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Neunzehntes Kapitel.

Die traurige, lange Woche war vorüber. Der Todtenschauer hatte sein Verdikt auf plötzlichen Tod ausgesprochen. Dr. Hart, mit Capitän Wybrows früherem Gesundheitszustand bekannt, hatte seine Meinung dahin abgegeben, daß der Tod an einem langausgebildeten Herzleiden drohend nahe gestanden, wenn er auch wahrscheinlich durch eine ungewöhnliche Erregung beschleunigt worden war. Miß Asher war die einzige Person, die den Beweggrund, der Capitän Wybrow zum Krähennest geführt hatte, sicher kannte; aber sie hatte Caterinas Namen nicht erwähnt, und alle schmerzlichen Details oder Nachfragen wurden geflissentlich von ihr fern gehalten. Mr. Gilfil und Sir Christopher wußten genug, um zu vermuthen, daß die fatale Erregung die Folge einer verabredeten Zusammenkunft mit Caterina war.

Alles Suchen und Fragen nach ihr war fruchtlos gewesen und mußte das um so wahrscheinlicher sein, weil es unter der vorgefaßten Meinung betrieben worden war, daß sie einen Selbstmord begangen habe. Niemand beachtete die Abwesenheit der Kleinigkeiten, die sie aus ihrem Schreibtisch genommen; Niemand wußte von dem Bildniß und daß sie ihre Siebenschillingstücke zusammengespart hatte, und es war nicht merkwürdig, daß sie zufällig die Perlenohrringe getragen haben sollte. Sie hatte das Haus verlassen, sagte man, ohne etwas mit sich zu nehmen; es schien unmöglich, daß sie weit gegangen; und sie mußte in einem Zustand seelischer Erregung gewesen sein, der es nur zu wahrscheinlich machte, daß sie nur gegangen, um Erleichterung im Tode zu suchen. Dieselben Orte innerhalb drei oder vier Meilen vom Manor wurden wieder und wieder durchforscht, jeder Teich, jeder Kanal in der Nachbarschaft untersucht.

Manchmal dachte Maynard, der Tod möchte ungesucht gekommen sein, vor Kälte oder Erschöpfung; und nicht ein Tag verging, an dem er nicht durch die benachbarten Wälder gewandert wäre und die Haufen dürren Laubes durchstöbert hätte, als ob es möglich wäre, daß ihr theurer Leichnam dort verborgen sei. Dann kam ein anderer schrecklicher Gedanke, und täglich, bevor die Nacht anbrach, war er wieder durch alle unbewohnten Räume des Hauses gewandert, um sich nochmals zu überzeugen, daß sie nicht in irgend einem Cabinet oder hinter einer Thür oder einem Vorhang versteckt war – daß er sie dort nicht fände, Wahnsinn im Auge, auf ihn schauend und wieder schauend und ihn doch nicht sehend.

Aber endlich waren jene fünf langen Tage und Nächte zu Ende, das Begräbniß war vorüber, und die Wagen kehrten durch den Park zurück. Als sie wegfuhren, fiel ein schwerer Regen; aber jetzt zertheilten sich die Wolken, und ein Strahl von Sonnenschein glänzte zwischen den triefenden Aesten, unter denen sie dahinfuhren. Dieser Strahl fiel auf einen Mann zu Pferde, der langsam dahin trabte und den Mr. Gilfil, trotz verminderter Rundung, als den Kutscher Daniel Knott erkannte, der vor zehn Jahren die rosenwangige Dorcas geheirathet hatte.

Jeder neue Vorfall brachte Mr. Gilfil auf denselben Gedanken; und sein Auge war kaum auf Knott gefallen, als er bei sich sagte: »Kann er wohl kommen, um uns etwas über Caterina zu sagen?« Dann erinnerte er sich, daß Caterina Dorcas sehr geliebt hatte und daß sie immer ein Geschenk für sie bereit hatte, um es ihr zu senden, wenn Knott gelegentlich dem Manor einen Besuch abstattete. Konnte Caterina zu Dorcas gegangen sein? Aber das Herz sank ihm wieder, als er dachte, Knott wäre sehr wahrscheinlich nur gekommen, weil er von Capitän Wybrows Tode gehört hatte und wissen wollte, wie sein alter Herr diesen Schlag ertrüge.

