

Von Stunde an mußte der kleine Buckel unter noch viel schwereren Bedingungen leben: in seiner Zelle brannte die ganze Nacht Licht, ein Sonderposten sah in Abständen von wenigen Minuten durch die Tür, seine Hände waren gefesselt, und er wurde fast täglich zu einem Verhör geholt. Wenn der Untersuchungsrichter in den Akten auch nichts Belastendes gegen Heffke gefunden hatte, so war er doch fest davon überzeugt, daß der Buckel ein Verbrechen verbarg, denn warum hätte er sonst einen Selbstmordversuch machen sollen? Kein Unschuldiger tat das! Die geradezu blödsinnige Art Heffkes, jeder Beschuldigung erst einmal zuzustimmen, bewirkte es, daß der Untersuchungsrichter zu den langwierigsten Vernehmungen und Ermittlungen schreiten mußte, die dann ergaben, daß Heffke nichts getan hatte.

So kam es, daß Ulrich Heffke erst eine Woche vor der Hauptverhandlung aus der Untersuchungshaft entlassen wurde. Er kehrte zu seiner langen, dunklen, müden Frau zurück, die schon längst freigekommen war. Sie empfing ihn schweigend. Heffke war zu verstört, um zur Arbeit gehen zu können; er kniete oft stundenlang in einem Zimmerwinkel und sang mit angenehmer, leiser Falsettstimme Kirchenlieder. Er sprach kaum noch, und nachts weinte er viel. Sie hatten Geld gespart, so tat die Frau nichts, den Mann zur Arbeit anzuspornen.

Drei Tage nach seiner Entlassung bekam Ulrich Heffke schon wieder eine Ladung als Zeuge zu der Hauptverhandlung. Sein schwacher Kopf konnte es so recht nicht mehr fassen, daß er nur als Zeuge geladen war. Seine Aufregung steigerte sich von Stunde zu Stunde, er aß fast nichts mehr und sang immer länger. Die Angst, die eben erst überstandenen Quälereien sollten schon wieder losgehen, quälte ihn unendlich.

In der Nacht vor der Hauptverhandlung hängte er sich zum zweiten Male auf, diesmal rettete ihm sein dunkles Weib das Leben. Sobald er wieder atmen konnte, prügelte sie ihn gründlich durch. Sie mißbilligte seine Lebensweise. Am nächsten Tage nahm sie ihn fest unter den Arm und lieferte ihn an der Tür des Zeugenzimmers dem Gerichtsdiener mit den Worten ab: »Der hat einen Vogel! Auf den müssen Sie gut aufpassen!«

Da das Zeugenzimmer schon gut besetzt war, als diese Worte fielen – es waren in der Hauptsache Arbeitskameraden von Quangel geladen, die Fabrikleitung, die beiden Frauen und der Postsekretär, die ihn beim Ablegen der Karten beobachtet hatten –, da also schon eine ganze Reihe von Zeugen anwesend war, als Anna Heffke diese Worte sagte, so paßte nicht nur der Gerichtsdiener sondern die ganze Zeugenschaft eifrig auf den kleinen Mann auf. Manche versuchten, sich die langweilige Wartezeit mit Neckereien des Buckels zu verkürzen, aber es wurde nicht viel damit: dem Manne sah zu sehr die Angst aus den Augen. Die Leute waren doch zu gutmütig, ihm viel zuzusetzen.

Die Vernehmung durch den Präsidenten Feisler hatte der Buckel trotz seiner Angst gut überstanden, einfach, weil er so leise sprach und so sehr zitterte daß es dem höchsten Richter in Bälde langweilig wurde, sich diesen Angsthasen länger vorzunehmen. Dann hatte der Buckel sich unter die andern Zeugen geduckt, in der Hoffnung, alles sei nun für ihn abgetan.

Aber dann hatte er mit ansehen müssen, wie der Ankläger Pintscher sich seine Schwester vornahm, wie er sie quälte; er hörte die schamlosen Fragen, die Anna gestellt wurden. Sein Herz empörte sich, er wollte vortreten, er wollte für die heißgeliebte Schwester reden, er wollte bezeugen, daß sie immer ein anständiges Leben geführt hatte – und seine Furcht ließ ihn wieder sich niederducken, sich verkriechen, feige sein.

