Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

34.
Karl Hergesell und Grigoleit

Karl Hergesell hatte das Tauschgeschäft mit dem Kinderwagen nicht machen können, nein, er hatte sich lebhaft darüber geärgert. Der Kinderwagen war zwanzig, fünfundzwanzig Jahre alt, ein vorsintflutliches Modell, vermutlich hatte Noah seinen Jüngsten damit in die Arche geschoben. Und die alte Frau hatte dafür ein Pfund Butter und ein Pfund Speck verlangt. Mit einer unbegreiflichen Hartnäckigkeit war sie dabei geblieben, daß »ihr da auf dem Lande doch alles habt! Ihr sitzt doch mittendrin in den Fettigkeiten!«

Es war eine glatte Unverschämtheit, was die Leute einem alles zumuteten. Umsonst versicherte Hergesell, daß Erkner alles andere als Land sei und daß sie dort nicht ein einziges Gramm Fett mehr bekämen als in Berlin. Er sei außerdem ein einfacher Arbeiter und nicht in der Lage, Hamsterpreise zu zahlen.

»Ja, glauben Sie denn«, hatte die Frau gesagt, »ich würde mich von so 'nem Stück trennen, wo ich meine beiden Kinder drin liegen gehabt, wenn ich nicht was Schönes dafür kriege? Sie wollen mir wohl ein paar lumpige Mark auf den Tisch legen? Nee, danke, lieber Herr, für so was müssen Sie sich eine Dümmere suchen!«

Hergesell, der den Wagen um fünfzig Mark nicht genommen hätte, dieses hochrädrige, in seinen Federn schwankende Biest, blieb dabei, es sei eine Unverschämtheit. Außerdem mache sie sich strafbar, es sei verboten, Fett im Austausch gegen Ware zu fordern.

»Strafbar!« Die alte Frau pfiff verächtlich durch die Nase. »Strafbar! Versuchen Sie es doch mal mit einer Anzeige, junger Mann! Mein Mann ist Hauptwachtmeister bei der Polizei, für uns gibt's nichts Strafbares. Und nu machen Sie nur schnell, daß Sie aus meiner Wohnung kommen. Ich lasse mich nicht in meiner eigenen Wohnung anschreien! Ich zähle bis drei, und wenn Sie dann nicht raus sind, ist es Hausfriedensbruch, und ich zeige Sie an!«

Nun, Karl Hergesell hatte ihr noch ordentlich seine Meinung gesagt, ehe er gegangen war. Er hatte ihr genau auseinandergesetzt, was er von solchen Ausbeutern, die sich an der Notlage vieler Deutscher mästen wollten, dachte. Dann war er gegangen, aber er hatte sich immer noch weiter geärgert.

Und in diesen frischen Ärger war sein Zusammentreffen mit Grigoleit gefallen, mit einem Mann aus jener Zeit, da sie noch kämpften für eine bessere Zukunft.

»Na, Grigoleit«, hatte Hergesell gesagt, als die lange Gestalt mit der hohen, zurückfliehenden Stirn, beladen mit zwei Handkoffern und einer Aktentasche, ihm da in den Weg lief. »Na, Grigoleit, auch mal wieder in Berlin?« Er packte einen Handkoffer. »Donnerwetter, ist das Dings aber schwer! Du willst doch zum Alex? Da will ich auch hin, ich trag dir den Koffer solange.«

Grigoleit lächelte dünn. »Na schön, Hergesell, ist nett von dir. Ich sehe, du bist noch immer der alte, hilfreiche Genosse. Was machst du denn? Und was macht das kleine hübsche Mädchen von damals – wie hieß sie doch?«

»Trudel – Trudel Baumann. Ich habe das kleine hübsche Mädchen von damals übrigens geheiratet, und wir erwarten jetzt ein Kind.«

»Das war ja wohl nicht anders zu erwarten. Besten Glückwunsch.« Die veränderten Lebensumstände der Hergesells schienen Grigoleit nicht sonderlich zu interessieren – und für Karl Hergesell waren sie doch eine ständig sprudelnde Quelle immer neuen Glücks.

