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Sechzehntes Kapitel.

Janet lag still da, wie sie es versprochen hatte; aber der Thee, der sie erwärmt und ihr ein Gefühl großer körperlicher Behaglichkeit verschafft, hatte die vorhergehende Erregung ihres Gehirns nur erhöht. Ihre Ideen gewannen eine neue Lebhaftigkeit, und es war ihr, als habe sie das Leben bis jetzt nur durch einen trüben Nebel gesehen; ihre Gedanken, anstatt der Thätigkeit ihres eigenen Geistes zu entspringen, waren außer ihr bestehende Existenzen, die sich ihr wie Spukgestalten gebieterisch aufdrängten. Die Zukunft nahm eine Gestalt des Elends nach der andern vor ihr an, immer damit endend, daß sie wieder zurückgeschleppt wurde zu ihrem alten Leben des Schreckens, Stumpfsinns und fieberhafter Verzweiflung. Ihr Gatte hatte ihr Leben so lang verdüstert, daß ihre Phantasie keine Lebenslage festhalten konnte, in der jener große Schrecken fehlte; und selbst seine Abwesenheit – was war sie? Nur eine traurige, leere Fläche, wo es nichts zu erkämpfen, nichts zu ersehnen gab.

Endlich verdrängte das Morgenlicht die Nacht und Janet's Gedanken wurden immer fragmentarischer und verwirrter. Jeden Augenblick glitt sie von der Höhe ihrer Gedanken hinab, tief hinab in eine Tiefe, aus der sie sich mit einem Ruck wieder zu erheben versuchte. Der Schlummer stahl sich über ihr müdes Gehirn, jener unruhige Schlummer, der nur besser ist als unglückliches Wachen, weil das Leben, das wir in ihm zu leben scheinen, über keine unglückliche Zukunft entscheidet, weil die Dinge , die wir darin thun und leiden, nur gehässige Schatten sind und keinen Eindruck hinterlassen, der sich zu unwiderruflicher Vergangenheit versteinert.

Sie war kaum eine Stunde eingeschlafen, als ihre Bewegungen heftiger, ihr Gemurmel häufiger und erregter wurde, bis sie endlich mit einem halberstickten Schrei auffuhr und, vor Entsetzen bebend, wild um sich blickte.

»Erschrecken Sie nicht, liebe Mrs. Dempster«, sagte Mrs. Pettifer, die schon aufgestanden und mit dem Ankleiden beschäftigt war, »Sie sind bei mir, Ihrer alten Freundin Mrs. Pettifer. Nichts soll Sie kränken.«

Janet sank, noch immer zitternd, auf ihr Kissen zurück. Nachdem sie geraume Zeit schweigend dagelegen, sagte sie: »Es war ein schrecklicher Traum. Liebe Mrs. Pettifer, lassen Sie Niemand wissen, daß ich hier bin. Halten Sie es geheim. Wenn er es herausbekommt, wird er kommen und mich wieder zurückzuschleppen.«

»Nein, meine Liebe, verlassen Sie sich auf mich. Ich habe soeben daran gedacht, der Magd einen freien Tag zu geben – ich habe es ihr schon lange versprochen. Ich werde sie fortschicken, sobald sie gefrühstückt hat, und sie wird keine Gelegenheit haben zu erfahren, daß Sie hier sind. Die Dienstboten können ihre Zunge nicht im Zaum halten, wenn man sie etwas wissen läßt. Was sie aber nicht wissen, das werden sie nicht sagen; so weit darf man ihnen trauen. Aber wäre es Ihnen nicht lieb, wenn ich ginge und Ihre Mutter holte?

»Nein, noch nicht, noch nicht. Ich kann's noch nicht ertragen, sie zu sehen.«

»Nun, es soll geschehen, wie Sie's wünschen. Nun versuchen Sie es nochmals zu schlafen. Ich werde Sie für eine oder zwei Stunden verlassen und Phöbe fortschicken und Ihnen dann ein kleines Frühstück bringen. Ich will die Thür hinter mir verschließen, damit nicht etwa das Mädchen zufällig hereinkommt.«