So verfolgte er, zwischen Angst und Feigheit und Mutanwandlungen nicht mehr Herr seiner Sinne, den Fortgang der Verhandlung, bis er zu jenem Moment kam, da Anna Quangel den BDM, die SA und die SS beschimpfte. Er erlebte den Tumult, der folgte, er machte selbst für seine eigene kleine, lächerliche Figur ein bißchen Tumult mit, indem er auf die Bank kletterte, um besser sehen zu können. Er sah, wie zwei Schupos Anna aus dem Saal schleppten.

Er stand noch immer auf der Bank, als der Präsident endlich Ruhe zu schaffen begann im Saal. Seine Nachbarn hatten ihn vergessen, sie steckten noch die Köpfe zusammen.

Da fiel der Blick des Anklägers Pintscher auf Ulrich Heffke, er betrachtete verwundert die erbarmungswürdige Gestalt und rief: »He, Sie da ...! Sie sind doch der Bruder der Angeklagten! Wie heißen Sie doch?«

»Heffke, Ulrich Heffke«, half dem Ankläger sein Assessor aus.

»Zeuge Ulrich Heffke, das war Ihre Schwester! Ich fordere Sie auf, sich zu dem Vorleben der Anna Quangel zu äußern! Was wissen Sie von diesem Vorleben?«

Und Ulrich Heffke tat den Mund auf – er stand noch immer auf seiner Bank, und seine Augen blickten zum ersten Male ohne Scheu. Er tat den Mund auf, und mit einer angenehmen Falsettstimme sang er:

»Valet will ich dir geben, du arge, falsche Welt!
Dein sündlich böses Streben durchaus mir nicht gefällt.
Im Himmel ist gut wohnen: hinauf steht mein Begier.
Da wird Gott herrlich lohnen dem, der ihm dient allhier!«

Alle waren derart verblüfft, daß sie ihn ruhig singen ließen. Einige empfanden sogar diesen schlichten Gesang angenehm und wiegten, der Melodie folgend, dumm die Köpfe hin und her. Der eine Beisitzer hatte den Mund weit offen. Studenten hielten mit den Händen die Schranke fest umklammert, mit einem gespannten Zug im Gesicht. Der versorgte graue Anwalt pulte sich bei schiefgelegtem Kopf gedankenvoll in der Nase. Otto Quangel hatte sein scharfes Gesicht auf den Schwager gerichtet und fühlte zum ersten Male sein kaltes Herz für den armen kleinen Kerl klopfen. Was würden sie mit ihm tun?

»Verbirg mein Seel aus Gnaden in deiner offnen Seit,
Rück sie aus allem Schaden in deine Herrlichkeit.
Der ist wohl hin gewesen, der kommt ins Himmelsschloß;
Der ist ewig genesen, der bleibt in deinem Schoß.«

Während des Absingens der zweiten Strophe war es im Saale schon wieder unruhig geworden. Der Präsident hatte geflüstert, der Ankläger hatte einen Zettel zu dem wachhabenden Polizeioffizier geschickt.

Aber der kleine Buckel hatte auf nichts von alledem geachtet. Sein Blick war zur Decke des Saales gerichtet. Nun rief er laut, mit einer ekstatisch verzückten Stimme: »Ich komme!«

Er hob die Arme, er stieß mit den Füßen von der Bank ab, er wollte fliegen ...

Dann fiel er unbeholfen zwischen die vor ihm sitzenden Zeugen, die erschrocken zur Seite sprangen, rollte zwischen die Bänke ...

»Schaffen Sie den Mann raus!« rief der Präsident gebieterisch in den schon wieder tumultuarisch erregten Saal. »Er soll ärztlich untersucht werden!«

Ulrich Heffke wurde aus dem Saal gebracht.

»Wie man sieht: eine Familie von Verbrechern und Wahnsinnigen«, stellte der Präsident fest. »Nun, es wird für die Ausmerzung gesorgt werden.«

Und er warf einen drohenden Blick auf Quangel, der, seine Hosen mit den Händen haltend, noch immer auf die Tür sah, durch die der kleine Schwager verschwunden war.

Freilich wurde für die Ausmerzung des kleinen Buckels Ulrich Heffke gesorgt. Körperlich wie geistig war er nicht lebenswert, und nach einem kurzen Anstaltsaufenthalt sorgte eine Spritze dafür, daß er dieser bösen Welt wirklich Valet sagen konnte.


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