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Zwanzigstes Kapitel.

Etwa eine Woche darauf hatte man Caterina zur Abreise überredet, in einem bequemen Wagen, unter der Sorgfalt Mr. Gilfils und seiner Schwester, Mrs. Heron, deren sanfte blaue Augen und mildes Benehmen sehr besänftigend auf das arme Kind wirkten – um so mehr, als sich damit ein Zug von Geschwisterlichkeit verband, der ihr ganz neu war. Unter Lady Cheverels autoritativem, der Liebkosungen baren Wohlwollen hatte Tina stets eine gewisse Zurückhaltung und Scheu bewahrt; und es lag eine vorher ungekannte Süßigkeit darin, eine junge und sanftfreundliche Frau, einer ältern Schwester gleich, um sich haben, die sich liebkosend über sie beugte und in leisen, liebevollen Tönen mit ihr sprach.

Maynard war fast zornig über sich selbst, weil er sich glücklich fühlte, während Tinas Seele und Leib noch immer am Rande unaufhaltsamen Verfalls zitterten; aber der neue Hochgenuß, als ihr Schutzengel zu walten, jede Stunde des Tages bei ihr zu sein, alles zu ihrer Behaglichkeit zu ersinnen, auf einen Strahl wiederkehrenden Interesses in ihren Augen zu warten, war zu absorbirend, um Raum für Unruhe oder Bedauern zu lassen.

Am dritten Tag hielt der Wagen an der Thüre des Pfarrhauses zu Foxholm, wo der Rev. Arthur Heron sich auf der Thürstaffel zeigte, begierig, seine zurückkehrende Lucy zu begrüßen und an der Hand einen breitschulterigen, fünfjährigen Knaben mit braunem Haare haltend, der mit großer Kraft eine Miniaturjagdpeitsche handhabte.

Nirgends gab es eine glatter rasirte Rasenfläche, besser in Stand gehaltene Fußwege oder eine hübscher mit Schlingpflanzen bekränzte Vorhalle als im Pfarrhaus zu Foxholm, das behaglich geschützt von Buchen und Kastanien mitten an dem hübschen grünen Hügel steht, der von der Kirche überragt wird und auf ein Dorf herabsieht, das malerisch zwischen Wiesen und Matten zerstreut liegt, umgeben von wilden Hecken und breiten, beschattenden Bäumen, bis jetzt noch unbedroht von verbesserten Ackerbaumethoden.

Hell glänzte das Feuer im großen Besuchszimmer und hell in dem kleinen, nelkenfarbig tapezierten Schlafzimmer, das für Caterina bestimmt war, weil es nicht auf den Kirchhof blickte, sondern auf ein Farmhaus mit einer Reihe von Bienenstöcken, ruhig lagernden Rindviehgruppen und den muntern Tönen gesunder Arbeit. Mrs. Heron hatte – mit dem Instinkt einer für Eindrücke empfänglichen Frau – ihrem Gatten geschrieben, dieses Zimmer für Caterina herrichten zu lassen. Zufriedene buntgesprenkelte Hennen, die emsig nach dem selten gefundenen Korn kratzen, können manchmal mehr für ein krankes Herz thun, als ein Hain voll Nachtigallen; es liegt etwas unwiderstehlich Beruhigendes in der unsentimentalen Munterkeit gehäubter Hühnchen, nicht verhätschelter Schäferhunde und geduldiger Karrengäule, die an einem Trunk trüben Wassers sich laben.

Es war nicht unvernünftig von Mr. Gilfil, zu hoffen, daß Caterina in einem solchen Heim wie dieses (einem Nest der Behaglichkeit, ohne etwas von der Stattlichkeit, die an Cheverel Manor erinnert hätte) nach und nach das spukhafte Traumbild der Vergangenheit abschütteln und sich von der Schlaffheit und Schwäche erholen würde, die das physische Anzeichen der verderblichen Gegenwart jenes Traumbildes war. Das Nächste, was zu thun, war, einen Diensttausch mit Mr. Herons Vicar zu bewirken, damit Maynard beständig in Caterinas Nähe sein und über ihre fortschreitende Besserung wachen konnte. Sie schien ihn gern bei sich zu sehen, ungeduldig auf seine Rückkehr zu harren; und wenn sie auch selten mit ihm sprach, war sie doch am zufriedensten, wenn er bei ihr saß und ihr winziges Händchen in seiner großen, beschützenden Rechten hielt. Aber Oswald, alias Ozzy, war vielleicht ihr wohlthätigster Gesellschafter. Mit etwas von seines Onkels Gestalt hatte er auch seines Onkels frühreifen Geschmack für eine häusliche Menagerie geerbt und war sehr gebieterisch in dem Verlangen nach Tinas Mitgefühl für die Wohlfahrt seiner Meerschweinchen, Eichhörnchen und Haselmäuse. Bei ihm schien hie und da ein Schimmer ihrer Kindheit durch die bleischweren Wolken auf sie zu fallen, und viele Winterstunden verstrichen heiterer, weil sie in Ozzys Kinderstube verbracht wurden.

