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Zweites Kapitel.

Es war ein Glück für den Rev. Amos Barton, daß er nicht, wie wir, die im vorigen Kapitel berichtete Unterhaltung mit anhörte. Zwar, welcher Sterbliche unter uns würde seine Zufriedenheit vergrößert sehen durch eine Gelegenheit, das Bild von seinen Thaten. wie er selbst es sich vorstellt, mit dem Bilde zu vergleichen, das sie auf den geistigen Netzhäuten unserer Nachbaren hervorrufen? Wir sind arme Pflanzen, gehoben durch die Luftgefäße unserer trügerischen Phantasie: wehe uns, wenn wir einigen Druck erleiden, der uns jene windige Substanz benimmt! Gerade die Fähigkeit zum Guten würden wir verlieren. Denn man sage dem begeistertsten Redner, seine Perrücke sitze schief, oder ein Hemdzipfel schaue ihm heraus und er reize die Leute durch die Seltsamkeit seiner Person zum Lachen, statt sie durch die Energie seiner Perioden zu erschüttern, und man würde unfehlbar die Quelle seiner Beredtsamkeit versiegen machen. Es ist ein tiefsinniges und großes Wort, daß kein Wunder bewirkt werden kann ohne Glauben – ohne den Glauben des Wunderthäters an sich selbst ebensowohl, als des Empfängers Glauben an ihn. Und der größere Theil von des Wunderthäters Glauben an sich selbst besteht in dem Glauben, daß andere an ihn glauben.

Man überzeuge mich, daß mein Nachbar Jenkins mich für einen Dickkopf hält, und ich werde nie mehr in der Unterhaltung mit ihm glänzen. Man lasse mich entdecken, daß die liebliche Phöbe glaubt, ich schiele unerträglich, und ich werde nie mehr fähig sein, sie je wieder mit meinem freien Auge offen anzusehen.

Dank dem Himmel also, daß uns noch ein wenig Illusion geblieben ist, die uns befähigt, uns nützlich und angenehm zu machen – daß wir nicht genau wissen, was unsre Freunde von uns denken – daß die Welt nicht aus Spiegelglas geschaffen ist, um uns genau zu zeigen, welche Figur wir spielen und was hinter unserm Rücken vorgeht! Mit Hilfe der lieben, freundlichen Illusion sind wir fähig zu träumen, daß wir reizend sind – und unsere Züge tragen ein uns wohl anstehendes Air der Selbstbeherrschung; wir sind fähig zu träumen, daß andere Leute unsere Talente bewundern – und unsre Güte bleibt ungestört; wir sind fähig zu träumen, daß wir viel Gutes thun – und wir thun ein wenig.

So war's auch bei Amos Barton an jenem Dienstag Abend, als er zu Croß Farm der Unterhaltungsgegenstand war. Er hatte bei Mr. Farquhar, dem zweitgrößten Grundbesitzer des Kirchspiels, gespeist und, angeregt durch ungewohnte Speisen und Portwein, seine Meinung über Pfarreiangelegenheiten und Sonstiges mit beträchtlicher Lebhaftigkeit abgegeben. Und er kehrte jetzt heim im Mondenschein – ein wenig fröstelnd zwar, denn er hatte gerade keinen mit der geistlichen Würde verträglichen Ueberrock, und eine Pelzboa um den Hals mit einer wasserdichten Capuze über den Schultern, scheucht einem die Kälte von den Füßen nicht hinweg; aber gänzlich arglos, nicht blos betreffs Mr. Hackit's Schätzung seiner Rednergabe, sondern auch hinsichtlich der kritischen Bemerkungen, die von den Fräulein Farquhar über ihn gemacht wurden, sobald sich die Thüre des Besuchszimmers hinter ihm geschlossen hatte. Miß Julia hatte bemerkt, sie habe nie jemanden so fürchterlich schnauben hören, wie es Mr. Barton thue – sie hätte sehr im Sinne gehabt, ihm ihr Taschentuch anzubieten; und Miß Arabella hätte wissen mögen, warum er immer sage, er gedenke etwas zu thun. Er, der treffliche Mann! meditirte eben über neue seelsorgerliche Bemühungen am nächsten Tag; er wollte seine Leihbibliothek in Gang setzen, in welche er einige Bücher aufgenommen hatte, die den Dissentern einen recht tüchtigen Schlag versetzen würden – besonders eines, das, angeblich von einem Arbeiter geschrieben, der, aus reinem Eifer für die Wohlfahrt seiner Classe, sich die Mühe gab, sie auf diese Weise vor jenen heuchlerischen Schurken, den Predigern der Dissenter, zu warnen. Der Rev. Amos Barton glaubte fest an die Existenz dieses Arbeiters und hatte vor, ihm zu schreiben. Der Dissidenz, überlegte er, würde in Shepperton der Kopf zertreten werden, denn griff er sie denn nicht auf zwei Seiten an? Er predigte die Lehre der Presbyterianer – so evangelistisch, als nur etwas, das man in der Kapelle der Independenten hören konnte und verfocht, nach der Lehre der Hochkirche, die kirchlichen Gewalten und Ämter. Ganz klar, die Dissenter würden fühlen, daß ihnen »der Pastor zu viel« sei. Nichts Zweites als einen Mann, der Scharfsinn mit Thatkraft verbindet. Die Weisheit der Schlange, dachte Mr. Barton, war eine seiner hervorragendsten Eigenschaften.