Sobald der Wagen das Haus erreichte, schritt er hinauf in sein Studirzimmer und ging unruhig auf und ab, sich sehnend aber fürchtend, hinunterzugehen, damit nicht seine schwache Hoffnung vereitelt würde. Jeder, der in dieses Gesicht blickte, das gewöhnlich so voll ruhigen Wohlwollens, mußte sehen, daß das Leiden der letzten Woche tiefe Züge darin zurückgelassen hatte. Bei Tage war er unaufhörlich umhergeritten oder gewandert, entweder selbst nach Caterina suchend, oder die Nachforschungen Anderer nach ihr leitend. Bei Nacht hatte er keinen Schlaf gekannt – nur unterbrochenes Schlummern, in welchem er Caterina todt zu finden schien; er erwachte aus dieser unwirklichen Todespein zu dem wirklichen Schmerz des Glaubens, daß er sie nie mehr sehen würde. Die klaren grauen Augen sahen eingesunken und ruhelos aus, die vollen sorglosen Lippen zeigten eine ihnen fremde Spannung, und die Stirn, sonst so glatt und offen, war wie vom Schmerz zusammengezogen. Er hatte nicht den Gegenstand einer Leidenschaft von einigen Monaten verloren; er hatte das Wesen verloren, mit dem seine Fähigkeit zum Lieben untrennbar verknüpft war, wie der Bach, an dem wir spielten, oder die Blumen, die wir sammelten in unserer Kindheit, mit unserem Schönheitssinn verknüpft sind. Lieben bedeutete für ihn nichts als Caterina lieben. Jahrelang war der Gedanke an sie in Allem gegenwärtig gewesen, wie die Luft und das Licht; und jetzt, da sie fort war, schien es, als ob alle Freude ihre Trägerin verloren hätte: der Himmel, die Erde, der tägliche Ritt, das tägliche Geplauder mochten dasein, aber die Lieblichkeit und Freude, die ihnen innewohnte, waren für immer dahin.

Bald darauf, während er noch immer auf- und abging, hörte er Schritte auf dem Corridor und dann ein Klopfen an der Thür. Seine Stimme zitterte, als er sagte »Herein!« und der Ansturm erneuter Hoffnung war kaum von Schmerz zu unterscheiden, als er Warren mit Daniel Knott hinter ihm eintreten sah.

»Knott ist da, Sir, mit Neuigkeiten von Miß Sarti. Ich hielt es für's Beste, ihn zuerst zu Ihnen zu bringen.«

Mr. Gilfil konnte nicht umhin, auf den alten Kutscher zuzugehen und ihm die Hand zu drücken; aber er war unfähig zum Sprechen und winkte ihm nur zu, Platz zu nehmen, während Warren das Zimmer verließ. Er hing an Daniels Vollmondsgesicht und lauschte seiner schwachen quiekenden Stimme mit derselben feierlichen, sehnsuchtsvollen Erwartung, mit der er dem ehrfurchtgebietendsten Boten aus dem Lande der Schatten sein Ohr geliehen hätte.

»Dorcas, Sir, schickte mich her; aber wir wußten nichts von dem, was auf dem Manor vorgefallen war. Sie ist außer sich vor Schreck über Miß Sarti und verlangte diesen Morgen, daß ich die ›Amsel‹ satteln und das Ackern sein lassen sollte, um herzureiten und Sir Christopher und Mylady es wissen zu lassen. Vielleicht haben Sie es gehört, Sir, wir halten die ›Gekreuzten Schlüssel‹ in Sloppeter nicht mehr; ein Onkel von mir starb vor drei Jahren und hinterließ mir eine Erbschaft. Er war Gutsverwalter bei Squire Ramble, der die großen Farmen beisammen hat; und so nahmen wir eine kleine Farm von vierzig Acker oder so 'was, weil Dorcas die Wirthschaft nimmer gefiel, als sie mehr Kinder bekam. Ein so hübsches Plätzchen, als Sie nur je eins gesehen, mit Wasser hinterm Haus, bequem für's Vieh.

»Um Gotteswillen«, sagte Maynard, »sagen Sie mir, was mit Miß Sarti ist. Halten Sie sich nicht bei etwas Anderem auf.«

