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Zehntes Kapitel.

Endlich war die gefürchtete Woche gekommen, da Amos und seine Kinder Shepperton verlassen mußten. Es herrschte allgemeines Bedauern unter den Pfarreiangehörigen über seine Abreise: nicht daß irgend eines derselben seine Geistesgaben für hervorragend hielt oder sich einer großen Erbauung durch seine Seelsorge bewußt war. Aber sein frischer Schmerz hatte ihr besseres Mitgefühl hervorgerufen, und das ist immer eine Quelle der Liebe. Amos glückte es nicht, die Quelle des Guten durch seine Predigten zu berühren, aber er berührte sie wirksam durch seine Kümmernisse; und es war jetzt ein wirkliches Band zwischen ihm und seiner Heerde vorhanden.

»Mir thut das Herz noch weh wegen der armen, mutterlosen Kinder«, sagte Mrs. Hackit zu ihrem Gemahl; »unter Fremde zu gehen, und in eine garstige Stadt, wo keine guten Lebensmittel zu haben sind und man für die schlechten theuer bezahlen muß.«

Mrs. Hackit hatte einen vagen Begriff vom Stadtleben als einer Combination von schmutzigen Hinterhöfen, sinnigem Schweinefleisch und schmutzigem Leinenzeug.

Dieselbe Sympathie herrschte unter der ärmeren Klasse der Pfarrkinder. Der alte, steifknochige Mr. Tozer, der noch immer im Stande war, durch Gärtnern im Taglohn ein wenig zu verdienen, hielt Mrs. Cramp, die Scheuerfrau, auf ihrem Heimweg vom Pfarrhaus an, wo sie Hannchen am Tage vor der Abreise beim Packen behilflich gewesen, und erkundigte sich sehr eingehend nach Mr. Bartons Aussichten.

»Ach, der arme Mann«, hörte man ihn sagen, »er thut mir recht leid. Er hatte hier nicht viel, aber dort wird er noch schlechter daran sein. Ein halber Laib ist besser als gar keiner.«

Die traurigen Adieus waren alle gesagt vor jenem letzten Abend; und nachdem alles Packen beendet und alle Anordnungen getroffen waren, fühlte Amos den Druck jener leeren Zwischenzeit, in welcher man an nichts mehr zu denken hat als an die düstere Zukunft – die Trennung von dem Geliebten und Vertrauten, und den erkältenden Eintritt in das Neue und Fremde. In jedem Scheiden liegt ein Bild des Todes.

Bald nach zehn Uhr, als er Hannchen zu Bett geschickt hatte, damit sie eine ungestörte Nachtruhe habe vor den Anstrengungen des morgigen Tages, stahl er sich leise hinaus, um Millys Grabe einen letzten Besuch abzustatten. Es war eine mondlose Nacht, aber der Himmel war dichtbesät mit Sternen und deren Licht stark genug, um zu zeigen, daß auf dem Grabe langes Gras gewachsen war und daß ein Grabstein darauf stand, der in hellen Lettern auf dunklem Grund meldete, daß unter ihm bestattet waren »die irdischen Überreste Amelias, der geliebten Gattin Amos Bartons, die im fünfunddreißigsten Jahre ihres Lebens starb, einen Gatten und sechs Kinder hinterlassend, um ihren Verlust zu betrauern.« Die Schlußworte der Inschrift lauteten: »Dein Wille geschehe.«

Der Gatte näherte sich jetzt dem theuren Hügel, von dem er so bald getrennt sein sollte, vielleicht für immer. Er stand einige Minuten da, die Worte auf dem Grabstein wieder und wieder überlesend, als wolle er sich vergewissern, daß die ganze glückliche und unglückliche Vergangenheit auch Wirklichkeit sei. Denn die Liebe erschrickt über die Zwischenräume von Fühllosigkeit und Unempfindlichkeit, die langsam nach und nach in das Gebiet des Kummers eingreifen, und macht Anstrengungen, die Schärfe des ersten Schmerzes zurückzurufen.

Gradweise schwollen die Wogen des Gefühls in seiner Seele an, als sein Auge bei den Worten »Amelia, die geliebte Gattin« verweilte, und er warf sich auf das Grab, es mit den Armen umschlingend und den kalten Rasen küssend.

»Milly. Milly, hörst du mich? Ich liebte dich nicht genug – ich war nicht zärtlich genug gegen dich – aber ich denke jetzt an das alles.«

Das Schluchzen erstickte seine Ausrufungen, und die warmen Zähren fielen.



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