»Und was machst du, Hergesell?« fragte Grigoleit weiter.

»Ich? Du meinst, was ich arbeite? Wieder als Elektrotechniker bei einer chemischen Fabrik in Erkner.«

»Nein, ich meine, was du wirklich tust, Hergesell – für unsere Zukunft.«

»Nichts, Grigoleit«, antwortete Hergesell und fühlte plötzlich so etwas wie Schuld. Er sagte erklärend: »Sieh mal, Grigoleit, wir sind jung verheiratet und leben nur für uns. Was geht uns die Welt draußen an, die mit ihrem Scheißkrieg? Jetzt sind wir glücklich, daß wir ein Kleines haben werden. Sieh mal, Grigoleit, das ist doch auch etwas. Wenn wir uns bemühen, anständig zu bleiben und unser Kind zu einem anständigen Menschen zu erziehen ...«

»Wird euch verdammt schwerfallen in dieser Welt, die uns die braunen Herren zurichten! Na, laß man, Hergesell, von euch war nie was anderes zu erwarten. Ihr habt immer mehr mit dem Unterleib als mit dem Kopf gedacht!«

Hergesell lief vor Zorn rot an. Die Verachtung, mit der Grigoleit sprach, war nicht mehr zu überbieten. Und dabei schien er sich nicht einmal etwas Beleidigendes gedacht zu haben, denn er fuhr, ohne die Erregung des andern zu bemerken, ganz gleichmütig fort: »Ich mach weiter, und der Säugling macht auch weiter. Nein, nicht hier in Berlin. Jetzt sitzen wir sehr viel weiter westlich, das heißt, ich sitze nie, ich bin dauernd unterwegs, ich gebe so eine Art Kurier ab ...«

»Und versprecht ihr euch wirklich etwas davon? Ihr paar Männekens und diese Riesenmaschine ...?«

»Erstens sind wir nicht nur ein paar Männekens. Jeder anständige Deutsche, und zwei, drei Millionen gibt's von denen doch noch, wird mit uns mitmachen. Sie müssen nur erst mal mit ihrer Angst fertig werden. Jetzt ist ihre Angst vor der Zukunft, die uns die braunen Bonzen bescheren werden, noch kleiner als die Angst vor den Drohungen der Gegenwart. Aber das wird sich bald ändern. Eine Weile mag der Hitler noch siegen, aber dann kommen die Rückschläge, er siegt sich einfach tot. Und die Fliegerangriffe werden auch immer massiver werden ...«

»Und zweitens?« fragte Hergesell, den diese Kriegsprognosen, in die sich Grigoleit verlor, herzlich langweilten. »Zweitens ...«

»Zweitens, mein lieber Spitz, solltest du wissen, daß es gar nicht darauf ankommt, daß man zu wenigen gegen viele kämpft. Sondern, wenn man erst einmal eine Sache für wahrhaftig erkannt hat, so muß man eben für sie kämpfen. Ob du den Erfolg erlebst oder derjenige, der an deine Stelle getreten ist, das ist ganz egal. Ich kann nicht die Hände in den Schoß legen und sagen: Die sind zwar Schweine, aber was geht es mich an?«

»Ja«, sagte Hergesell. »Aber du bist auch nicht verheiratet, hast nicht für Frau und Kind zu sorgen ...«

»Oh, verdammt noch mal!« schrie Grigoleit angewidert. »Höre auf mit diesem verdammten sentimentalen Geschwätz! Du glaubst ja selbst kein Wort von dem, was du brabbelst! Frau und Kind! Ja, du Idiot, fällt dir gar nicht ein, daß ich schon zwanzigmal hätte verheiratet sein können, wenn es mir darauf angekommen wäre, eine Familie zu gründen?! Aber ich mache so etwas nicht. Ich sage mir, ich habe erst das Recht, privatim glücklich zu sein, wenn Raum für ein solches Glück auf dieser Erde ist!«