»Nun, Sir«, sagte Knott, ziemlich erschrocken über des Pfarrers Heftigkeit, »sie kam an unser Haus im Botenwagen, am Mittwoch, als es schon über 9 Uhr Nachts war; und Dorcas lief hinaus, denn sie hörte den Wagen halten, und Miß Sarti warf ihre Arme um Dorcas' Hals und sagt: ›Nimm mich auf, Dorcas, nimm mich auf‹, und weg war sie in einer Ohnmacht. Und Dorcas ruft mir – ›Daniel‹, ruft sie – und ich laufe hinaus und trage die junge Miß hinein, und sie kommt zu sich nach einer Weile, und macht die Augen auf, und Dorcas gibt ihr einen Löffel voll Rum und Wasser zu trinken – wir haben einen capitalen Rum, den wir von den ›Gekreuzten Schüsseln‹ mitbrachten, und Dorcas will ihn Niemand trinken lassen. Sie sagt, sie hebt ihn auf für Krankheiten; ich aber meine, es ist schade, guten Rum zu trinken, wenn man keinen Geschmack im Munde hat; Arznei wäre grade so gut. Indeß, Dorcas brachte sie zu Bett, und da liegt sie seitdem wie betäubt und redet nichts und nimmt nur ein kleines Bischen Suppe, wenn Dorcas ihr schmeichelt. Und wir sind erschrocken und konnten uns nicht denken, warum sie vom Manor fort ist, und Dorcas fürchtete, es wäre etwas nicht in Ordnung. Und diesen Morgen konnte sie's nicht länger aushalten und that's nicht anders, ich mußte herreiten und nachfragen, und so bin ich zwanzig Meilen auf der ›Amsel‹ geritten, die alleweile meint, sie ist beim Ackern und alle dreißig Schritt umwendet, als wäre sie am Ende einer Furche. Ich habe ein schweres Kreuz mit ihr gehabt, Sir, das kann ich Ihnen sagen.«

»Gott segne Sie, Knott, weil Sie gekommen sind!« sagte Mr. Gilfil, dem alten Kutscher wieder die Hand drückend. »Gehen Sie jetzt hinunter, lassen Sie sich etwas zu essen geben, und ruhen Sie aus. Sie werden über Nacht hier bleiben, und ich werde bald zu Ihnen kommen, damit sie mir den nächsten Weg nach Ihrem Hause sagen. Ich werde mich fertig machen, um sogleich dorthin zu reiten, wenn ich mit Sir Christopher gesprochen habe.«

Eine Stunde später galoppirte Mr. Gilfil auf einer kräftigen Stute auf das kleine schmutzige Dörfchen Callam, fünf Meilen hinter Sloppeter, zu. Wieder einmal sah er etwas Fröhlichkeit im Nachmittagssonnenlicht; wieder einmal war es ein Vergnügen, die Alleebäume hinter sich verschwinden zu sehen und sich eines »guten Sitzes« bewußt zu sein, während seine schwarze »Kitty« unter ihm sich bäumte und der Wind zum Rythmus ihrer Gangart pfiff. Caterina war nicht todt, er hatte sie gefunden; seine Liebe und Zärtlichkeit und seine Geduld schienen so stark, sie mußten sie zum Leben und Glück zurückrufen. Nach jener verzweiflungsvollen Woche war der Umschlag so heftig, daß er seine Hoffnungen sogleich bis zu der höchsten Marke emportrieb, die sie je erreicht hatten. Caterina würde endlich dazu kommen, ihn zu lieben; sie würde die Seine werden. Sie hatten jenen langen, düstern und beschwerlichen Pfad durchwandern müssen, damit sie die Tiefe seiner Liebe ergründen könnte. Wie wollte er sie hegen und pflegen – sein Vögelchen mit dem schüchternen klaren Auge und der süßen Kehle, die erzitterte von Liebe und Musik! Sie würde bei ihm nisten, und die arme kleine Brust, die so aufgeregt und wundgeschlagen worden, sollte geborgen sein für immer. In der Liebe eines braven und treuen Mannes liegt immer ein Zug mütterlicher Zärtlichkeit: er wirft jene Strahlen schützender Liebe wieder zurück, die auf ihn ausgegossen worden, als er an seiner Mutter Brust lag. – Zur Zeit der Dämmerung erreichte er das Dorf Callam und erfuhr, als er einen auf dem Heimweg begriffenen Feldarbeiter nach dem Weg zu Daniel Knott's Behausung fragte, daß sie bei der Kirche war, die ihren stumpfen, epheuumrankten Glockenthurm auf einer leichten Bodenerhöhung zeigte; eine nützliche Beifügung zu den Erkennungszeichen jenes angenehmen Heimwesens, die Daniel Knotts Beschreibung – »das hübscheste Plätzchen, das Sie je sahen« – geliefert hatte, wenn auch eine kleine Einfriedigung für das Vieh voll ausgezeichneten Düngers, die gerade auf die Thür zuführte, ohne irgend eine nutzlose Unterbrechung von Garten oder Zaun, vielleicht genügte, um jene Beschreibung unfehlbar genau zu machen.

