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Zehntes Kapitel.

Die Geschichte, wissen wir, wiederholt sich gern und schiebt uns sehr alte Vorfälle mit einem bloßen leichten Costümwechsel unter. Von der Zeit des Xerxes herab haben wir Generale beim Auszug in's Feld prahlen und den Feind mit der größten Leichtigkeit in Reden nach dem Essen besiegen hören. Aber die Ereignisse stehen manchmal in schreiendem Widerspruch zu den Erwartungen der genialsten Taktiker; die Schwierigkeiten des Feldzuges liegen lächerlich im Zwist mit scharfsinnigen Berechnungen; der Feind besitzt die Unverschämtheit, nicht in Verwirrung zu gerathen, wie man billigerweise von ihm erwartet hatte; der Geist des tapferen Generals beginnt bestürzt zu werden durch Nachrichten von Intriguen gegen ihn zu Hause, und es scheint – trotz der hübschen Complimente, die er vor seinem Auszug der Vorsehung als seiner unzweifelhaften Patronin gemacht – alle Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß die Te Deum ganz auf der anderen Seite sein werden.

So ging es auch Mr. Dempster in seinem merkwürdigen Feldzug gegen die Tryaniten. Nach all dem vorzeitigen Triumph bei der Rückkehr von Elmstoke war die Schlacht gegen die Abendbetstunde verloren worden; der Feind war im Besitz des Schlachtfeldes; und die äußerste noch bleibende Hoffnung war die, daß man ihn durch einen ermüdenden Guerillakrieg dazu treiben könnte, die Gegend zu verlassen. Eine Zeit lang wurde diese Art von Kriegführung mit bemerkenswerthem Muthe fortgesetzt. Die Pfeile des Milbyer Gelächters wurden furchtbarer gemacht durch Vergiftung mit Verläumdung; und bald waren sehr häßliche, mit umständlicher Genauigkeit erzählte Geschichten in Umlauf betreffs Mr. Tryans und seiner Hörer, aus welchen Geschichten ganz leicht zu schließen war, daß der Evangelikalismus nothwendigerweise zu einer heuchlerischen Befriedigung des Lasters führen müsse. Einige alte Freundschaften wurden zerrissen, und es gab nahe Verwandte, die fühlten, daß religiöse, durch keine Aussicht auf eine Erbschaft gemilderte Meinungsverschiedenheiten ein genügender Grund wären, ihre Familienantipathie zu zeigen. Mr. Budd haranguirte seine Arbeiter und drohte ihnen mit Entlassung, wenn man erführe, daß sie oder ihre Angehörigen der Abendbetstunde beiwohnten; und Mr. Tomlinson polterte übermäßig, als er hörte, daß sein Obermüller ein arger Tryanit sei, und würde denselben auf der Stelle entlassen haben, wenn ein solches Strafverfahren nicht nachtheilig gewesen wäre.

