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Siebentes Kapitel.

Mr. Dempster blieb diesen Abend nicht lange im »Rothen Löwen.« Er wurde nach Hause gerufen, um mit Mr. Armstrong, einem reichen Clienten, zu conferiren, und da die Consultation bis spät in die Nacht währte, so traf sich's, daß dies eine von den Nächten war, in welchen Mr. Dempster ziemlich nüchtern zu Bette ging. Und so endete der Tag, der für Janet einer der glücklichsten gewesen war, weil sie ihn zur Unterstützung ihrer lieben alten Freundin Mrs. Crewe verwandt hatte, in ungewöhnlicher Ruhe für sie; und wie ein klarer Sonnenuntergang einen schönen Morgen verspricht, so ist ein ruhiges Niederlegen ein gutes Vorzeichen eines ruhigen Erwachens. Mr. Dempster war am Donnerstag Morgen in bester Laune, und wenn auch etwas davon auf Rechnung der Aussicht auf ein gewinnbringendes und erregendes Geschäft in Mr. Armstrongs bevorstehendem Rechtsstreit zu setzen war, so gebührte doch zweifellos der größere Theil davon jenen Regungen des freundlicheren, gesunden Kerns des menschlichen Gefühls, durch welche die Güte immer dann die Oberhand in uns zu gewinnen versucht, so oft sie nur die geringste Chance dazu zu haben scheint – an Sonntagsmorgen vielleicht, wenn wir befreit sind von der drückenden Eile der Woche und beim Frühstück das kleine Dreijährige auf's Knie nehmen, um unser Ei und unsern Kuchen mit ihm zu theilen; in Momenten des Kummers, wenn der Tod unser Dach heimsucht oder Krankheit uns abhängig macht von der pflegenden Hand einer vernachlässigten Frau; während eines ruhigen Geplauders mit einer betagten Mutter über die Zeit, da wir mit dem ersten Bilderbuch in der Hand an ihrem Knie standen oder ihr liebevolle Briefe von der Schule schrieben. In einem Manne, dessen Kindheit Liebkosungen gekannt hat, gibt es immer eine Fiber der Erinnerung, die zu sanften Schwingungen gebracht werden kann, und Mr. Dempster, den wir bisher nur als den Redner im »Rothen Löwen« und den trunkenen Tyrannen eines traurigen, mitternächtigen Heims gesehen haben, war der erstgeborne Lieblingssohn einer schönen kleinen Mutter. Diese Mutter lebte noch, und ihr großer schwarzer Lehnstuhl, in dem sie den lieben langen Tag strickend saß, war jetzt für sie an den Frühstückstisch gerückt und zwar an ihres Sohnes Seite: eine dreifarbige Katze nahm denselben vorläufig in Beschlag.