Mr. Gilfil hatte kaum das Thor erreicht, das in den Viehhof führte, als er von einem flachshaarigen, neunjährigen Burschen erspäht wurde, der vorzeitig mit der toga virilis oder dem Staubhemd bekleidet worden war und vorwärts rannte, um den ungewöhnlichen Besucher einzulassen.

Im Nu war Dorcas an der Thür, die Rosen auf ihren Wangen anscheinend noch röther wegen der drei Paar Wangen, die eine Gruppe um sie bildeten, und des sehr dicken Wickelkindes, das in ihren Armen lag und an einer langen Brodkruste mit ruhigem Behagen nagte.

»Sind Sie Mr. Gilfil, Sir?« sagte Dorcas tief knixend, als er sich seinen Weg bahnte durch das dämpfige Stroh, nachdem er sein Pferd angebunden.

»Ja, Dorcas; ich bin Ihnen aus dem Gedächtniß gewachsen. Wie geht's Miß Sarti?«

»Ach, da steht's gerade noch so, wie Ihnen Daniel gesagt haben wird; denn ich vermuthe, daß Sie vom Manor gekommen, wenn auch gewiß sehr rasch.«

»Ja, er kam etwa um ein Uhr auf's Manor, und ich brach auf, sobald ich konnte. Sie ist nicht schlimmer, nicht wahr?«

»Keine Änderung, Sir, zum Bessern oder Schlimmern. Wollen Sie gefälligst hereinkommen, Sir? Sie liegt und achtet auf die Dinge um sich nicht mehr als ein Kind von acht Tagen und sieht mich so leer an, als kenne sie mich nicht. O, was kann es sein, Mr. Gilfil? Wie kam sie dazu, das Manor zu verlassen? Wie geht's Seiner Ehren und Mylady?«

»Sie sind sehr bekümmert. Capitän Wybrow, Sir Christophers Neffe, ist, wie Sie wissen, plötzlich gestorben. Miß Sarti fand ihn todt liegen, und ich glaube, der Schreck hat ihren Verstand angegriffen.«

»Du lieber Gott, der schöne junge Herr, der zukünftige Erbe, wie mir Daniel sagte. Ich erinnere mich, daß ich ihn sah, als er noch klein und auf dem Manor zum Besuch war. Du liebe Zeit, was für ein Schmerz für seine Ehren und Mylady. Aber die arme Miß Tina – und sie fand ihn todt daliegen? O Gott, o Gott!«

Dorcas war vorausgegangen in die gute Stube, ein so reizendes Zimmer als die guten Stuben gewöhnlich waren in Farmhäusern, die kein Besuchszimmer hatten – das Feuer spiegelte sich in einer Reihe zinnerner Teller und Schüsseln; die mit Sand gescheuerten tannenen Tische so reinlich, daß man sie hätte streicheln mögen; das Salzfaß in einer Kaminecke und ein dreibeiniger Stuhl in der andern; die Mauern dahinter hübsch mit Speckseiten tapeziert und die Decke mit herabhängenden Schinken geschmückt.

»Setzen Sie sich doch nieder, Sir«, sagte Dorcas, den dreibeinigen Stuhl herbeiziehend, und lassen Sie mich Ihnen etwas bringen nach Ihrem weiten Ritt. Hier, Becky, Rebecca. komm und nimm das Kleine.«

Becky, ein rothhaariges Mädchen, tauchte aus dem anstoßenden Nebenzimmer auf und setzte sich in Besitz des Kleinen, das zu gefühllos und dick sehr gleichgiltig gegen diese Übertragung war.

»Was möchten Sie denn, Sir, das ich Ihnen geben könnte? Ich werde Ihnen gleich eine Schnitte Schinken bringen und dann habe ich noch etwas Thee, oder nehmen Sie ein Glas Rum mit Wasser. Ich weiß, wir haben nichts zu essen und zu trinken, wie Sie's gewohnt sind; aber was ich habe, werde ich mit Freuden geben.«

»Ich danke Ihnen, Dorcas; ich kann nichts essen oder trinken. Ich bin weder hungrig noch müde. Lassen Sie uns von Tina sprechen. Hat sie überhaupt etwas gesprochen?«