Im Ganzen indessen neigte sich die Schale des materiellen Verlustes nach einigen Monaten auf die Seite der Antitryaniten. Mr. Pratt zwar hatte außer Mr. Dempsters Familie noch einen oder zwei Patienten verloren; aber da es offenbar war, daß der Evangelikalismus den Strom seiner Anekdoten nicht aufgetrocknet, noch seine Ansicht von der Constitution einer Dame im geringsten geändert hatte, so ist es wahrscheinlich, daß eine von so wenig äußeren und sichtbaren Zeichen begleitete Änderung eher der Vorwand als der Grund seiner Verabschiedung in jenen Fällen war. Mr. Dunn war mit dem Verlust mehrerer guten Kunden bedroht, nachdem Mrs. Phipps und Mrs. Lowme mit dem Beispiel vorangegangen waren, ihre Rechnungen von ihm zu verlangen; und der Tuchhändler sah seiner nächsten Inventur mit einer Ängstlichkeit entgegen, die nur wenig gemildert wurde durch die Parallele, die seine Frau zog zwischen seinem eigenen Fall und dem des Sadrach, Mesach und Abednego, die in einen feurigen Ofen geworfen wurden Sadrach, Mesach und Abednego (Buch Daniel 3) stehen sinnbildlich für außerordentlichen Mut und Standhaftigkeit, da sie sich trotz Androhung, in einen Feuerofen geworfen zu werden, weigerten, sich vor einer von Nebukadnezar errichteten Statue zu beugen und somit ihrem Gott treu blieben, der sie dann auch in den Flammen durch einen Engel errettete, was nicht nur Nebukadnezar zur Einsicht verhalf, sondern den drei Freunden hohe Ämter in der Provinz Babel einbrachte. – Anm.d.Hrsg.. Denn, wie er am nächsten Morgen mit jener Scharfsichtigkeit, die dem Geschäft des Rasirens eigen ist, gegen sie bemerkte, während ihre Errettung in der Thatsache bestand, daß ihre Leinen- und Wollenkleider nicht consumirt wurden, lag seine Errettung genau in dem entgegengesetzten Ergebniß. Aber die Bequemlichkeit, jene bewundernswerthe Abzweigung von der Hauptlinie des Eigennutzes, macht uns alle zu ihren Gehilfen trotz entgegengesetzter Entschlüsse. Es ist wahrscheinlich, daß schließlich kein speculativer oder theologischer Haß stark genug wäre, der überzeugenden Kraft der Bequemlichkeit zu widerstehen: daß ein freigeistiger Bäcker, dessen Brod ehrenwerther Weise frei wäre von Alaun, über die Kundschaft jedes magenschwachen Puseyiten Anhänger von Edward Bouverie Pusey (1800-82), englischer Theologe und Gründer einer entschieden katholisierenden Richtung in der englischen Hochkirche. – Anm.d.Hrsg. verfügen würde; daß ein Arminianer Arminius (1560-1609) behauptete eine Mitwirkung der Menschen bei Erlangung der Seligkeit durch den Glauben; dies habe Gott von Ewigkeit bei den Einzelnen vorhergesehen und danach ihr Schicksal bestimmt. mit Zahnweh einen geschickten calvinistischen Zahnarzt einem Pfuscher vorziehen würde, der standhaft ist gegen die Lehren von der Gnadenwahl und von dem Beharren bis zum Ende und ihm wahrscheinlich den Zahn im Munde abbrechen würde; und daß ein »Plymouth-Bruder« Eine bis heute existierende, in den 1820er Jahren in England und Irland entstandene traditionalistische Sekte., der einen wohlversehenen Spezereiladen in günstiger Lage hat, gelegentlich das Vergnügen haben würde, Zucker und Essig an orthodoxe Familien zu liefern, denen diese unentbehrlichen Artikel unerwartet »ausgegangen« waren. In dieser überzeugenden Kraft der Bequemlichkeit lag Mr. Dunns schließliche Sicherheit gegen das Märtyrerthum. Seine Tuche waren die besten in Milby; die bequeme Sitte und Gewohnheit, befriedigende Artikel bei Bedarf augenblicklich zu beschaffen, erwies sich als zu stark für den antitryanitischen Eifer; und der Tuchhändler konnte bald seiner nächsten Inventur ohne die Stütze einer biblischen Parallele entgegensehen.

Auf der anderen Seite hatte Mr. Dempster seinen ausgezeichneten Clienten Mr. Jerome verloren – ein Verlust, der ihn weit mehr ärgerte, als durch die bloße pekuniäre Einbuße, die er darstellte, erklärlich war. Der Advokat liebte das Geld, aber noch weit mehr liebte er die Macht. Er war immer stolz darauf gewesen, daß er schon frühe das Vertrauen eines Conventikelgehers gewonnen hatte und »die Stütze Salems um den Daumen wickeln« konnte. Auch hegte er wie die meisten Menschen eine gewisse Freundlichkeit gegen jene, die ihn beschäftigten, als er seine Laufbahn erst begonnen hatte, und ließ nicht gern seines alten Clienten Namen von dem gewohnten Fach in seinem Bureau ausstreichen. Unser gewohnheitsmäßiges Leben ist wie eine mit Bildern behangene Mauer, auf welche die Sonne viele Jahre geschienen hat; nehmt eines der Gemälde hinweg, und es hinterläßt einen genau begrenzten leeren Raum zurück, auf den wir unsere Augen nie ohne Unbehaglichkeit richten können. Ja sogar der unfreiwillige Verlust eines vertrauten Gegenstandes erregt in uns ein Frösteln wie von einem bösen Omen; es scheint der erste Fingerzeig des nahenden Todes zu sein.

Aus, all diesen zusammenwirkenden Ursachen konnte Mr. Dempster nie ohne starke Erregung an seinen Clienten denken, und schon der Anblick Mr. Jeromes, wenn er auf der Straße an ihm vorüberging, war Wermuth für ihn.