»Guten Morgen, Mamsey! ei, Du siehst diesen Morgen so frisch wie ein Maßliebchen aus. Du wirst wieder jung«, sagte Mr. Dempster, von seinem Zeitungsblatt aufblickend, als die kleine alte Dame eintrat. Eine sehr kleine, alte Dame war sie, mit blassem, kaum gerunzeltem Gesicht, einem Haar von jenem eigenthümlichen Weiß, das uns erzählt, daß die Locken einst blond gewesen sind, einer hübschen schneeweißen Haube auf dem Kopf und einem weißen Shawl über die Schultern. Man sah auf einen Blick, daß sie eine blonde Mignon gewesen, seltsam ungleich ihrem großen, häßlichen, dunkelhäutigen Sohn; ungleich auch ihrer Schwiegertochter, deren großzügige brünette Schönheit stets noch mehr gehoben erschien durch die helle Erscheinung der kleinen Mama. Die Unähnlichkeit zwischen Janet und ihrer Schwiegermutter erstreckte sich nicht blos auf Gestalt und Gesichtsfarbe: es herrschte auch sehr wenig Sympathie zwischen ihnen, denn die alte Mrs. Dempster hatte noch nicht daran zu glauben verlernt, daß ihr Sohn Robert auf dem rechten Weg geblieben wäre, wenn er nur die richtige Frau geheirathet hätte – ein demüthiges Weib wie sie selbst, das ihm Kinder geboren hätte und eine flinke, ordentliche Haushälterin gewesen wäre. Trotz Janets Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit gegen sie hatte sie von Anfang an nur wenig Zuneigung zu ihrer Schwiegertochter gefühlt und das traurige Anwachsen des Familienelends lange Jahre hindurch mit angesehen, immer geneigt, die Schuld eher auf die Frau als auf den Mann zu schieben und Mrs. Raynor zu tadeln, weil sie ihrer Tochter Fehler durch eine zu ausschließliche Sympathie ermuthige. Aber die alte Mrs. Dempster besaß jene seltene Gabe des Schweigens und der Passivität, die oft den Mangel an Seelenstärke ersetzt; und was auch ihre Gedanken waren, sie sagte kein Wort, die häusliche Zwietracht zu verstärken. Geduldig und stumm saß sie bei ihrer Strickarbeit, während mancher Scene des Zankens und der Qual; entschlossen schien sie nichts von den Worten zu hören, die ihr Ohr erreichten, und von den Thatsachen, die sie errieth, nachdem sie sich auf ihr Zimmer zurückgezogen; stumm war sie Zeugin von den Fehlern der armen Janet, sie nur als entschuldigendes Gegengewicht in die Wagschaale ihres Sohnes legend. Der harte, schlaue, herrische Anwalt war noch immer der Liebling dieser alten Frau, wie er es gewesen, als sie mit triumphirendem Stolz seine ersten tappenden Anstrengungen, allein über die Ammenstube zu schreiten, sorglich überwachte. »Was ist er doch für ein guter Sohn gegen mich!« dachte sie häufig. »Nie gab er mir ein barsches Wort. Und so hätte er auch ein guter Gatte werden können.«

O, er ist bemitleidenswerth – dieser Kummer bejahrter Frauen! In früher Jugend sagten sie vielleicht bei sich: »Ich werde glücklich sein, wenn ich einen Gatten habe, der mich über alles liebt«; dann, wenn der Gatte zu gleichgiltig gewesen: »Mein Kind wird mich trösten«; dann, während der Mutter Wachen und Mühen: »Mein Kind wird mir alles vergelten, wenn es groß wird.« Und endlich, nachdem die lange Reise durch die Jahre zurückgelegt, ist der Mutter Herz niedergedrückt von einer schwereren Bürde, und keine Hoffnung bleibt außer dem Grabe.

Aber diesen Morgen setzte sich die alte Mrs. Dempster ohne irgend eine schmerzliche, unterdrückte Erinnerung an die letzte Nacht in ihrem Lehnstuhl nieder.

»Ich muß sagen, Mammy steht jünger aus als Mrs. Crewe, die erst fünfundsechzig ist«, sagte Janet. »Mrs. Crewe wird Sie heute besuchen, Mammy, und Ihnen alle ihre Plagen mit dem Bischof und der Collation erzählen. Sie wird ihre Stickerei mitbringen, und Sie werden ein regelrechtes Plauderstündchen miteinander verbringen.«

»Das Plaudern wird dann alles auf einer Seite sein, denn Mrs. Crewe wird so taub, daß ich ihr kein Wort verständlich machen kann. Und wenn ich ihr zuwinke, versteht sie mich immer falsch.«

»O, sie wird Ihnen heute soviel zu erzählen haben, daß Sie selbst kein Wort zu reden brauchen. Sie, die Sie Geduld haben, diese wundervollen Bettdecken zu steppen, dürfen nicht ungeduldig sein gegen Mrs. Crewe. Die gute alte Dame! Ich kann's nicht ertragen, daß sie denkt, sie wäre den Leuten je lästig, und wie Sie wissen, ist sie sehr bereit, Derartiges zu glauben. Ich glaube, sie würde gerne zu der Größe einer Maus einschrumpfen, damit sie umherlaufen und den Leuten ohne deren Wissen Gutes thun könnte.«