»Gar nichts seit den ersten Worten. ›Liebe Dorcas‹, sagt sie, ›nimm mich auf‹: und dann fiel sie in Ohnmacht, und nicht ein Wort hat sie seitdem gesagt. Ich gebe ihr manchmal ein wenig Suppe oder so was, aber sie achtet auf nichts. Ich habe Bessie hie und da mit mir genommen,« – hier hob Dorcas ein lockenköpfiges kleines Mädchen von drei Jahren, das einen Zipfel von ihrer Mutter Schürze zusammendrehte und ihre runden Augen zu dem Herrn erhob, auf den Schoß – »die Leute merken manchmal auf Kinder, wenn sie auf nichts sonst achten. Und wir sammelten die Herbstcrocusblüten draußen im Obstgarten, und Bessie trug sie hinauf und legte sie auf's Bett. Ich wußte, wie gern Miß Tina die Blumen hatte, als sie noch klein war. Aber sie schaute auf Bessie und die Blumen, gerade als ob sie nichts davon sähe. Es schnitt mir ins Herz, in ihre Augen zu schauen: ich glaube, sie sind größer wie je und sehen gerade aus wie die von meinem verstorbenen Baby, als es so mager wurde – du lieber Gott, seine kleinen Hände, Sie hätten durchsehen können. Aber ich habe jetzt große Hoffnung, sie kommt vielleicht wieder zu Verstande, wenn sie Sie sehen wird, da Sie vom Manor kommen.«

Maynard hoffte dasselbe, aber er fühlte kalte Nebel der Furcht um ihn sich sammeln nach den wenigen glänzenden, hellen, warmen Stunden freudiger Zuversicht, die verflossen waren, seit er gehört, daß Caterina noch lebe. Immer wieder drängte sich ihm der Gedanke auf, daß ihre Seele und ihr Leib vielleicht nie wieder die Spannkraft erlangen würden, die ihnen eigen waren – daß ihr zarter Lebensfaden sich nahezu schon abgesponnen habe.

»Gehen Sie jetzt, Dorcas, und sehen Sie, was sie macht, sagen Sie aber nichts von meinem Hiersein. Vielleicht wäre es besser, wenn ich wartete bis zum Tagesanbruch, bevor ich zu ihr gehe, und doch würde es sehr hart sein, noch eine Nacht auf diese Weise zuzubringen.«

Dorcas setzte die kleine Bessie nieder und ging weg. Die drei andern Kindern, einschließlich Jung Daniel in seinem Staubhemd, standen Mr. Gilfil gegenüber und beobachteten ihn jetzt, ohne der Mutter schützende Gegenwart, noch schüchterner. Mr. Gilfil zog die kleine Bessie an sich und setzte sie auf sein Knie. Sie schüttelte sich die gelben Locken aus dem Gesicht und sah zu ihm auf, während sie sagte:

»Sie kommen zu der Lady? Mit ihr sprechen? Was Sie thun ihr? Küssen?«

»Läßt Du Dich gerne küssen, Bessie?«

»Nein«, sagte Bessie, indem sie ihren Kopf, im Widerstand gegen die erwartete Liebkosung, sehr tief niederduckte.

»Wir haben zwei junge Hunde bekommen«, sagte Jung Daniel, der durch die Beobachtung der Freundlichkeit Mr. Gilfils gegen Bessie kühner wurde. »Soll ich Sie Ihnen zeigen? Einer hat weiße Flecken.«

»Ja, laß sie sehen.«

Daniel rannte hinaus und erschien gleich darauf wieder mit zwei blinden jungen Hunden, eifrig gefolgt von der zwar bastardartigen, doch zärtlichen Mutter, und eine aufregende Scene begann sich zu entwickeln, als Dorcas zurückkam und sagte:

»Es ist kaum ein Unterschied an ihr zu merken. Ich denke, Sie brauchen nicht warten. Sie liegt ganz still, wie immer. Ich habe zwei brennende Kerzen ins Zimmer gestellt, damit sie gut sehen kann. Sie wollen das Zimmer freundlichst entschuldigen, Sir, und die Haube, die sie auf hat; es ist eine von mir.«

Mr. Gilfil nickte schweigend und stand auf, ihr die Stiege hinauf zu folgen. Sie gingen zur ersten Thüre hinein, wobei ihre Schritte auf dem gepflasterten Fußboden ein wenig Geräusch verursachten. Die rothkarrirten leinenen Bettvorhänge waren an die Kopfseite des Bettes gezogen, und Dorcas hatte die Kerzen auf diese Seite des Zimmers gestellt, so daß das Licht nicht grell auf Caterinas Auge falle. Als Dorcas die Thüre geöffnet hatte, wisperte sie: »Ich glaube, es ist besser, ich lasse Sie allein, nicht wahr, Sir?«

Mr. Gilfil winkte zustimmend und schritt auf's Bett zu. Caterinas Augen waren nach der andern Seite gerichtet, und sie schien nicht zu bemerken, daß Jemand eingetreten war. Ihre Augen sahen – wie Dorcas gesagt hatte – größer als je aus, vielleicht weil ihr Gesicht magerer und blasser und ihr Haar ganz unter einer der dicken Hauben Dorcas' versteckt war. Auch die kleinen Hände, die nachlässig auf dem Bette lagen, waren dünner wie sonst. Sie sah jünger aus als sie wirklich war, und Jeder, der das schmale Gesicht und die winzigen Hände zum erstenmale sah, hätte denken können, sie gehörten einem kleinen, zwölfjährigen Mädchen an, das künftigem statt vergangenem Leid entzogen würde.