Das Tageslicht ändert für uns das Aussehen des Unglücks, wie alles Anderen. In der Nacht drückt es auf unsere Einbildungskraft – die Formen, die es annimmt, sind trügerisch, unbestimmt, übertrieben; bei hellem Tage macht es unsere Sinne krank durch die traurige Fortdauer bestimmter, meßbarer Wirklichkeit. Der Mann, der mit schrecklichem Entsetzen in der Todtenstille der Nacht hinschaut auf sein ganzes in Flammen stehendes Besitzthum, hat nicht halb das Gefühl der Entblößung, das er am Morgen haben wird, wenn er über die Trümmer wandelt, die geschwärzt im erbarmungslosen Sonnenschein daliegen. Dieser Augenblick der tiefsten Niedergeschlagenheit war für Janet gekommen, als das Tageslicht, das ihr die Mauern und Stühle und Tische und all die Alltagswirklichkeit zeigte, die sie umgab, auch die Zukunft bloßzulegen und alle die Details eines lästigen Lebens in niederdrückender Deutlichkeit hervortreten zu lassen schien – eines Lebens, das ertragen werden mußte von Tag zu Tag, ohne jede Hoffnung, sich gegen jene üble Gewohnheit zu stärken, die sie beim Rückblick anekelte und der zu widerstehen sie doch nicht die Kraft besaß. Ihr Gatte würde nie zugeben, daß sie getrennt von ihm lebe: sie war seiner Tyrannei nothwendig geworden; er würde nie freiwillig seine Gewalt über sie lockern lassen. Sie hatte eine vage Vorstellung von einigem Schutz, den die Gesetz ihr vielleicht verschaffen würde, wenn sie beweisen könnte, daß ihr Leben seinerseits gefährdet war; aber sie schrak, wie sie immer gethan, durchaus zurück vor irgend einem aktiven, offenkundigen Widerstand oder Racheakt; sie fühlte sich zu gedrückt, zu schuldig, zu sehr dem Tadel unterworfen, um – selbst wenn sie den Wunsch gehabt hätte – den Muth zu haben, sich offen in die Lage einer beleidigten, Abhilfe suchenden Frau zu versetzen. Sie besaß nicht die Kraft, sich aufrecht zu erhalten in einem Leben der Selbstvertheidigung und Unabhängigkeit: es lag ein dunklerer Schatten über ihrem Leben als die Furcht vor ihrem Ehemann – es war der Schatten der Verzweiflung an sich selbst. Am besten würde es sein, wenn sie fortginge und sich vor ihm verberge. Aber dann war ihre Mutter da: Robert hatte ihr ganzes kleines Besitzthum in Händen, und dieses Wenige war kaum genug, um sie ohne seine Unterstützung anständig zu versorgen. Wenn Janet allein wegging, würde er gewiß ihre Mutter chikaniren; und wenn sie hinwegging – was dann? Sie mußte arbeiten, um sich zu ernähren; sie mußte sich bemühen, müde und hoffnungslos wie sie war, das Leben von neuem zu beginnen. Wie hart ihr das vorkam! Janets Charakter strafte ihre imposante Gestalt und Gesichtsbildung nicht Lügen: es lag Energie, es lag Kraft darin; aber es war die Kraft des Weinstocks, dessen breite Blätter und reiche Trauben von einer festen Stütze getragen werden müssen. Und sie hatte jetzt nichts, worauf sie sich stützen konnte – keinen Glauben, keine Liebe. Wenn ihre Mutter sehr schwach, hochbetagt oder kränklich gewesen wäre, würde Janets tiefes Mitleid und Zärtlichkeit ihr vielleicht die Kindespflichten zu einem Reiz und Trost gemacht haben; aber Mrs. Raynor hatte nie der Pflege bedurft, sie hatte stets ihrer Tochter Hilfe geleistet; sie war stets eine Art von demüthigem, dienendem Geist gewesen, und es war eine von Janets Erinnerungsqualen, daß sie ihrer Mutter statt des Trostes eine Prüfung gewesen. Ueberall dieselbe Trübsal! Ihr Leben war ein sonnverbrannter, dürrer Landstrich, wo es keinen Schatten gab und wo alle Wasser bitter waren.

Nein! dachte sie plötzlich – und der Gedanke kam wie ein elektrischer Schlag – es gab etwas in ihrer Erinnerung, das ihr eine noch unerreichte Quelle zu versprechen schien, wo die Wasser vielleicht süß wären. Jene kurze Begegnung mit Mr. Tryan war ihr wieder eingefallen – seine Stimme, seine Worte, sein Blick, der ihr sagte, daß er das Leid kenne. Seine Worte hatten angedeutet, daß er sich dem Tode nahe glaubte; doch er hatte einen Glauben, der ihn befähigte, zu arbeiten – befähigte, Anderen Trost zu bringen. Jener Blick von ihm wurde ihr viel lebhafter gegenwärtig, als er in Wirklichkeit für sie gewesen war; er wußte sicher mehr von den Geheimnissen des Leidens als andere Menschen; vielleicht hatte er eine Friedensbotschaft, gänzlich verschieden von den kraftlosen Worten, die sie von Anderen zu hören gewohnt war. Sie war ihrer müde, jener fruchtlosen Ermahnungen – Thue Recht, bewahre Dir ein reines Gewissen, und Gott wird Dich belohnen, und Deine Beschwerden werden leichter zu tragen sein. Sie brauchte Kraft, um Recht zu thun – sie brauchte etwas, außer den eigenen Vorsätzen, worauf sie sich stützen könnte; denn war nicht der Pfad hinter ihr ganz mit gebrochenen Vorsätzen gepflastert? Wie konnte sie auf neue vertrauen? Sie hat oft Mr. Tryan verspotten hören, weil er ein Freund großer Sünder sei. Sie begann in diesen Worten einen neuen Sinn zu entdecken: er würde vielleicht ihre Hilflosigkeit, ihre Nöthen verstehen. Wenn sie ihm ihr Herz ausschütten, wenn sie zum erstenmale in ihrem Leben alle Kammern ihrer Seele aufschließen könnte!