Man betrachte ihn, wie er sich durch den kleinen Kirchhof windet. Das Silberlicht, das quer auf Kirche und Gräber fallt, läßt seine schmächtige, schwarze Gestalt erkennen, die wegen der engen Hosen noch schmächtiger erscheint, wie sie an den hellen Grabsteinen rasch vorübergeht. Er geht raschen Schrittes und klopft jetzt mit scharfer Entschiedenheit an die Pfarrhausthüre. Diese wird unverzüglich von der Amme, Köchin und Hausmagd zugleich geöffnet – d. h. von Hannchen, dem robusten Mädchen für Alles; und wie Mr. Barton seinen Hut im Gang aufhängt, sehen wir, daß ein schmales Gesicht von gewöhnlichem Aussehen – selbst die kleinen Blattern, die es einst angegriffen hatten, scheinen von einer unentschiedenen Bastardart gewesen zu sein – mit Zügen von nicht ungewöhnlicher Art überragt wird von einem kahlen Abhang, der sanft von der Braue bis zur Krone ansteigt. Mit Recht schätzen wir ihn auf etwa 40 Jahre. Das Haus ist ruhig, denn es ist halb Elf, und die Kinder längst zu Bett. Er öffnet die Thüre des Wohnzimmers, aber anstatt, wie er erwartete, seine Gattin zu sehen, die mit behenden Fingern beim Scheine einer Kerze näht, findet er sie, den Schein einer Kerze ganz entbehrend. Sie geht sachte auf und ab beim rothen Kaminfeuerschein und hält in ihren Armen den einjährigen Walter, den Jüngsten, der ihr mit großen, weit offenen Augen über die Schulter sieht, während die geduldige Mutter ihm liebkosend auf den Rücken klopft und mit einem Seufzer auf den Haufen großer und kleiner Strümpfe blickt, die unausgebessert auf dem Tische liegen.

Sie war eine reizende Frau – Mrs. Amos Barton; eine große, schöne, sanfte Madonna mit dichten, schweren, kastanienbraunen Locken um die wohlgerundeten Wangen und mit großen, zärtlichen, kurzsichtigen Augen. Die fließenden Linien ihrer hohen Gestalt ließen auch den einfachsten Anzug anmuthig erscheinen, und ihr altes abgetragenes schwarzseidenes Kleid schien auf ihrer Brust und ihren Gliedern mit einer ruhigen Eleganz und einem Gefühl der Distinktion zu ruhen, im starken Gegensatz zu dem unbehaglichen Gefühl des Nichtpassens, das sich in dem Rascheln von Mrs. Farquhar's gros de Naples-Kleid auszudrücken schien. Die Haube, die sie trug, würde man, wenn sie nicht auf ihrem Haupte gesessen hätte, schwer und grundhäßlich genannt haben, – denn in jenen Tagen waren selbst moderne Hauben groß und unförmlich; aber da sie ihren schlanken, feingewölbten Hals überragte und ihren Saum von billigen Litzen und Bändern mit ihren kastanienbraunen Locken vermischte, schien sie ein Wunderwerk erfolgreicher Putzarbeit. Unter Fremden war sie schüchtern und furchtsam, wie ein fünfzehnjähriges Mädchen; sie erröthete, wenn man sie um ihre Meinung befragte; doch ihre hochgewachsene, anmuthige Persönlichkeit war so imponirend in ihrer Milde, daß die Männer mit einem angenehmen Gefühl von Schüchternheit sie anredeten.

Besänftigender, unaussprechlicher Zauber holder Weiblichkeit! der alle erworbenen Güter übertrifft und krönt. Man würde nie gefragt haben; in keiner Epoche von Mrs. Barton's Leben, ob sie zeichne oder Klavier spiele. Man würde vielleicht eher sich geärgert haben, wenn sie herabgestiegen wäre von der ruhig heitern Würde des Seins zu der geschäftigen Unruhe des Thuns. Glücklich der Mann, würde man gedacht haben, dessen Auge auf ihr ruhen wird während der Pausen seiner häuslichen Lektüre, dessen heiße, schmerzende Stirne beruhigt werden wird durch die Berührung ihrer kühlen Hand – der sich erheben wird von der Niedergeschlagenheit über seine Mißgriffe und Mißerfolge in dem liebenden Lichte ihrer nie tadelnden Augen! Man würde vielleicht nicht vorausgesehen haben, daß dieser Segen gerade einem Manne wie Amos Barton zutheil werden würde, von dem man bereits vermuthet, daß ihm jenes feinere Zartgefühl abgehe, für das Mrs. Barton's Eigenschaften durch angeordnete Harmonie hätte bestimmt erscheinen mögen. Aber ich mißgönne, für meinen Theil, Amos Barton dieses holde Weib nicht. Ich habe mein Leben lang Sympathie gehabt für plumpe Bastardhunde, die Niemand's Lieblinge sind, und ich würde lieber einen von diesen mit einem Stück Butter, und einem hübschen Bissen dazu, überraschen wollen, als die Schmeicheleien des lieblichsten Wachtelhundes entgegennehmen, der sein Polster hat neben seiner Herrin Stuhl. Das ist sicher nicht die Denkweise der Welt: wenn es zufällig vorkommt, daß man einen Burschen von hübschem Körperbau und aristokratischem Aussehen sieht, der dazu keinen faux pas macht und sich bei allen Leuten die günstigste Meinung erringt, flugs wählt man für ihn die holdeste der unverheiratheten Damen aus und sagt: Das wäre ein hübsches Pärchen! Keineswegs, sag' ich: Man lasse jenen an Erfolgen reichen, wohlgebildeten, verständigen und fähigen Herrn mit etwas weniger als der Besten im Ehestand vorliebnehmen, und lasse das holde Weib Sonnenschein verbreiten und ein sanftes Kissen bereiten für den armen Teufel, dessen Beine keine Modelle, dessen Anstrengungen häufig Schnitzer sind, und der im allgemeinen mehr Rippenstöße als Groschen erwirbt. Sie – die holde Frau – wird das ebensogern thun; denn ihre sublime Fähigkeit zum Lieben wird einen desto größern Wirkungskreis haben; und ich wage zu sagen, Mrs. Barton's Wesen würde nie so engelhaft sich entwickelt haben, wenn sie den Mann geheirathet hätte, den du, lieber Leser, vielleicht für sie im Auge hattest – einen Mann mit genügendem Einkommen und überflüssigen persönlichen Vorzügen. Nebenbei, Amos war ein zärtlicher Ehemann und schätzte, in seiner Weise, sein Weib hoch als seinen besten Schatz.

Aber jetzt hat er die Thüre hinter sich geschlossen und gesagt:

»Nun, Milli?«

»Ah, du bist's, mein Lieber!« war die grüßende Entgegnung, beredt gemacht durch ein Lächeln.