»Wir sind sehr weit auseinandergekommen!« murmelte Karl Hergesell halb gedrückt. »Ich nehm keinem was dadurch, daß ich glücklich bin.«

»Doch, du stiehlst! Du stiehlst Müttern ihre Söhne, Frauen ihre Männer, Mädchen ihren Freund, solange du duldest, daß die täglich zu Tausenden erschossen werden, und machst nicht einen Finger krumm, um dem Morden Einhalt zu tun. Das weißt du alles ganz gut, und ich frage mich, ob du nicht beinah schlimmer bist als jeder braun in der Wolle gefärbte Nazi. Die sind zu dumm, um zu wissen, was für ein Verbrechen sie begehen. Du aber weißt es und tust doch nichts dagegen! Ob du nicht schlimmer bist als die Nazis? Natürlich bist du schlimmer!«

»Gottlob sind wir hier am Bahnhof«, sagte Hergesell und setzte den schweren Koffer ab. »Ich brauch mich nicht länger von dir anpöbeln zu lassen. Wären wir noch weiter zusammen gewesen, du hättest entdeckt, daß nicht der Hitler, sondern ich, der Hergesell, den ganzen Krieg angefangen hat.«

»Hast du auch! Im übertragenen Sinn natürlich. Wenn man es genau nimmt, hat deine Lauheit es erst möglich gemacht ...«

Jetzt lachte Hergesell aber doch los, und auch der finstere Grigoleit verstieg sich zu einem Grinsen, als er in dieses lachende Gesicht sah.

»Na, lassen wir das also!« sagte Grigoleit. »Wir werden uns nie verstehen.« Er strich sich mit der Hand über die hohe Stirn. »Aber eigentlich könntest du mir einen kleinen Gefallen tun, Hergesell.«

»Ja, gerne, Grigoleit.«

»Ich habe da diesen ollen schweren Koffer, den du eben geschleppt hast. In einer Stunde muß ich weiter nach Königsberg, dort brauch ich den Koffer gar nicht. Willst du ihn nicht so lange bei dir in Verwahrung nehmen?«

»Ja, weißt du, Grigoleit«, meinte Hergesell und sah den schweren Koffer mit Abneigung an. »Ich habe dir ja schon gesagt, ich wohne jetzt in Erkner draußen. Das gibt eine ziemliche Schlepperei bis dahin. Warum gibst du den Koffer nicht einfach hier auf die Gepäckaufbewahrung?«

»Ja, warum? Warum ist die Banane krumm? Weil ich den Brüdern hier nicht traue. Ich habe alle meine Wäsche und die Schuhe und die besten Anzüge drin. Und hier wird soviel geklaut. Und außerdem die Bomben, die Tommys schmeißen doch besonders gern auf die Bahnhöfe – dann bin ich all mein Hab und Gut los.«

Er drängte: »Also sag schon ja, Hergesell!«

»Na, meinetwegen. Meiner Frau wird's nicht recht sein. Aber weil du es bist. Aber weißt du, Grigoleit, ich möchte meiner Frau lieber gar nicht sagen, daß ich dich getroffen hab. Das regt sie auf, das ist ihr und dem Kind nicht gut bei ihrem jetzigen Zustand, weißt du?«

»Schön, schön. Mach das, wie du willst. Die Hauptsache, du bewahrst ihn mir gut auf. In ungefähr einer Woche komme ich vorbei und hole mir den schweren Brocken. Sag mir mal deine Adresse. Schön, schön! Also denn auf baldiges Wiedersehen, Hergesell!«

»Auf Wiedersehen, Grigoleit!«

Karl Hergesell trat in den Wartesaal, um sich nach Trudel umzusehen. Er fand sie in eine dunkle Ecke gedrückt, den Kopf an die Rücklehne der Bank gelegt, fest schlafend. Einen Augenblick sah er sie an. Ihr Atem ging sachte. Sachte hob und senkte sich die volle Brust. Der Mund war leicht geöffnet, aber das Gesicht war sehr blaß. Es sah sorgenvoll aus, und auf der Stirn standen kleine helle Schweißtropfen, als habe sie sich sehr angestrengt.