Als Gilfil vorwärts schritt und ihr gegenüber stehen blieb, fiel das Licht voll auf sein Gesicht. Ein leichter Ausdruck von Ueberraschung zeigte sich in Caterinas Augen: sie blickte ihn einige Augenblicke ernsthaft an, erhob dann die Hand, als wolle sie ihm winken, sich zu ihr herabzubeugen, und flüsterte: »Maynard!«

Er setzte sich auf's Bett und beugte sich nieder zu ihr. Sie flüsterte wieder: »Maynard, haben Sie den Dolch gesehen?«

Er folgte dem ersten Impuls, indem er ihr antwortete, und das war weise.

»Ja«, flüsterte er, »ich fand ihn in Ihrer Tasche und brachte ihn wieder an seinen Ort im Cabinet.«

Er nahm ihre Hand in die seine und hielt sie sanft und fest, indem er erwartete, was sie weiter sagen würde. Sein Herz schwoll so von Dankbarkeit, daß sie ihn erkannt hatte, daß er kaum ein Schluchzen unterdrücken konnte. Nach und nach wurden ihre Augen sanfter und weniger starr im Blicke. Die Thränen stiegen langsam in ihr auf, und bald darauf rollten einige große, heiße Tropfen über ihre Wange herab. Dann waren die Schleusen geöffnet, und der herzerleichternde Strom sprudelte hervor; tiefes Schluchzen folgte, und nahezu eine Stunde lag sie da, ohne zu sprechen, während der schwere, eisige Druck, der ihr Unglück an der Äußerung gehindert hatte, so dahinschmolz. Wie kostbar waren diese Thränen für Maynard, der Tag auf Tag geschaudert hatte vor dem unaufhörlich wiederkehrenden Bilde Tinas mit dem trockenen, glühenden Starrblick des Wahnsinns!

Nach und nach hörte das Schluchzen auf, sie begann ruhig zu athmen und lag mit geschlossenen Augen da. Geduldig blieb Maynard sitzen, ohne zu achten auf die Flucht der Stunden oder auf die alte Uhr, die laut auf einem Gesims tickte. Aber als es nahezu zehn Uhr war, konnte Dorcas – in ängstlicher Ungeduld, das Resultat von Mr. Gilfils Kommen zu erfahren – sich nicht enthalten, auf den Zehenspitzen hereinzuschleichen. Ohne sich zu regen, flüsterte er ihr zu, ihn mit Kerzen zu versorgen, nachzusehen, ob der Stalljunge seinem Pferde Streu gemacht habe, und zu Bette zu gehen – er wolle bei Caterina wachen – eine große Veränderung sei mit ihr vorgegangen.

Bald darauf begannen Tinas Lippen sich zu regen. »Maynard«, flüsterte sie wieder. Er beugte sich zu ihr, und sie fuhr fort:

»Sie wissen also, wie schlecht ich bin? Sie wissen, was ich mit dem Dolche thun wollte?«

»Wollten Sie sich tödten, Tina?«

Sie schüttelte langsam den Kopf und schwieg dann eine Weile. Endlich flüsterte sie, ihn mit feierlichem Ernst anblickend: »Nein, ihn.«

»Tina, meine Geliebte, Sie würden es nie gethan haben. Gott sah Ihr ganzes Herz; Er weiß, Sie würden nie einem lebenden Wesen Schaden zufügen. Er wacht über seine Kinder und wird sie nicht Dinge thun lassen, die nicht zu thun sie aus tiefstem Herzen flehen würden. Es war der zornige Gedanke eines Augenblicks, und Er vergibt Ihnen.«

Sie versank wieder in Schweigen, bis es nahezu Mitternacht war. Der müde, geschwächte Geist schien langsam und mit Schwierigkeit sich seinen Weg zu bahnen durch die Windungen der Gedanken; und als sie wieder zu flüstern begann, war es in Erwidrung auf Maynards Worte.