»Der kleine Spitzbube will also nicht schlafen gehen! Kannst du ihn nicht Hannchen zum Warten geben?«

»Hannchen war diesen Abend mit Bügeln beschäftigt, aber jetzt, denk' ich, will ich ihn ihr hinausbringen.« Und Mrs. Barton schwebte auf die Küche zu, während ihr Gatte die Stiege hinaufeilte, um seinen maisfarbenen Schlafrock anzuziehen, in welchem Kostüm er ruhig seine lange Pfeife stopfte, als sein Weib ins Wohnzimmer zurückkam. Mais ist eine Farbe, die entschieden nicht zu seiner Gesichtsfarbe paßte und eine, die bald schmutzt; warum wählte sie also wohl Mr. Barton zum Tragen zu Hause? Vielleicht weil er eine große Fertigkeit darin besaß, im Anzug sowol wie in der Grammatik stets das Unrechte zu treffen.

Mrs. Barton zündete jetzt ihre Kerze an und setzte sich vor ihren Haufen Strümpfe. Sie hatte ihrem Gemahl etwas Unangenehmes zu erzählen, wollte aber nicht gleich damit beginnen.

»Hast du einen netten Abend gehabt, mein Lieber?«

»Ja, ganz nett. Ely war zum Diner dort, ging aber ziemlich früh weg. Miß Arabella wirst in verzweifelter Weise das Netz nach ihm aus. Aber ich glaube nicht, daß er sehr gerührt ist. Ich habe eine Ahnung, Ely ist verlobt mit irgend Jemand in der Ferne und wird alle Damen, die hier nach ihm schmachten, sehr in Erstaunen setzen, indem er eines schönes Tages seine Braut heimbringt. Ely ist ein verschmitzter Kerl, er liebt so was.«

»Sprachen die Farquhar etwas über den Gesang am letzten Sonntag?«

»Ja, Farquhar sagte, er hielte die Zeit für gekommen, um einige Verbesserungen im Kirchenchor vorzunehmen. Aber er war sehr ärgerlich, daß ich die Melodie der ›Lydia‹ dazu wählte. Er sagte, er höre sie immer, wenn er an der Independentenversammlung vorübergehe.« Hier lachte Mr. Barton – er hatte eine Art, über kritische Aussprüche zu lachen, die andre für verletzend hielten – und zeigte dabei die Ueberreste einer Reihe Zähne, die, wie die Letzten von der alten Garde, wenig an der Zahl und desto mehr abgenutzt waren. »Aber«, fuhr er fort, »Mrs. Farquhar sprach meistens von Mr. Bridmain und der Gräfin. Sie hat all' das Geträtsch über sie aufgegriffen und wollte mich durchaus zu ihrer Meinung bekehren, aber ich sagte ihr's gerade heraus, was ich dächte.«

»Du lieber Himmel! Warum geben sich denn die Leute so viel Mühe, um Böses von Anderen auszuspähen? Ich habe während Deiner Abwesenheit eine Note von der Gräfin erhalten, worin sie uns auf Freitag zum Diner bei ihnen einladet.«

Hier nahm Mrs. Barton die Note vom Kaminsims und gab sie ihrem Gatten. Wir wollen ihm über die Schulter blicken, während er liest:

 

»Süßeste Milly. – Bringen Sie Ihr liebes Gesicht und Ihren Gatten nächsten Freitag um 7 Uhr zu uns zum Diner – aber ja gewiß. Wenn nicht, so werde ich auf Sie zornig sein bis zum Sonntag, wo ich gezwungen sein werde, Sie zu besuchen, und mich sehnen, Sie zu küssen. – Die Ihrige, je nachdem Ihre Antwort lauten wird.

Caroline Czerlaski.«

 

»Das sieht ihr ähnlich, nicht wahr?« sagte Mrs. Barton. »Ich meine, wir können hingehen?«

»Ja; ich habe kein Engagement. Die Kirchenversammlung ist morgen, wie Du weißt.«

»Und dann, Lieber, Woods der Metzger kam, um zu sagen, er müsse nächste Woche etwas Geld bekommen. Er hat eine Zahlung zu leisten.«

Diese Ankündigung stimmte Mr. Barton nachdenklich. Er qualmte heftiger und blickte in das Feuer.

»Ich denke, ich muß Hackit bitten, mir 20 Pfd. St. zu leihen, denn es sind noch nahezu zwei Monate bis Maria Verkündigung und wir können Woods nicht unsern letzten Schilling geben.«

»Ich sehe es nicht gern, daß Du Mr. Hackit darum ansprichst, Lieber – er und Mrs. Hackit waren so sehr freundlich gegen uns; sie haben uns so viele Sachen geschickt neulich.«

»Dann muß ich Oldinport darum bitten. Ich wollte ihm morgen früh schreiben, um ihm die Arrangements mitzutheilen, die ich ersonnen habe wegen der Abhaltung des Gottesdienstes im Armenhause, während die Kirche erweitert wird. Wenn er zustimmt, dem Gottesdienst dort ein oder zwei Mal beizuwohnen, werden auch die andern Leute kommen. Fange den großen Fisch, und Du erwischest die kleine Brut dazu.«

»Ich wünschte, wir könnten ohne Geld zu borgen auskommen; und doch sehe ich keine Möglichkeit. Fritz muß neue Schuhe haben; ich konnte ihn gestern nicht zu Mrs. Bond gehen lassen, weil ihm die Zehen heraussehen, und ich kann ihn nirgends hingehen lassen als in den Garten. Er muß vor dem Sonntag ein Paar bekommen. Wahrlich, Stiefel und Schuhe sind der größte Verdruß meines Lebens. Alles Andere kann man wenden und wieder wenden und machen, daß das Alte wie neu aussieht; aber den Stiefeln und Schuhen kann man nicht schmeicheln, daß sie besser aussehen als sie sind.«

Mrs. Barton unterschätzte scherzend ihre Geschicklichkeit im Verwandeln von Stiefeln und Schuhen. Sie hatte in jenem Augenblick ein Paar Pantoffeln an den Füßen, die schon lange die Prünellphase Prunelle: entsteinte, getrocknete und gepresste Pflaume. – Anm.d.Hrsg. ihres Daseins durchlebt hatten und jetzt einen respektablen Lebensweg als schwarzseidene Pantoffeln durchliefen, nachdem sie von Mrs. Barton's hübschen Fingern mit jenem Stoffe überzogen worden waren. Wunderbare Finger das! sie waren nie leer. Denn wenn sie einmal ein paar Stunden bei einem freundlichen Angehörigen der Pfarrei zubrachte, kam ihr Fingerhut zum Vorschein und ein Stück Calico oder Musselin, das, bevor sie wieder ging, ein geheimnißvolles, kleines Kleidungsstück wurde mit allen Arten von inneren und äußeren Säumen. Sie hatte sogar ihren Gemahl zum Ablegen der engen Hosen zu überreden versucht, weil sie wüßte, daß sie, wenn er die gewöhnlichen »Kanonenrohre« tragen wollte, gewiß wisse, sie könne dieselben so gut machen, daß keiner das Geschlecht der Schneiderin argwöhnen würde.