Er sah nieder auf die Geliebte. Dann, mit einem plötzlichen Entschluß, faßte er den Koffer Grigoleits und ging mit ihm zur Gepäckaufbewahrung. Nein, für Karl Hergesell war es jetzt das Wichtigste auf der Welt, daß Trudel sich nicht trübe Gedanken machte und sich aufregte. Nahm er den Koffer nach Erkner mit, so mußte er ihr von Grigoleit erzählen, und er wußte, daß jede Erinnerung an das »Todesurteil« damals sie sehr erregte.

Als Hergesell mit dem Gepäckaufbewahrungsschein in der Brieftasche zum Wartesaal zurückkommt, ist Trudel aufgewacht und malt sich gerade das Mäulchen rot. Sie lächelt ihm, ein wenig blaß, zu und fragt: »Was hast du dich denn eben mit so einem großmächtigen Koffer abgeschleppt? Da war bestimmt kein Kinderwagen drin, Karli!«

»Großmächtiger Koffer!« tut er verwundert. »Ich habe doch keinen großmächtigen Koffer! Ich komme eben erst, und mit dem Kinderwagen war es Essig, Trudel.«

Sie sieht ihn staunend an. Ihr Mann belügt sie? Aber warum denn? Was hat er für Heimlichkeiten vor ihr? Sie hat ihn doch eben ganz deutlich hier am Tisch stehen sehen mit dem Koffer, und dann hat er kehrtgemacht und den Koffer aus dem Wartesaal geschleppt.

»Aber, Karli!« sagt sie ein bißchen gekränkt. »Ich habe dich doch eben erst hier mit dem Koffer am Tisch stehen sehen!«

»Wie soll ich denn zu einem Koffer kommen?« erwidert er ein bißchen gereizt. »Das hast du geträumt, Trudel!«

»Ich versteh nicht, warum du mich plötzlich anschwindelst! Das haben wir doch noch nie gemacht!«

»Ich schwindle dich nicht an, das verbitte ich mir!« Jetzt ist er ziemlich erregt, sein schlechtes Gewissen macht ihn so. Er besinnt sich und fährt etwas ruhiger fort: »Ich habe dir gesagt, ich bin eben erst gekommen. Von einem Koffer weiß ich nichts, das hast du geträumt, Trudel!«

»Soso«, sagt sie nur und sieht ihn unverwandt an. »Soso. Na schön, Karli. Dann habe ich eben geträumt. Reden wir nicht mehr davon.«

Sie senkt den Blick. Es schmerzt sie tief, daß er Heimlichkeiten vor ihr hat, und dieser Schmerz wird noch brennender dadurch, daß auch sie Heimlichkeiten vor ihm hat. Sie hat dem Otto Quangel versprochen, daß sie ihrem Mann nichts von dem Wiedersehen, geschweige denn von der Karte erzählen wird. Aber recht ist es nicht. Eheleute sollen keine Geheimnisse voreinander haben. Und nun hat auch er welche vor ihr.

Karl Hergesell schämt sich auch. Es ist schändlich, wie schamlos er die Geliebte belügt, und er hat sie sogar angeschnauzt, weil sie die Wahrheit sagt. Er kämpft mit sich, ob er ihr nicht doch lieber von dem Zusammentreffen mit Grigoleit berichtet. Aber er entscheidet: Nein, das würde sie noch mehr aufregen.

»Verzeih, Trudel«, sagt er und drückt rasch ihre Hand. »Verzeih, daß ich dich angeranzt habe. Aber ich habe mich so über die Geschichte mit dem Kinderwagen geärgert. Hör mal zu ...«


 << zurück weiter >>