»O, Gott weiß es, es fehlt mir gar nicht an Geduld, sondern an Lungen, um laut genug sprechen zu können. Aber Sie werden wohl diesen Morgen selbst zu Hause sein, und dann können Sie für mich reden.«

»Nein, Mama; ich versprach der lieben Mrs. Lowme, zu ihr zu kommen und sie zu unterhalten. Sie muß das Zimmer hüten, und die beiden Miß Lowme's sind verreist; und so will ich ihr die Zeitung vorlesen und sie aufheitern.«

»Könnten Sie nicht ein anderesmal gehen? Da Mr. Armstrong und jener andere Herr zum Diner kommen, dächte ich, es wäre besser, wenn Sie zu Hause blieben. Können Sie Betty vertrauen, daß sie nach Allem sieht? Sie ist noch nicht eingewöhnt.«

»O, ich darf Mrs. Lowme nicht vergebens warten lassen; ich versprach ihr's. Betty wird ganz gut zurechtkommen, fürchten Sie nichts.«

Daraufhin schwieg Mrs. Dempster und begann ihren Thee zu schlürfen. Das Frühstück wurde einige Zeit ohne weitere Conversation fortgesetzt, da Mr. Dempster ganz von den Zeitungen in Anspruch genommen war. Endlich, als sein Auge die Inserate überflog, schien sein Blick von etwas gefesselt, das ihm einen neuen Gedanken eingab. Gleich darauf schlug er mit frohlockender Miene auf den Tisch und sagte, sich zu Janet wendend:

»Ich habe einen prächtigen Einfall, Zigeunerin!« (das war sein Name für sein dunkeläugiges Weib, wenn er in außerordentlich guter Laune war), »und Du sollst mir helfen. Das ist gerade etwas für Dich.«

»Was giebt's?« sagte Janet, deren Gesicht strahlte beim Hören ihres Kosenamens, den sie jetzt so selten vernahm. »Hat es etwas mit Abtretungsurkunden zu thun?«

»Es ist ein Streich, der ein Dutzend Honorare werth ist – ein Plan, um ein Gelächter zu erregen gegen Tryan und seine Heuchlerbande.«

»Was ist's? Nichts, was Nadel und Faden erfordert, hoff' ich, sonst muß ich gehen und Mama quälen.«

»Nein, nichts Schärferes als Deinen Witz – meinen ausgenommen. Ich will Dir sagen, was es ist. Wir werden ein Programm der sonntägigen Abendbetstunde aufsetzen, wie einen Theaterzettel, weißt Du – ›Große Vorstellung des berühmten Comödianten‹ und so fort. Wir wollen die Tryaniten – den alten Landor und die Andern – in passenden Charakteren einführen. Proctor soll es drucken, und wir werden es in der Stadt circuliren lassen. Das wird ein capitaler Treffer in's Schwarze.«

»Bravo!« sagte Janet, in die Hände klatschend. Sie würde über Alles entzückt gewesen sein in dem Vergnügen darüber, daß ihr Mann sich an sie gewendet hatte, und sie lachte wirklich gern über die Tryaniten. »Wir wollen es sogleich in's Werk setzen und den Plan entwerfen, bevor Du auf's Bureau gehst. Ich habe droben Tryans Predigten, aber ich glaube nicht, daß etwas darin ist, was wir benutzen können. Ich habe sie blos flüchtig angesehen; sie sind durchaus nicht, was ich erwartete – langweilige, alberne Sachen – nichts von der donnernden Feuer- und Schwefel-Gattung, wie ich erwartete.«