Mittlerweile hatte Mr. Barton seine Pfeife ausgeraucht, die Kerze war ziemlich herabgebrannt, und Mrs. Barton sieht nach, ob Hannchen den kleinen Walter etwa schon in Schlaf gelullt habe. Hannchen legt ihn gerade in die kleine Wiege, die neben seiner Mutter Bettstelle steht, der Kopf mit seinen braunen Haarlöckchen liegt da in das kleine Kissen geschmiegt; und eine winzige, wachsbleiche Faust mit Grübchen versteckt die rosigen Lippen, denn der Kleine ist der kindlichen Schwäche des Daumensaugens ergeben. So konnte sich denn Hannchen nun dem kurzen Nachtgebet anschließen und Alle konnten zu Bette gehen.

Mrs. Barton trug die Ueberbleibsel ihres Strumpfhaufens die Stiege hinauf und legte sie auf einen Tisch nahe bei ihrer Bettseite, wo sie auch einen warmen Shawl placirte; dann stellte sie ihr Licht, bevor sie es auslöschte, in eine kleine Höhle in der Mauer am Kopfende ihres Bettes. Ihr Körper war sehr müde, aber ihr Herz war nicht schwer, trotz Mr. Woods, dem Metzger, und der vergänglichen Natur des Schuhleders; denn ihr Herz floß so über von Liebe, sie fühlte sich sicher, daß sie einer Quelle der Liebe nahe war, die für Mann und Kinder besser sorgen würde, als sie voraussehen konnte; und so war sie bald eingeschlafen. Aber wenn um halb fünf Uhr am nächsten Morgen Engel an ihrem Lager Wache hielten – und die Engel durften über ein solches Amt froh sein – sahen sie Mrs. Barton ruhig sich erheben, sorglich, um den schlummernden Amos nicht zu stören, der den Schlaf des Gerechten schlief; dann zündete sie ihre Kerze an, setzte sich aufrecht in den Kissen zurecht, warf den warmen Shawl um die Schultern und erneuerte ihren Angriff auf den Haufen ungestopfter Strümpfe. Sie stopfte drauf los, bis sie Hannchen sich regen hörte, und dann mit der Dämmerung überkam sie die Schläfrigkeit; die Kerze wurde verlöscht, und sie sank in Schlummer. Aber um neun Uhr war sie am Frühstückstisch beschäftigt, Butterbrod für fünf hungrige Mäuler aufzustreichen, während Hannchen – das Kleinste auf einem Arm, rothwangig, dickhälsig, in seinem Nachtkleidchen – eine Kanne heißer Milch mit Wasser brachte. Seiner Mutter zunächst sitzt die neunjährige Patty, das älteste Kind, dessen sanftes, schönes Gesicht manchmal schon ziemlich ernsthaft dreinschaut und das bereits die Stiegen auf- und ablaufen will, um Mama's Beine zu schonen, die Abends immer so müde ist. Dann sind da vier andere Blondköpfe – zwei Knaben und zwei Mädchen, die gradweise an Größe abnehmen bis herab zu Chubby, die ein rundes O aus ihrem Mäulchen macht, um einen Bissen von Papa's Schinken zu bekommen. Papa's Aufmerksamkeit war getheilt zwischen dem Liebkosen Chubby's, dem Zurechtweisen des lärmenden Fritz – was er mit etwas übertriebener Strenge that – und dem Verzehren seines Frühstücks. Er hatte Mama noch nicht angesehen und wußte nicht, daß ihre Wange bleicher wie gewöhnlich war. Aber Patty wisperte: »Mama, hast Du denn Kopfweh?«

Glücklicherweise waren in der Nachbarschaft Shepperton's die Kohlen billig, und Mr. Hackit ließ zu Zeiten seine Pferde eine Ladung »zum Pastor« fahren, ohne Kosten zu berechnen; und so war ein prasselndes Kaminfeuer im Wohnzimmer und nicht unnöthigerweise, denn der Pfarrgarten, wie sie in denselben hinausblickten, war hart gefroren, und das Firmament zeigte jenes weiße, wollige Aussehen, welches Schnee verkündigt.

Nachdem das Frühstück vorüber, ging Mr. Barton in sein Studirzimmer hinauf und beschäftigte sich in erster Linie mit seinem Briefe an Mr. Oldinport. Es war so ziemlich dieselbe Art von einem Brief, wie ihn die meisten Geistlichen unter denselben Umständen geschrieben hätten. Mr. Barton hatte nicht die Gabe vollständiger Genauigkeit in englischer Orthographie und Syntax; und das war ein Malheur, da man wußte, er sei des Hebräischen unkundig und ihn durchaus nicht beargwöhnte, daß er des Griechischen vollkommen mächtig sei. Die kleinen Schnitzer bei einem Manne, der die eleusinischen Mysterien der Universitätsbildung durchgemacht hatte, überraschten die jungen Damen seines Kirchspiels aufs höchste; besonders die Misses Farquhar, die er einmal in einem Briefe als Mads Mads = Verrückte., augenscheinlich eine Abkürzung von Madams Meine Damen., titulirt hatte. Die von Mr. Barton's Schwächen am wenigsten überraschten Personen waren seine Amtsbrüder, die jene Mysterien selbst durchgemacht hatten.