Eines Tages, als der alte Herr auf seiner Rothschimmelstute die Gartenstraße heraufritt, wie gewöhnlich am Zügel schüttelnd und ihre Weichen mit der Peitsche kitzelnd, obgleich ein vollkommenes gegenseitiges Einverständniß darüber herrschte, daß sie ihre Gangart nicht beschleunigen solle, stand Janet zufällig auf der Thürschwelle, und er konnte der Versuchung nicht widerstehen, anzuhalten, und das »nette kleine Weibchen«, wie er sie stets nannte, obgleich sie größer war als alle seine übrigen Bekanntinnen, anzusprechen. Janet konnte keinen Groll hegen gegen ihren alten Freund, trotz ihrer Neigung, in allen öffentlichen Dingen ihres Gatten Partei zu ergreifen; und so schüttelten sie sich denn die Hände.

»Nun, Mrs. Dempster, es thut mir wirklich von Herzen leid, daß ich Sie nicht manchmal sehen kann«, sagte Mr. Jerome in bedauerndem Ton. »Aber wenn Sie arme Leute wissen, die der Hilfe bedürfen und ihrer würdig sind, senden Sie sie zu mir, nicht wahr«?

»Ich danke Ihnen, Mr. Jerome, das will ich. Adieu.«

Janet machte die Unterredung so kurz als möglich, aber doch nicht kurz genug, um der Beobachtung ihres Gatten zu entgehen, der, wie sie fürchtete, auf dem Rückweg von seinem Bureau am andern Ende der Straße begriffen war; und dieses Vergehen ihrerseits, mit Mr. Jerome gesprochen zu haben, war das häufig wiederkehrende Thema der scheltenden häuslichen Beredsamkeit Mr. Dempsters.

Da er den Verlust seines Klienten mit Mr. Tryans Einfluß in Verbindung brachte, begann Mr. Dempster genauer zu erkennen, warum er den anstößigen Curaten haßte. Aber ein leidenschaftlicher Haß verlangt ebensowohl wie eine leidenschaftliche Liebe etwas Muße und geistige Freiheit. Verfolgung und Rache, wie Liebeswerbung und Speichelleckerei werden nie ohne beträchtlichen Aufwand an Zeit und Scharfsinn gedeihen, und diese sind nicht im Überfluß vorhanden bei einem Manne, dessen Rechtsgeschäfte und Leber zugleich unerfreuliche Symptome zu zeigen beginnen. Diese unangenehme Wendung nahmen jetzt die Dinge bei Mr. Dempster, und wie der durch heimische Intriguen verwirrte General, war er selbst zu sehr beunruhigt, um geniale Pläne zur Beunruhigung des Feindes entwerfen zu können.

Mittlerweile zog die Abendbetstunde eine immer größer werdende Gemeinde an: sie zog zwar nicht viele an aus jenem gewählten aristokratischen Kreise, in welchem die Lowmes und Pittmans herrschten, gewann aber den größeren Theil von Mr. Crewes morgigen und nachmittägigen Zuhörern und lichtete Mr. Stickneys Abendhörerschaften zu Salem. Der Evangelismus bahnte sich seinen Weg in Milby und verbreitete nach und nach seinen seinen Duft in Kammern, die sich dagegen verschlossen und verriegelt hatten. Die Bewegung hatte wie alle andern religiösen »Erweckungen« eine gemischte Wirkung. Religiöse Ideen haben das Schicksal von Melodien, die, einmal in der Welt in Umlauf gesetzt, von allen Arten von Instrumenten aufgenommen werden, von denen manche kläglich grob, schwach oder verstimmt sind, bis die Leute endlich in Gefahr kommen zu rufen, daß die Melodie selbst abscheulich sei. Mag sein, daß einige von Mr. Tryans Hörern eher ein religiöses Wörterbuch als religiöse Erweckung gewonnen hatten; daß hie und da eine Webersfrau, die vor einigen Monaten einfach eine alberne Schlumpe war, sich jetzt zu dem verwickelteren Krebsschaden einer albernen und scheinheiligen Schlumpe »bekehrt« hatte; daß der alte Adam mit der Beharrlichkeit des mittleren Alters fortfuhr, hinter dem Ladentisch »Bären aufzubinden«, trotz des neuen Adams Neigung zum Bibellesen und Familiengebet; daß das Gedächtniß der die Paddiforder Sonntagsschule besuchenden Kinder vollgestopft wurde mit Phrasen über das Blut der Reinigung, zugerechnete Gerechtigkeit und Rechtfertigung allein durch den Glauben, welche deren Erfahrung, die sich hauptsächlich auf Grübchenspiel, Hüpfen auf einem Bein, väterliche Klapse und Sehnsucht nach unerreichbarem Gerstenzucker erstreckte, eher zu verfinstern als zu erleuchten geeignet war; und daß zu Milby in jenen fernen Tagen, wie zu allen anderen Zeiten und an allen anderen Orten, wo die geistige Atmosphäre wechselt und die Menschen das Reizmittel neuer Ideen einsaugen, die Thorheit sich oft selbst für Weisheit hielt, die Unwissenheit sich die Miene des Wissens gab und die Selbstsucht, die Augen nach oben drehend, sich Religion nannte.