»Donnernd? Nein; Tryan ist so sanft wie eine junge Taube – einer unserer honigsüßen Heuchler. Doch es steckt eine Menge Teufelei und Bosheit in ihm, das konnte ich sehen, während er mit dem Bischof redete; aber außen ist er so glatt wie eine Schlange. Er beginnt einen Einzelkampf mit mir, soviel ich sehe – er macht mir meine Clienten abwendig. Wir wollen sehen, wer zuerst peccavi ruft. Milby wird besser ohne Mr. Tryan, als ohne Robert Dempster auskommen, denk' ich! und Milby soll nie mit Scheinheiligkeit überfluthet werden, so lange ich einen Damm dagegen errichten kann. Aber jetzt laß das Frühstücksservice abräumen und uns an den Theaterzettel machen. Komm mit, Mama, wir wollen einen Gang um den Garten machen und sehen, wie die Gurken fortkommen. Ich bin seit einem Menschenalter nicht mehr mit Dir um den Garten spaziert. Komm, Du brauchst keine Haube. Man geht heute im Garten, wie in einem Gewächshaus.«

»Aber sie wird einen Sonnenschirm brauchen«, sagte Janet. »Es ist einer auf dem Ständer an der Gartenthür, Robert.«

Die kleine alte Dame nahm ihres Sohnes Arm mit stillem Vergnügen. Sie konnte ihn blos so weit erreichen, um darauf ruhen zu können, aber er neigte sich ein wenig zu ihr herab und paßte seine schweren Schritte ihrer schwachen Gangart an. Auch der Katze fiel es ein, sich zu sonnen; sie ging dicht neben ihnen her, indem sie ihre glatten Weichen an den Beinen der Spazierenden rieb, zu gut genährt, um durch die zwitschernden Vögel erregt zu werden. Der Garten war von der grasigen, schattigen Gattung, die man oft bei alten Häusern in Provinzstädten trifft: die Aepfelbäume hatten Zeit gehabt, ihre Aeste sehr weit auszubreiten, die Sträucher und kräftigen perennirenden Pflanzen hatten sich zu einer Fülle entwickelt, die fortwährendes Beschneiden erforderte, um ihr Uebergreifen auf den Raum zum Gehen zu verhindern. Aber das entlegenere Ende, das sich an die grünen Felder schloß, war offen und sonnig.

Es war ziemlich traurig und doch hübsch anzusehen, wie die kleine Gruppe aus dem Schatten in den Sonnenschein und aus dem Sonnenschein wieder in den Schatten trat: traurig, weil diese Zärtlichkeit des Sohnes gegen die Mutter kaum mehr war als ein Kern gesunden Lebens in einem durch Krankheit verhärteten Organ, weil der in dieser Weise mit einer unschuldigen Vergangenheit verknüpfte Mann verhärtet worden war in Weltlichkeit, fieberisch durch Sinnlichkeit, geknechtet durch zufällige Antriebe; hübsch, weil sie zeigte, wie schwer es ist, die tief hinabgehenden Faserwurzeln menschlicher Liebe und Güte zu ertödten – wie der Mann, dem auszuweichen unser Stolz gebietet, noch in enger Brüderschaft mit uns steht durch eines unserer heiligsten Gefühle.

Als sie in's Haus zurückkehrten, traf sie Janet und sagte: »Nun, Robert, die Schreibmaterialien liegen bereit. Ich werde den Schreiber machen; Mat Paine kann es nachher in's Reine schreiben.«

Nachdem Mammy wieder in ihrem Lehnstuhl sich niedergelassen und ihr Strickzeug zur Hand genommen hatte und die Katze an ihrem Ellenbogen schnurrte, setzte sich Janet an den Tisch, während Mr. Dempster sich neben sie placirte, seine Schnupftabakdose hervorzog und, nachdem er sich reichlich mit dem geistschärfenden Pulver überstreut hatte, zu diktiren begann.

Was er diktirte, werden wir in kurzem sehen.



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