Um elf Uhr wanderte Mr. Barton in Boa und Capuze hinaus in das Hagelwetter, das ihm ins Gesicht schlug, um im Armenhause, euphemistisch »Colleg« genannt, Betstunde zu halten. Das »Colleg« war ein ungeheures, viereckiges, massives Gebäude, und stand auf einem Fleck, der die beste Apologie war für eine Bodenerhebung, die man auf zehn Meilen im Umkreis sehen konnte. Ein flacher, häßlicher Distrikt das; niederdrückend genug anzusehen, selbst an den schönsten Tagen. Die Wege waren schwarz vom Kohlenstaub, die Backsteinhäuser rauchgeschwärzt und schmutzig; und in jener Zeit – der Zeit der Handwebstühle – hatte jede zweite Hütte einen Webstuhl am Fenster, an dem man ein bleiches, kränklich aussehendes Männchen oder Weibchen sitzen und eine Art von Tretmühlarbeit verrichten sieht, die schmale Brust gegen ein Bret gedrückt. Ein beschwerlicher Bezirk für einen Geistlichen; zum mindesten für einen, der wie Amos Barton die »Seelsorge« in etwas anderem als rein amtlichem Sinn verstand; denn außer der von den Feldarbeitern gelieferten bäurischen Stupidität, sorgten die Minenarbeiter für lärmend thierisches Wesen und die Weber für scharfen Radikalismus und Dissenz Dissenter nennt man in England alle diejenigen Sektirer, die von der Hochkirche entweder blos hinsichtlich der Verfassung (Presbyterianer, Methodisten, Baptisten, Independenten) oder auch in der Lehre (Quäker, Irvingianer) abweichen.. Mrs. Hackit bemerkte oft, daß die Kohlengräber, von denen viele mehr verdienten als Mr. Barton, »ihre Zeit sich nur mit Biersaufen und Tabakrauchen vertrieben, wie verkommenes Vieh« (in entfernt bildlichem Sinne sprechend, wie wir annehmen dürfen); und in einigen der Bierhäuser wurde das Getränk gewürzt mit einer schmutzigen Art des Unglaubens. Eine gewisse Summe religiöser Erregung, hervorgerufen durch die populären Predigten Mr. Parry's, Amos' Vorgänger's, war nahezu erstorben, und der Strom des Sheppertoner religiösen Lebens fiel nach und nach gegen das Zeichen des niedrigsten Pegelstandes. Hier war, wie man merkt, eine starke Veste des Satans; und man darf den Rev. Amos Barton wohl bemitleiden, der die Besatzung Mann für Mann zu bestehen und zur Uebergabe aufzufordern hatte. Wir lesen nun zwar, daß die Mauern Jericho's fielen vor dem Schalle der Posaunen; aber wir hören nirgends, daß jene Posaunen dumpfheiser und schwach waren. Zweifellos waren es Posaunen, die klare, weithinschallende Töne von sich gaben und Steine und Mörtel in mächtige Schwingungen versetzten. Aber die Beredsamkeit des Rev. Amos glich eher einem belgischen Bahnsignalhorn, das lobenswerthe gute Vorsätze, aber mangelhaft ausgeführt, uns zeigt. Er traf oft, sowol in öffentlicher als privater Ermahnung, den rechten Ton nicht, und wurde infolge dessen öfters etwas ärgerlich. Denn obgleich Amos sich für stark hielt, fühlte er sich doch nicht stark. Die Natur hatte ihm den Glauben gegeben, aber nicht die innere Ueberzeugung. Ohne jenen Glauben würde er wohl nie Battistbäffchen getragen haben, sondern jedenfalls ein ausgezeichneter Kunsttischler und Dekan einer Independenten-Kirche geworden sein, wie es sein Vater vor ihm war (er war kein Schuster, wie Mr. Pilgrim ausgesprengt hatte). Er hätte dann lange und laut schnauben können in der Ecke seines Kirchenstuhls in der Gunstreet-Kapelle, er hätte bei Gebetsversammlungen nach Herzenslust Ansprachen halten und im Privatleben fehlerhaftes Englisch sprechen können; und diese kleinen Schwächen würden ihn nicht gehindert haben, ein so ehrenfester, gläubiger Mann wie er war, als strahlendes Licht in dem dissentirenden Cirkel von Bridgeport zu glänzen. Ein gezogenes Talglicht, von der Gestalt der langen Acht, ist etwas ganz Vortreffliches in einem Küchenleuchter, und Betty's Nase und Augen sind nicht empfindlich für den Unterschied zwischen einem solchen und der feinsten Wachskerze; nur wenn man es in einen silbernen Leuchter steckt und ins Besuchszimmer stellt, erscheint es plebejisch, trübe und unwirksam. Schade um den armen Mann, der wie jenes Talglicht an den unrechten Platz kommt! Nur die allergrößten Geister werden fähig sein, ihn nach Verdienst zu würdigen und zu bemitleiden – werden richtig urtheilen und die Lauterkeit des Wollens lieben bei aller pfuscherhaften Schwäche des Vollbringens.

Aber Amos hatte nun seinen Weg zurückgelegt durch das Graupeln, hatte im »Colleg« den Hut abgelegt, Kapuze und Boa abgenommen und liest jetzt in dem traurigen, mit Steinplatten belegten Speisesaal den auf den Bänken vor ihm sitzenden Inwohnern einen Theil der Morgenandacht vor. Erinnere dich, lieber Leser, daß das neue Armengesetz noch nicht in Wirksamkeit getreten war und Mr. Barton nicht als der bezahlte Kaplan der Union Union, die über das ganze Königreich sich erstreckende Vereinigung der Armenanstalten. amtirte, sondern als der Hirte, dem die Sorge für alle Seelen in seinem Kirchspiel oblag, arme sowohl als reiche. Nach den Gebeten knüpfte er gewöhnlich ein Gespräch mit ihnen an über irgend einen Gegenstand, der durch die Lektion für den betreffenden Tag angeregt wurde, sich mühend, ob vielleicht so doch irgend etwas Erbauliches seinen Weg finden möchte in die arme Seele, das arme Gewissen, vielleicht die schwierigste Aufgabe für den Glauben und die Langmuth jedes braven Geistlichen, die man sich denken kann. Denn gleich auf der allerersten Bank waren Gesichter, auf denen sein Auge zu ruhen hatte, forschend, ob sich etwas rege unter der stagnirenden Oberfläche.