»Aber ich hegte so schlechte Gefühle, lange Zeit. Ich war so zornig und haßte Miß Asher so und kümmerte mich nicht darum, was Anderen zustieß, weil ich selbst so elend war. Ich war voll schlimmer Leidenschaften. Gar Niemand war je so schlecht.«

»Ja, Tina, Viele sind gerade so schlecht. Ich habe oft sehr sündhafte Gefühle und bin versucht, Unrechtes zu thun; aber dann ist mein Körper stärker als der Ihre, und ich kann meine Gefühle besser verbergen und ihnen besser widerstehen. Sie meistern mich nicht so. Sie haben die kleinen Vögel gesehen, wenn sie noch ganz jung sind und eben flügge werden, wie alle ihre Federn sich sträuben, wenn sie erschrocken oder zornig sind; sie haben keine Kraft mehr über sich und können in eine Grube fallen aus bloßer Schwäche. Sie waren wie eines jener Vögelchen. Ihr Kummer und Ihre Leiden hatten Sie so ergriffen, daß Sie kaum wußten, was Sie thaten.«

Er wollte nicht lange sprechen; damit er sie nicht ermüde und mit zu viel Gedanken überhäufe. Lange Pausen schienen für sie nöthig, um ihre Gedanken kurz in Worte fassen zu können.

»Aber wenn ich beabsichtigte, es zu thun«, war das Nächste, was sie flüsterte, »war es so schlimm, als wenn ich es gethan hätte.«

»Nein, meine Tina«, antwortete Maynard langsam, nach jedem Satz ein wenig innehaltend; »wir gedenken oft Böses zu thun, was wir nie thun könnten, ebenso wie wir oft Gutes und Kluges zu thun gedenken, was wir nie thun könnten. Unsere Gedanken sind oft schlimmer als wir, gerade wie sie oft besser als wir sind. Und Gott sieht uns, wie wir im ganzen sind, nicht in einzelnen Gefühlen oder Handlungen, wie unsere Mitmenschen uns sehen. Wir thun einander stets Unrecht und denken von einander besser oder schlechter, als wir es verdienen, weil wir nur vereinzelte Worte und Handlungen hören und sehen. Wir sehen nicht Einer des Andern ganze Natur. Aber Gott sieht, daß Sie jenes Verbrechen nicht hätten begehen können.«

Caterina schüttelte langsam den Kopf und schwieg. Nach einer Weile sagte sie:

»Ich weiß nicht«, sagte sie; »es kam mir vor, als sähe ich ihn auf mich zukommen, gerade so wie er wirklich ausgesehen hätte, und ich gedachte – ich gedachte es zu thun.«

»Aber als Sie ihn sahen sagen Sie mir, wie es war, Tina?«

»Ich sah ihn auf dem Boden liegen und dachte, er wäre krank. Ich weiß nicht, was dann geschah: ich habe Alles vergessen. Ich kniete nieder und redete ihn an, und – und er bemerkte mich nicht, und seine Augen waren starr, und ich begann zu denken, er sei todt.«

»Und Sie fühlten keinen Zorn mehr seitdem?«

»O nein, nein; ich war schlechter als irgend Jemand; ich hatte Unrecht die ganze Zeit hindurch.«

»Nein, meine Tina; die Schuld lag nicht ganz auf Ihrer Seite; auch er hatte Unrecht; er hat Sie gereizt. Und Unrecht zeugt Unrecht. Wenn die Menschen uns schlecht behandeln, können wir nicht andere als schlechte Gefühle gegen sie hegen. Aber dieses zweite Unrecht ist entschuldbarer. Ich bin sündhafter als Sie, Tina; und wenn er mich gereizt hätte wie Sie, würde ich vielleicht etwas viel Schlechteres gethan haben.«

»O, es war nicht so sehr unrecht von ihm; er wußte nicht, wie er mich kränkte. Wie konnte er mich auch so lieben, wie ich ihn liebte? Und wie konnte er ein armes kleines Ding wie mich heirathen?«

Maynard gab hierauf keine Antwort, und es war wieder still, bis Tina sagte:

»Und doch war ich so heuchlerisch; man wußte es nicht, wie schlecht ich war. Padroncello wußte es nicht; sein gutes Äffchen pflegte er mich zu nennen; und wenn er gewußt hätte, o, für wie nichtsnutzig würde er mich gehalten haben!«

»Meine Tina, wir haben alle unsere geheimen Sünden; und wenn wir uns selbst kennten, würden wir Andere nicht hart beurtheilen. Sir Christopher selbst hat gefühlt, seit dies Leid über ihn kam, daß er zu streng und hartnäckig gewesen.«

