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Neunzehntes Kapitel.

Bevor Mr. Tryan Janet verließ, drang er stark in sie, nach ihrer Mutter zu senden.

»Verletzen Sie sie nicht,« sagte er, »indem Sie ferner Ihr Leid vor ihr verbergen. Es gehörte sich, daß Sie bei ihr wären.«

»Ja, ich will nach ihr senden,« sagte Janet. »Aber ich möchte lieber noch nicht zu meiner Mutter gehen, weil mein Mann gewiß glaubt, ich sei dort, und vielleicht käme und mich holte. Ich kann nicht zu ihm zurückkehren … wenigstens jetzt noch nicht. Sollte ich zu ihm zurückkehren?«

»Nein, für jetzt gewiß nicht. Es sollte etwas geschehen, um Sie vor Zwang zu sichern. Ihre Mutter sollte, denk' ich, einen vertrauten Freund, einen Mann von Charakter und Erfahrung zu Rathe ziehen, der zwischen Ihnen und Ihrem Manne vermitteln könnte.«

»Ja, ich will sogleich nach meiner Mutter senden. Aber ich werde hier bei Mrs. Pettifer bleiben, bis etwas geschehen ist. Es soll Niemand außer Ihnen wissen, wo ich bin. Sie werden wieder kommen, nicht wahr? Sie werden mich nicht mir selbst überlassen?

»Sie werden sich nicht selbst überlassen sein. Gott ist bei Ihnen. Wenn ich Ihnen irgendwie Trost bringen konnte, so ist es, weil Seine Macht und Liebe uns gegenwärtig waren. Aber ich bin sehr dankbar, daß es Ihm beliebt, durch mich zu wirken. Ich werde Sie morgen wieder besuchen – nicht vor Abend, denn es ist morgen Sonntag, wie Sie wissen; aber nach der Abendbetstunde werde ich frei sein. Sie werden in mein Gebet geschlossen sein bis dahin. Mittlerweile, werthe Mrs. Dempster, öffnen Sie Ihr Herz, so viel Sie können, Ihrer Mutter und Mrs. Pettifer. Werfen Sie jenen Stolz weg, der uns davor zurückbeben läßt, vor unseren Freunden unsere Schwäche einzugestehen. Bitten Sie dieselben, Ihnen beizustehen in der Verwahrung gegen die leiseste Annäherung der Sünde, die Sie am meisten fürchten. Berauben Sie sich soweit als möglich selbst der Mittel und Gelegenheit, sie zu begehen. Jede derartige in Demuth und Vertrauen gemachte Anstrengung ist ein Gebet. Versprechen Sie mir, das zu thun.«

»Ja, ich verspreche es Ihnen. Ich weiß, ich bin immer zu stolz gewesen; ich konnte es nie ertragen, mit Jemanden über mich zu sprechen. Ich bin selbst gegen meine Mutter zu stolz gewesen; es hat mich stets geärgert, wenn sie meine Fehler zu bemerken schien.«

»Sie werden also nie mehr sagen, liebe Mrs. Dempster, daß das Leben leer ist und daß es keinen Lebenszweck gibt, nicht wahr? Sehen Sie, welche Arbeit zu thun ist im Leben, sowohl in unseren eigenen Seelen als für Andere. Sicherlich macht es wenig aus, ob wir mehr oder weniger von den Freuden dieser Welt genießen in diesen kurzen Jahren, wenn Gott uns erzieht für die ewigen Freuden Seiner Liebe. Halten Sie sich diesen großen Lebenszweck vor Augen, und Ihre Noth hienieden wird nur als die geringe Beschwerlichkeit einer Reise erscheinen. Und nun muß ich gehen.«

Mr. Tryan stand auf und streckte die Hand aus. Janet ergriff sie und sagte: »Gott war sehr gütig gegen mich, daß Er Sie zu mir sandte. Ich will auf Ihn bauen. Ich will versuchen, Alles zu thun, was Sie mir sagen.«

Segensvoller Einfluß einer treuen, liebenden Menschenseele auf eine andere! Nicht berechenbar durch Algebra, nicht herzuleiten durch Logik, sondern geheimnißvoll, wirksam und mächtig wie der verborgene Vorgang, durch welchen der winzige Same belebt wird uns hervorbricht zum hohen Stamm mit breitem Blattwerk und farbenglühenden Blüthendolden. Gedanken sind oft arme Geister; unsere sonnenerfüllten Augen können sie nicht erkennen; sie gehen an uns vorüber in leichtem Dunst und können sich nicht bemerklich machen. Aber manchmal werden sie zu Fleisch und Blut; sie wehen uns an mit warmem Odem, sie berühren uns mit weichem Händedruck, sie blicken uns an mit ernsten, aufrichtigen Augen und sprechen zu uns in mahnenden Tönen; sie sind gekleidet in eine lebende Menschenseele mit all ihren Kämpfen, ihrem Glauben und ihrer Liebe. Dann ist ihre Gegenwart eine Gewalt, dann schütteln sie uns wie eine Leidenschaft, und wir werden hingezogen zu ihnen mit sanftem Zwang, wie die Flamme zur Flamme.

Janets dunkles, imposantes, noch immer müdes Gesicht war ganz ruhig geworden und blickte, während sie saß, mit einem demüthigen, kindlichen Ausdruck auf das schmale blonde Haupt und die leicht eingesunkenen grauen Augen, die jetzt in hektischem Glanze leuchteten. Man hätte sie für ein Bild der im Kampf geschlagenen und ermatteten leidenschaftlichen Stärke halten mögen, und ihn für ein Bild des entsagenden Glaubens, der jenen Kampf zur Ruhe gebracht hatte. Wie er auf das süße, ergebene Gesicht blickte, erinnerte er sich an jene Miene verzweifelnder Qual, und sein Herz war übervoll, als er sich abwandte. »Laß mich nur leben, um dieses Werk befestigt zu sehen, und dann …«

Es war nahezu zehn Uhr, als Mr. Tryan ging, aber Janet war darauf erpicht, nach ihrer Mutter zu senden: und so setzte denn Mrs. Pettifer ihre Haube auf und ging selbst, um Mrs. Raynor zu holen. Die Mutter war schon zu lange gewohnt gewesen, zu erwarten, daß jede neue Woche schmerzlicher als die letzte sein würde, als daß Mrs. Pettifers Neuigkeit mit dem Schlag einer Überraschung sie hätte überkommen können. Ruhig, ohne jeden Schein von Unglück, packte sie ein Bündel Kleider zusammen und begleitete Mrs. Pettifer stillschweigend, nachdem sie ihrer kleinen Magd gesagt, daß sie in dieser Nacht nicht mehr nach Hause kommen werde.

Als sie das Besuchszimmer betraten, war Janet vor Müdigkeit in dem großen Stuhl, der mit dem Rücken gegen die Thüre stand, in Schlaf gesunken. Das Geräusch der sich öffnenden Thür störte sie, und sie blickte verwundert um sich, als Mrs. Raynor an ihren Stuhl trat und sagte: »Deine Mutter ist da, Janet.«

»Mutter, liebste Mutter!« rief Janet, sie fest umschlingend. »Ich bin Dir kein gutes, zärtliches Kind gewesen, aber ich will es von nun an sein – ich will Dich nie mehr betrüben,«

Die Ruhe, welche dem neuen Leid widerstanden, wurde besiegt von der neuen Freude, und die Mutter brach in Thränen aus.



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