Ihm gerade gegenüber – wahrscheinlich, weil er stocktaub war und es für erbaulicher hielt, auf kurze denn auf weite Distanz nichts zu hören – saß der »alte Maxum«, wie man ihn familiär nannte, während sein wahrer Zuname für die meisten Leute ein Geheimniß blieb. Philologischer Scharfsinn erkennt in diesem Beinamen ein Anzeichen dafür, daß man den armen patriarchalischen Alten einst für markig und spruchreich in der Rede betrachtet habe; aber jetzt lag das Gewicht von 95 Jahren schwer auf seiner Zunge, wie in seinen Ohren, und er saß vor dem Geistlichen mit vorgestrecktem Kinn, kauendem Mund und mit Augen, die in's Leere zu blicken schienen.

Ihm zunächst saß Poll Fodge – der Obrigkeit des Landes als Mary Higgins bekannt – ein einäugiges Weibsbild mit einem Gesicht voll Narben und Schrammen, die berüchtigtste Rebellin im Armenhaus, der man nachsagte, sie habe einmal dem Vorsteher ihre Suppe über die Rockschöße geschüttet, und die – trotzdem die Natur anscheinend Schutzwache gegen jene Möglichkeit war – zur Fortdauer der Fodge'schen Züge in der Person eines kleinen Jungen beigetragen hatte, der sich auf einer der hinteren Bänke höchst nichtsnutzig benahm. Miß Fodge heftete ihr eines wundes Auge auf Mr. Barton mit einer Art von verhärtetem Trotz.

Neben diesem Glied des zarteren Geschlechtes, am Ende der Bank, saß der »einfältige Jim«, ein mit einem Wasserkopf behafteter junger Mann, der den Kopf von einer Seite nach der andern rollte und auf die Spitze seiner Nase glotzte. Das waren die Stützen des alten Maxum zur Rechten.

Zu seiner Linken saß Mr. Fitchett, ein langer Kerl, der einmal Bedienter bei der Familie Oldinport war und auf dieser schwindelnden Höhe der Lebensstellung eine verächtliche Meinung über gesottenes Rindfleisch geäußert hatte, die in Shepperton als die direkte Ursache des Umstandes, daß er schließlich der Gemeinde zur Last fiel, von Geschlecht zu Geschlecht überliefert wurde. Seine Waden waren jetzt zusammengeschrumpft, und sein Haar grau ohne Beihilfe von Puder; aber noch immer trug er das Kinn, als wäre er einer steifen Cravatte sich bewußt; er setzte seinen verwitterten Hut verwegen auf's linke Ohr; und wenn er auf dem Felde arbeitete, lud er den Dünger auf und ab mit einer Art vornehmthuerischer Grazie, dem Geist jener muntern Weise des Benehmens, mit welchem er Mylady's Morgenbesucher anmeldete. Das vornehmthuerische Wesen war nirgends als in seinem Magen vollständig unterjocht und er theilte noch immer die Gesellschaft ein in Vornehme, Vornehmthuerische und Leute, die für jene sorgten. Ein Geistlicher ohne Bedienten war eine Anomalie, die zu keiner dieser Klassen gehört. Mr. Fitchett hatte eine unbezwingliche Neigung zur Schläfrigkeit während geistlicher Belehrung und in der wiederkehrenden Regelmäßigkeit, mit der er schlummerte, bis er nickte und sich selbst aufweckte, war er einem genial ersonnenen Mechanismus zur Bemessung der Zeitdauer von Mr. Barton's Vortrag gar nicht unähnlich.

Vollkommen munter und wach, im Gegensatz zu ihm, war seine Nachbarin zur Linken, Mrs. Brick, eines jener zähen, nie sterbenden alten Weiber, denen das Alter ein Netzwerk von Runzeln gegeben zu haben scheint als einen magischen Panzer gegen die Angriffe der Winter, gelinder oder strenger. Die Stelle, an welcher Mrs. Bricks noch empfindlich war – der Gegenstand, durch welchen man möglicherweise bei ihr Hoffnung oder Furcht erregen konnte – war der Schnupftabak. Er schien ein balsamirendes Pulver zu sein, der bei ihrer Seele den Dienst des Salzes that.

Und nun ergänze man sich eine Zuhörerschaft, von der diese vordere Bank ein Beispiel war, mit einer gewissen Anzahl widerhaariger Kinder, über die Mr. Spratt, der Vorsteher des Armenhauses, eine zornige Aufsicht übte, und ich denke, man wird zugestehen, daß der akademisch-gebildete Geistliche, dessen Amt es ist, einer Handvoll solcher Seelen das Evangelium zu verkünden, eine genügend schwierige Aufgabe hat. Denn um, abgesehen von wunderbarem Beistand, irgend eine Aussicht auf Erfolg zu haben, mußte er seine geographischen, chronologischen und exegetischen Ansichten der Weise des Armen, zu sehen oder nicht zu sehen, hübsch nahe bringen; er mußte einen annähernden Begriff haben von der Art und Weise, in der sich die Lehren, die so viel Lebenskraft haben im plenum seines eigenen Gehirns, im vacuum ausnehmen werden – d. h. in einem Gehirn, das weder Geographie, Chronologie, noch Exegese kennt. Eine bewegliche Phantasie kann einen Sprung wie diesen ausführen und eine gewandte Zunge ihre Rede einer so ungewöhnlichen Lage anpassen. Der Rev. Amos Barton besaß weder jene bewegliche Phantasie, noch diese gewandte Zunge. Er redete von Israel und seinen Sünden, von »auserwählten Gefäßen«, vom Osterlamm, vom Blut als einem Mittel der Versöhnung; und er strebte in dieser Weise, religiöse Wahrheit in den Bereich von Gemüthern wie Fodge und Fitchett zu bringen. Gerade am heutigen Morgen war die erste Lektion das 12. Kapitel im 2. Buch Moses, und Mr. Barton's Erklärung richtete sich auf das ungesäuerte Brod. Nichts in der Welt paßt besser für das simple Verständniß, als Belehrung durch familiäre Sinnbilder und Gleichnisse! Aber es ist da immer die Gefahr im Hinterhalt, daß das Interesse oder die Fassungsgabe unsrer Zuhörer plötzlich und genau da stille steht, wo unsere Erklärung des Sinnes beginnt. Und Mr. Barton brachte diesen Morgen die arme Phantasie glücklich bis zum Backtrog, war aber unglückseliger Weise nicht fähig, sie von jenem wohlbekannten Gegenstand aufwärts zu tragen zu den unbekannten Wahrheiten, die derselbe anzudeuten bestimmt war.