Der Antrieb zur Beichte verlangt fast immer die Gegenwart eines frischen Ohres und eines frischen Herzens; und in den Augenblicken, wo wir geistlichen Zuspruchs bedürfen, scheint uns der Mann, mit dem uns kein Band als die Gemeinsamkeit des Wesens verbindet, näher zu stehen als Mutter, Bruder oder Freund. Unser tägliches häusliches Leben ist nur ein gegenseitiges Sichverstecken hinter einem Schirm trivialer Worte und Handlungen, und Jene, die mit uns an demselben Herde sitzen, sind oft am weitesten entfernt von der tiefen Menschenseele in uns, voll von unausgesprochenem Nebel und von ungewirktem Guten.

Als Mrs. Pettifer zu ihr zurück kam, den Schlüssel umdrehte und leise die Thür öffnete, war Janet – statt zu schlafen, wie ihre gute Freundin gehofft hatte – stark beschäftigt mit ihrem neuen Gedanken. Sie wünschte sehnlichst Mrs. Pettifer zu fragen, ob sie Mr. Tryan sprechen könnte; aber sie wurde durch Schüchternheit und Zweifel davon zurückgehalten. Er würde vielleicht keine Theilnahme für sie fühlen – er würde vielleicht Anstoß nehmen an ihrer Beichte – vielleicht von Doktrinen mit ihr reden, die sie nicht verstehen oder glauben konnte. Sie konnte sich noch nicht fest entschließen, aber sie war zu ruhelos in diesem seelischen Kampfe, um im Bett bleiben zu können.

»Mrs. Pettifer,« sagte sie, »ich kann nicht länger so liegen bleiben; ich muß aufstehen. Wollen Sie mir einige Kleidungsstücke leihen?«

Eingehüllt in Gewänder, wie sie Mrs. Pettifer für ihre hohe Gestalt finden konnte, ging Janet in das kleine Besuchszimmer hinab, und versuchte etwas von dem Frühstück zu genießen, das ihre Freundin für sie bereitet hatte. Aber ihr Bemühen war nicht erfolgreich; sie konnte ihre Tasse Thee und ihr geröstetes Brödchen nur zur Hälfte verzehren. Das Bleigewicht der Muthlosigkeit drückte sie schwerer und schwerer. Der Wind hatte sich gelegt, und ein rieselnder Regen war gekommen; die Aussicht von Mrs. Pettifers Besuchszimmer ging nur auf eine leere Mauer; und als Janet aus dem Fenster blickte, schienen sich der Regen und die rauchgeschwärzten Backsteine in ekelerregendem Einerlei mit der Trostlosigkeit ihrer Seele und der schmerzhaften Müdigkeit ihres Körpers zu vereinen.

Mrs. Pettifer beendigte ihre hausmütterlichen Geschäfte, so rasch sie konnte, und setzte sich dann mit einer Näharbeit nieder – in der Erwartung, Janet würde vielleicht im Stande sein, etwas von dem Vorgefallenen zu erzählen, und in einem solchen Herzenserguß einige Erleichterung finden. Aber Janet konnte sie nicht anreden; sie war von der Sehnsucht bestürmt, Mr. Tryan zu sprechen, und zögerte doch, diese Sehnsucht auszudrücken.

Zwei Stunden verflossen in dieser Weise. Der Regen rieselte noch immer herab, und Janet saß still da, den schmerzenden Kopf auf die Hand gestützt und abwechselnd ins Feuer und zum Fenster hinaus blickend, Sie fühlte, dies könnte nicht lange währen – dieses regungslose, gedankenlose Elend. Sie mußte sich zu etwas entschließen, sie mußte irgend einen Schritt thun; und doch war alles so schwierig.

Es war ein Uhr, und Mrs. Pettifer stand von ihrem Sitze auf, indem sie sagte: »Ich muß gehen und an's Diner denken.«

Die Bewegung und der Ton schreckten Janet aus ihrer Träumerei auf. Es schien, als wolle ihr eine günstige Gelegenheit entschlüpfen, und sie sagte hastig: »Glauben Sie, daß Mr. Tryan heute in der Stadt ist?«

»Nein, ich dächte nicht, da es Samstag ist, wie Sie wissen,« sagte Mrs. Pettifer, deren Gesicht freudig zu strahlen begann; »aber er würde kommen, wenn man nach ihm schickte. Ich kann Jessons Knaben jederzeit mit einer Note zu ihm schicken. Möchten Sie ihn gerne sprechen?«

»Ja, ich glaube wohl.«

»Dann will ich augenblicklich nach ihm senden.«



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