Mrs. Heron war nicht musikalisch und hatte kein Instrument; aber eine von Mr. Gilfils ersten Sorgen war es, ein Klavier anzuschaffen und im Gesellschaftszimmer aufstellen zu lassen, immer offen, in der Hoffnung, daß eines Tags der Geist der Musik in Caterina wiedererweckt und sie zu dem Instrument sich hingezogen fühlen würde. Aber der Winter war fast vorüber, und er hatte vergebens gewartet. Der größte Fortschritt hatte sich nicht über Passivität erstreckt – ein ruhiges, dankbares Lächeln, Eingehen auf Oswalds Launen und ein erhöhtes Bewußtsein Dessen, was um sie gesagt und gethan wurde. Manchmal begann sie irgend eine weibliche Arbeit, aber sie schien zu matt, um darin zu beharren, ihre Finger fielen bald herab und sie versank in unthätige Träumerei.

Endlich – es war einer jener hellen Tage Ende Februar, wo der Sonnenschein ein baldiges Nahen des Frühlings verspricht; Maynard war mit ihr und Oswald um den Garten spaziert, um die Schneeglöckchen zu betrachten, und sie ruhte jetzt nach dem Spaziergang auf dem Sopha – da kam Oswald, der auf der Suche nach einem verbotenen Vergnügen das Zimmer durchstreifte, zum Klavier und schlug mit dem Stiel seiner Peitsche eine tiefe Baßnote an.

Die Vibration durchfuhr Caterina wie ein elektrischer Schlag: es schien, als ob in jenem Augenblick ein neuer Geist in sie fahre und sie mit einem neuen, intensiveren und bedeutungsvolleren Leben erfülle. Sie blickte um sich, erhob sich vom Sopha und ging zum Klavier. Im Nu wanderten ihre Finger in ihrer alten, süßen Weise über die Tasten, und ihre Seele schwebte in ihrem wahren, ihr vertrauten Element lieblicher Töne, wie die Wasserpflanze, die verwelkt und zusammengeschrumpft auf dem Boden liegt, sich in Freiheit und Schönheit entfaltet, wenn sie wieder in der heimischen Fluth gebadet wird.

Maynard dankte Gott. Eine aktive Kraft war wiedererweckt und mußte eine neue Epoche in Caterinas Genesung hervorrufen.

Gleich darauf verbanden sich tiefe, weiche Noten mit den härteren Tönen des Instruments, und nach und nach schwoll die reine Stimme an und erlangte die Oberherrschaft. Klein Ozzy stand in der Mitte des Zimmers, mit offenem Mund und weit ausgespreizten Beinen, betroffen von etwas wie Ehrfurcht vor diesem neuen Talent »Tin-Tins«, wie er sie nannte, an die er als an eine gar nicht aufgeweckte Spielgenossin zu denken gewohnt war, die seiner Belehrung über viele Gegenstände bedürftig wäre. Ein Genius, der mit breiten Schwingen aus seiner Milchkanne in die Höhe geflogen wäre, würde nicht staunenerregender gewesen sein.

Caterina sang die nämliche Arie aus »Orpheus«, die wir sie vor so vielen Monaten beim Beginn ihrer Kümmernisse singen hörten. Es war » Ho perduto«, Sir Christophers Lieblingsarie, und ihre Noten schienen alle die zärtlichsten Erinnerungen ihres Lebens auf den Schwingen zu tragen, die Erinnerungen der Zeit, da Cheverel Manor ihr noch ein ruhiges Heim war. Die langen glückseligen Tage der Kinder- und Mädchenjahre erlangten wieder die volle rechtmäßige Oberherrschaft über die kurze Zwischenzeit der Sünde und des Leides.

Sie machte eine Pause und brach in Thränen aus – die ersten Thränen, die sie vergoß, seit sie zu Foxholm war. Maynard konnte sich nicht enthalten auf sie zuzueilen, seinen Arm um sie zu legen und sich herabzubeugen, ihr Haar zu küssen; sie schmiegte sich an ihn und bot ihm ihren kleinen Mund zum Kuß.

Die zartrankige Pflanze mußte etwas zum Umschlingen haben. Die Seele, die von neuem der Musik geboren, war von neuem der Liebe geboren.



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