Nichtsdestoweniger hatte der Evangelismus in der Milbyer Gesellschaft jenes Pflichtgefühl, jene Erkenntniß, daß etwas vorhanden sei außer der bloßen Befriedigung des Ich, was für das moralische Leben dieselbe Bedeutung habe, welche die Beifügung eines großen Centralnervenknotens für das thierische Leben hat, in greifbare Existenz und Wirksamkeit gebracht. Kein Mensch kann beginnen, sich nach einem Glauben oder einer Idee umzuformen, ohne sich zu einem höheren Grad von Erfahrung zu erheben; ein Princip der Unterordnung, der Selbstbeherrschung ist in sein Wesen aufgenommen worden; er ist nicht länger ein bloßes Bündel von Eindrücken, Wünschen und Antrieben. Welches auch die Schwächen der Damen sein mochten, die den Luxus ihrer Spitzen und Bänder beschnitten und Kleider für die Armen zuschnitten, Traktätchen vertheilten, die Bibel citirten und das wahre Evangelium definirten, sie hatten dies gelernt – daß ein göttliches Werk im Leben zu thun sei, daß es einen Maßstab der Güte gebe, der höher sei als die Meinung der Nebenmenschen; und wenn auch der Begriff eines ihnen vorbehaltenen Himmels ein wenig zu stark hervortrat, so bestand doch die Theorie der Vorbereitung für jenen Himmel in Herzensreinheit, christlichem Erbarmen und in der Unterdrückung selbstsüchtiger Wünsche. Sie gaben vielleicht dem, was nur puritanischer Egoismus war, den Namen Frömmigkeit, sie nannten manches Sünde, was keine Sünde war; aber sie hatten wenigstens das Gefühl, daß die Sünde zu vermeiden und zu bekämpfen sei, und Farbenblindheit, die Rothbraun für Scharlach hält, ist besser als gänzliche Blindheit, die überhaupt keinen Farbenunterschied kennt. Miß Rebecca Linnet hatte jetzt, wo sie in einfacher Kleidung, mit etwas übertrieben feierlicher Miene, in der Sonntagsschule unterrichtete und nach einem Vorbild der Reinheit und Güte kämpfte, gewiß mehr von moralischer Lieblichkeit an sich, als in jenen prahlerischen Pfingstrosentagen, wo sie kein anderes Vorbild kannte, als die Kostüme der Heldinnen von der Leihbibliothek. Miß Eliza Pratt, die in entzückter Andacht Mr. Tryans Abendbetstunde anhörte, fand ohne Zweifel evangelische Kanäle für Eitelkeit und Egoismus; aber sie übertraf in moralischer Hinsicht Miß Phipps, die unter ihren Federn über des alten Mr. Crewes Sonderbarkeiten im Vortrag kicherte. Und selbst ältliche Väter und Mütter von der Geistesbeschaffenheit Mrs. Linnets, zu zäh, um viel kirchliche Doktrin einzusaugen, waren besser jetzt, da sie ihre Herzen dem neuen Prediger, als einem Boten von Gott, zugewandt hatten. Sie schämten sich vielleicht ihrer übeln Launen, ihrer Weltlichkeit, ihrer schalen, nichtigen Vergangenheit. Die erste Voraussetzung menschlicher Güte ist etwas zum Lieben; die zweite, etwas zum Verehren. Und diese letztere werthvolle Gabe wurde durch Mr. Tryan und den Evangelismus nach Milby gebracht.