Ach! eine angeborene Unfähigkeit zum Lehren, vervollkommnet durch Collegienbesuchen zu Cambridge, wo es tüchtige Mathematiker giebt und die Butter nach der Elle verkauft wird, ist augenscheinlich nicht das Medium, durch welches die christliche Lehre als willkommener Thau für vertrocknete Seelen träufeln wird.

Und so – während das Graupeln draußen sich zu richtigem Schneien entwickelte und der massive Speisesaal ein immer finstreres und traurigeres Aussehen annahm – nickte Mr. Fitchett so tief er konnte, und Mr. Spratt beohrfeigte die Jungen mit einem constanten rinforzando; Mr. Barton aber, da er das Herannahen der Mittagszeit immer schärfer fühlte, brachte seine Mahnrede zu Ende, etwas februarlich kühl im Herzen und an den Füßen. Mr. Fitchett, jetzt, da die Belehrung vorüber, durchaus ermuntert, trat diensteifrig und graziös vor, um Mr. Barton beim Anlegen seiner Kapuze zu helfen, während Mrs. Brick mit ihrem verwitterten Zeigefinger in allen Ecken ihrer schuhförmigen Schnupftabaksdose herumrieb, vergebens nach dem Bruchtheil einer Prise suchend. Ich kann nicht umhin zu denken, daß, wenn Mr. Barton in jene kleine Dose eine winzige Portion »schottischen Ausgetrockneten« geschüttelt hätte, er vielleicht in Mrs. Brick's Gemüth etwas mehr ähnlich einer freundlichen Regung erregt haben würde, denn alles, was sie während seiner morgenlichen Auslegung gefühlt hatte. Aber unser guter Amos litt schwer unter einem Mangel an etwas Feingefühl und etwas Kleingeld; und als er die Bewegung des Zeigefingers der Alten sah, sagte er in seiner brüsken Weise: »Euer Schnupftabak ist also wohl zu Ende, he?«

Mrs. Brick's Augen zwinkerten in der visionären Hoffnung, der Pastor beabsichtige vielleicht, ihre Dose, wenigstens mittelbar, durch das Geschenk einer kleinen Kupfermünze zu füllen.

»Nun, Ihr werdet bald dahin gehen, wo es keinen Schnupftabak giebt. Dann werdet Ihr der Gnade bedürfen. Denkt daran, daß Ihr vielleicht einmal nach Gnade sucht, wie jetzt nach Schnupftabak, ohne sie zu finden.«

Aber jetzt wurde Mr. Barton's Aufmerksamkeit durch Mr. Spratt erregt, der einen kleinen, widerstrebenden Knaben aus der Rotte hervorzog. Mr. Spratt, ein Mann mit schmalem Gesicht und von kleiner Statur, mit einer bemerkenswerthen, durch Stocken gemilderten Redegewalt, that sich etwas darauf zu gute, daß er bei jeder Gelegenheit tadellose Gefühle in tadelloser Sprache ausdrücke.

»Mr. Barton, Sir – ah – ah – entschuldigen Sie, daß ich Ihre Zeit über Gebühr in Anspruch nehme – ah – ah – um Sie zu bitten, diesem Knaben einen Verweis zu ertheilen; er ist – ah – ah – äußerst verhärtet in schlechtem Betragen während der Zeit des Gottesdienstes.«

Der verhärtete Bösewicht war ein Knabe von sieben Jahren, der vergebens gegen »Lichter« an der Nase mit schwachem Schnauben kämpfte. Aber Mr. Spratt hatte diese Anklage kaum vorgebracht, als Miß Fodge vorwärts stürzte und sich zwischen Mr. Barton und den Angeklagten stellte.

»Das ist mein Kind, Möster Barton« rief sie aus und manifestirte ihre mütterlichen Gefühle weiter dadurch, daß sie mit ihrer Schürze ihrem Sprößling die Nase putzte. »Er findet alleweile etwas zu mäkeln an ihm und schlägt ihn für nichts und wieder nichts. Er soll gehen und seine 'bratene Gans essen, die uns in der Nase kitzelt, wenn wir die schmierige Brühe fressen müssen, und soll meinen Buben in Ruh' lassen.«

Mr. Spratt's kleine Augen funkelten, und er war in Gefahr, nicht ganz tadellose Gefühle vor dem Geistlichen zu äußern; aber Mr. Barton, der voraussah, daß eine Verlängerung dieser Episode nicht zur Erbauung dienen würde, sagte »Ruhe!« in seinen strengsten Tönen.

»Laßt mich kein Geschimpfe hören. Euer Junge wird sich wohl nicht gut aufführen, wenn Ihr ihm ein so schlechtes Beispiel gebt.« Dann sagte er, zu dem jungen Herrn Fodge sich herabbeugend und ihn bei der Schulter nehmend: »Gefällt's dir denn, wenn du Schläge kriegst?«

»Ne – e.«

»Was bist du dann für ein dummer Junge, ungezogen zu sein. Wärest du nicht ungezogen, bekämest du keine Schläge. Aber wenn du ungezogen bist, wird Gott auch böse werden wie Mr. Spratt; und Gott kann dich ewig in der Hölle brennen lassen. Das wird noch schlimmer sein, als Schläge kriegen.«

Das Gesicht des jungen Herrn Fodge antwortete weder zustimmend, noch verneinend auf diese Vorstellung.

»Aber«, fuhr Mr. Barton fort, »wenn du ein guter Junge sein willst, wird Gott dich lieb haben, und du wirst ein guter Mensch werden. Und nun laß mich nächsten Donnerstag hören, daß du ein guter Junge gewesen bist.«

Der junge Herr Fodge hatte keine klare Vorstellung von dem Guten, das ihm aus dieser Aenderung des Lebenslaufs erwachsen würde. Aber Mr. Barton, der merkte, daß Miß Fodge ein heikles Thema berührt hatte, als sie auf die gebratene Gans anspielte, war entschlossen, keine weitere Polemik zwischen ihr und Mr. Spratt anzuhören; so verließ er denn, dem Letzteren guten Morgen bietend, das Colleg.

Der Schnee fiel in dichteren und immer dichteren Flocken, und der Pfarrgarten war bereits in einen weißen Mantel gehüllt, als er die Thür passirte. Mrs. Barton hörte ihn die Thüre öffnen und eilte aus dem Wohnzimmer zur Begrüßung herbei.