Auf diese Weise – unter diesen stückweisen Bekenntnissen und erwiedernden Trostesworten – verstrichen die Stunden von der tiefschwarzen Nacht bis zum kühlen Morgendämmerlicht, und vom Morgendämmerlicht bis zum ersten Strahl der Morgensonne, der die purpurnen Wolken theilte. Mr. Gilfil war es, als ob in den langen Stunden dieser Nacht das Band, welches seine Liebe für immer und ausschließlich an Caterina fesselte, neue Kraft und Weihe empfangen habe. So ist es mit den menschlichen Beziehungen, die auf der tiefen Gefühlsübereinstimmung der Liebe beruhen: jeder neue Tag der Freude oder des Leides ist ein neuer Grund, eine neue Weihe für die Liebe, die sich sowohl von Erinnerungen als von Hoffnungen nährt – die Liebe, für welche immerwährende Wiederholung nicht Ueberdruß, sondern Bedürfniß, und eine getheilte Freude der Anfang des Schmerzes ist.

Die Hähne begannen zu krähen; das Hausthor wurde geöffnet; man hörte derbe Fußtritte im Hofe, und Mr. Gilfil hörte Dorcas im Hause herumgehen. Diese Töne schienen auf Caterina einzuwirken, denn sie sah ihn ängstlich an und sagte: »Maynard, wollen Sie fort gehen?«

»Nein, ich werde hier in Callam bleiben, bis Sie wohler sind, und dann werden Sie auch mitgehen.«

»Nie wieder auf's Manor, o nein! Ich werde bescheiden leben und selbst mein Brod verdienen.«

»Ganz wohl, Liebste, Sie sollen thun, was Ihnen am besten gefällt. Aber ich wünschte, Sie könnten jetzt einschlafen. Versuchen Sie es, ruhig zu liegen, und nach und nach werden Sie vielleicht ein wenig außer dem Bett sitzen können. Gott hat Sie am Leben erhalten trotz all' diesem Leid; es wäre sündig, nicht zu versuchen, den besten Gebrauch von seiner Gabe zu machen. Theure Tina, Sie werden es versuchen; – und die kleine Bessie brachte Ihnen einmal Crocusblumen; Sie beachteten das arme kleine Ding nicht; aber Sie werden sie beachten, wenn sie wieder kommt, nicht wahr?«

»Ich will's versuchen«, sagte Tina demüthig und schloß dann die Augen.

Bis die Sonne über den Horizont emporstieg, die Wolken zerstreute und mit angenehmer Morgenwärme durch das kleine, bleigefaßte Fenster schien, lag Caterina im Schlaf. Maynard ließ sanft die winzige Hand los, erfreute Dorcas mit der guten Nachricht und machte sich auf den Weg nach dem Dorfwirthshaus, dankbaren Herzens, daß Tina wieder soweit sie selbst geworden war. Augenscheinlich hatte sich sein Anblick in natürlicher Weise mit den Erinnerungen verknüpft, in welchen ihr Geist vollkommen befangen war, und sie zu einer Entlastung ihres Ich geführt, die vielleicht der Anfang einer vollkommenen Wiederherstellung war. Aber ihr Körper war so geschwächt – ihre Seele so wundgeschlagen – daß die äußerste Zärtlichkeit und Sorgfalt nöthig sein würde. Das Nächste, was zu thun, war Sir Christopher und Lady Cheverel Nachricht zu senden; dann seiner Schwester, deren Sorgfalt Caterina zu übergeben er entschlossen war, zu schreiben und sie herzurufen. Das Manor, selbst wenn sie gewünscht hätte, dahin zurückzukehren, würde für jetzt, das wußte er, die unerwünschteste Heimstätte für Caterina gewesen sein: jeder Ort, jeder Gegenstand dort war verknüpft mit noch ungestilltem Schmerz. Wenn sie eine Zeit lang bei seiner milden sanften Schwester wohnen würde, die ein friedliches Heim und einen schwatzhaften kleinen Knaben hatte, würde Tina vielleicht von neuem an's Leben gefesselt werden und sich, zum Theil wenigstens, von dem Schlage erholen, den sie erlitten. Als er seine Briefe geschrieben und eiligst gefrühstückt hatte, war er bald im Sattel, auf dem Wege nach Sloppeter, wo er die Briefe aufgeben und einen Arzt aufsuchen wollte, dem er die inneren Ursachen des geschwächten Zustandes Caterinas anvertrauen durfte.



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