Ja, die Bewegung war gut, wenn sie auch jenes Gemisch von Thorheit und Uebel zeigte, welches oft das, was gut ist, zu einem Ärgerniß macht für schwache und heikle Gemüther, welche die menschlichen Handlungen und Charaktere erst durch das Sieb ihrer eigenen Ideen rütteln müssen, ehe sie ihre Übereinstimmung oder Bewunderung zollen können. Solche Geister würden vermuthlich Mr. Tryans Charakter als jenes rüttelnden Prozesses sehr bedürftig befunden haben. Das segensvolle Werk, der Welt vorwärts zu helfen, wartet glücklicherweise nicht, bis es von vollkommenen Menschen vollbracht wird; und ich möchte glauben, daß z. B. weder Luther noch John Bunyan J. Bunyan (1628-88) verfaßte ein in England äußerst populäres Erbauungsbuch »The Pilgrims Progress« (Pilgerreise). die modernen Anforderungen an einen idealen Helden befriedigt hätten, der nichts glaubt, als was wahr ist, nichts fühlt, als was erhaben ist, und nichts thut, als was tugendhaft ist. Die wirklichen Helden, die Gott geschaffen, sind ganz anders; sie haben ihr natürliches Erbe an Liebe und Gewissen, das sie mit der Muttermilch einsogen; sie kennen eine oder zwei von jenen tiefen religiösen Wahrheiten, die nur zu gewinnen sind durch langes Ringen mit eigenen Sünden und Leiden; sie haben Glauben und Kraft gewonnen, so weit sie wahr und rein gewirkt haben; der Rest ist trockene, unfruchtbare Theorie, bloßes Vorurtheil, vages Hörensagen. Ihre Einsicht ist verquickt mit bloßen Ansichten; ihre Sympathie ist vielleicht auf enge Grenzen der Lehre beschränkt, anstatt sich mit der Freiheit eines Stroms zu verbreiten, der jedes Unkraut auf seinem Wege erquickt; Hartnäckigkeit oder eigene apodiktische Behauptung wird sich oft mit ihren großartigsten Antrieben vermischen; und selbst ihre selbstaufopfernden Thaten sind manchmal nur der Rückschlag eines leidenschaftlichen Egoismus. So war es auch bei Mr. Tryan: und Einer, der ihn wie ein Kritiker aus der Vogelschau betrachtete, mochte vielleicht sagen, daß er den Mißgriff begangen habe, das Christenthum mit einem zu engen doktrinären System zu identifiziren; daß er Gottes Werk ausschließlich im Gegensatz zu der Welt, dem Fleisch und dem Teufel sah; daß seine geistige Cultur zu beschränkt war – und so fort, indem er Mr. Tryan als Thema benutzt hätte zu einer weisen Abhandlung über die Merkmale der evangelischen Schule zu seiner Zeit.

Ich aber schwebe nicht in jener luftigen Höhe; ich stehe mit ihm auf gleicher Höhe und im Gedränge, wie er sich kämpfend Bahn bricht auf der steinigen Straße, durch die Schaar liebloser Mitmenschen. Er strauchelt vielleicht; sein Herz schlägt jetzt rasch aus Furcht, jetzt schwer vor Schmerz; seine Augen sind manchmal trüb von Thränen; er drängt mannhaft vorwärts, mit ab- und zunehmendem Glauben und Muth, mit einem empfindlichen, kränklichen Körper; endlich fällt er, der Kampf ist beendet, und die Menge schließt sich über der Stelle, die er verlassen hat.

»Einer von der evangelischen Geistlichkeit, ein Schüler Venns Henry Venn (1796-1873), englischer Theologe und Generalsekretär der Church Missionary Society, einer der bekanntesten anglikanischen Geistlichen seiner Zeit und Mitglied in zwei königlichen Kommissionen. Er nahm eine kritische Position zur Sklaverei ein und gilt als einer der Hauptmitverantwortlichen für die Abschaffung des transatlantischen Sklavenhandels. – Anm.d.Hrsg.«, sagt der Kritiker aus der Vogelschau. »Kein bemerkenswerthes Exemplar; Anatomie und Physiologie seiner Gattung sind schon lange festgestellt.«

Doch sicher, ganz sicher ist die einzig richtige Erkenntniß von unserem Mitmenschen die, welche uns befähigt, mit ihm zu fühlen – die unser Ohr schärft für die Herzschläge, die unter dem bloßen Gewande der Meinung und Umstände pulsiren. Unsere genaueste Analyse der Schulen und Sekten muß der wesentlichen Wahrheit entbehren, wenn sie nicht erleuchtet wird durch die Liebe, die in allen Formen menschlichen Denkens und Wirkens die Lebens- und Todeskämpfe vereinzelter menschlicher Wesen sieht.



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