»Ich fürchte, deine Füße sind recht naß, mein Lieber. Welch' ein gräßliches Wetter! Laß dir den Hut abnehmen. Deine Pantoffeln stehen beim Kamin.«

Mr. Barton fror ein wenig und war etwas mürrisch. Es ist schwierig, auch den geringeren Anforderungen der guten Sitte zu entsprechen, wenn man unangenehme Pflichten erfüllt hat, ohne Anerkennung, bei Schneegestöber. Er zeigte also keine Erkenntlichkeit für Milly's Aufmerksamkeiten, sondern schnob und sagte: »Hol mir meinen Schlafrock, nicht wahr?«

»Da ist er ja, Liebster. Ich dachte, du würdest nicht in dein Studirzimmer hinaufgehen, da du sagtest, du wolltest die Bücher für die Leihbibliothek betiteln und numeriren. Ich und Patty haben Umschläge herumgemacht, und sie stehen alle im Wohnzimmer bereit.«

»O, ich kann das heute nicht thun«, sagte Mr. Barton, während er die Stiefel auszog und seine Füße in die Pantoffeln steckte, die Milly ihm gebracht hatte, »Du mußt sie ins Sprechzimmer bringen.«

Das Wohnzimmer war auch Kinderstube bei Tag und Schulzimmer, und während Mama den Rücken wendet, hatte Dick, der Zweitälteste Junge, durchaus Chubby der Leitung eines kopflosen rothgesprenkelten Rosses, das sie im Zimmer herumzog, berauben, wollen, so daß Chubby, als Papa die Thüre öffnete, ganz gehörig schrie.

»Milly, einige von den Kindern müssen hinaus. Ich muß Ruhe haben.«

»Ja, Liebster. Pst, Chubby; geh' mit Patty, und seht, was Hannchen zum Mittagessen kocht. Nun, Fritz und Sophie und Dickey, helft mir die Bücher da ins Sprechzimmer tragen. Da sind drei für Dickey. Laß sie nicht fallen.«

Papa ließ sich mittlerweile in seinem Lehnstuhl nieder und nahm ein Buch über das Episcopat zur Hand, das er von der Erbauungsbücher-Gesellschaft entliehen; er dachte es zu Ende zu lesen und diesen Nachmittag zurückzugeben, da er zu der Kirchenversammlung im Pfarrhaus zu Milby ging, wo diese Gesellschaft ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatte.

Die Kirchenversammlungen und die Büchergesellschaft, die vor etwa 8 bis 10 Monaten begründet worden waren, hatten eine merkliche Wirkung auf den Rev. Amos Barton ausgeübt. Als er zuerst nach Shepperton kam, war er einfach ein evangelistischer Geistlicher, dessen christliche »religiöse Erweckung« begonnen hatte unter der Lehre des Rev. Mr. Johns von der Gunstreet-Kapelle und zu Cambridge consolidirt worden war unter dem Einfluß Mr. Simeon's. John Newton und Thomas Scott waren seine doctrinären Ideale; er würde den »Christlichen Beobachter« und das »Protocoll«, wenn er es hätte erschwingen können, gehalten haben; seine Anekdoten waren hauptsächlich von der fromm-heiteren Art, die in dissentirenden Cirkeln umliefen; und er hielt die bischöfliche Kircheneinrichtung für untadelhaft.

Aber mittlerweile begann die Wirkung der Agitation der Tractarianer Die Tractarianer oder Puseyiten verlangen, die presbyterianische Kirchenverfassung (ohne Bischöfe) herabsetzend, die Annäherung an die katholische Kirche als die einzig wahre. Ihre Lehre hat jedoch nie besonderen Anklang gefunden. in den rückwärts gelegenen Provinzgegenden sich fühlbar zu machen, und deren Satire auf das Presbyterianerthum fing selbst auf jene zu wirken an, welche ihre Lehren nicht anerkannten oder bekämpften. Die Schwingungen einer geistigen Bewegung wurden verspürt von dem vergoldeten Haupt bis zu den kothigen Zehen der Staatskirche; und so begab es sich, daß im Distrikt um Milby, den Marktflecken dicht bei Shepperton, die Geistlichkeit übereingekommen war, monatlich einmal sich zusammenzufinden, wo sie dann ihre Geisteskräfte durch die Diskussion theologischer und kirchlicher Fragen schärfen und ihre Collegialität bei einem guten Diner befestigen wollten. Eine Büchergesellschaft präsentirte sich wie von selbst als eine Zugabe zu diesem löblichen Vorhaben, und so war, wie man begreifen wird, für ausreichende Reibungen zwischen den geistlichen Gemüthern bestens gesorgt.

Nun war der Rev. Amos Barton einer jener Männer, die einen entschiedenen Willen und eine eigne Meinung haben; er hielt sich pfeilgerade aufrecht und war ohne Mißtrauen gegen sich selbst. Er wollte ganz entschieden den Weg verfolgen, den er für den besten hielt; aber dann war es so leicht, ihn zu überzeugen, welches der rechte Weg sei. Und so hatte ihn ein klein wenig ungewohnte Lektüre und ein klein wenig ungewohnte Diskussion zu der Ansicht gebracht, daß die bischöfliche Kirchenverfassung viel mehr als untadelhaft war, und betreffs mancher andrer Punkte begann er zu fühlen, daß er Ansichten hegte, die etwas zu weitsehend und tiefdurchdacht waren, um so plötzlich und unverarbeitet gewöhnlichen Geistern mitgetheilt zu werden. Er war wie eine Zwiebel, die man mit Gewürzen zusammengerieben hat; der starke, ursprüngliche Geruch war mit etwas Neuem und Fremdartigem vermischt. Die Presbyter-Zwiebel beleidigte noch immer verfeinerte hochkirchliche Nasenflügel, und die neue Würze war unzuträglich für den Gaumen des Verehrers der reinen Zwiebel.

Wir wollen ihn nicht zu der Versammlung begleiten, da wir wahrscheinlich eines Tags dorthin gehen müssen, wenn er abwesend sein wird. Und ich bin jetzt gerade geneigt, dich, lieber Leser, bei Mr. Bridmain und der Gräfin Czerlaski einzuführen, bei welchen Mr. und Mrs. Barton für morgen zum Diner geladen sind.



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