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Vierzehntes Kapitel.

In der letzten Woche des März erfolgte die unangenehme Abwicklung der Geschäfte zwischen Dempster und Mr. Pryme, und unter dem Einfluß dieser weiteren Quelle der Aufregung hatte des Anwalts tägliche Trunkenheit ihre übellaunigste und roheste Phase erreicht. Am Freitag Morgen vor seiner Abfahrt nach Rotherby sagte er seiner Frau, daß er »vier Männer« zum Diner auf halb sieben Uhr Abends eingeladen habe. Die vorhergehende Nacht war eine schreckliche Nacht für Janet gewesen, und als ihr Gatte sein finsteres Schweigen brach, um diese wenigen Worte zu sagen, sah sie so geistesabwesend und achtlos aus, daß er in lautem, scharfem Ton beifügte: »Hast Du gehört, was ich gesagt habe? oder muß ich's der Köchin sagen?« Sie fuhr in die Höhe und sagte: »Ja, ich hab's gehört.«

»Dann sieh' zu, daß Du für ein Diner sorgst, und geh' nicht schwermüthig umher wie die blödsinnige Hanne.«

Eine halbe Stunde nachher hörte Mrs. Raynor. die in ihrer Küche ruhig mit Hausarbeiten beschäftigt war – denn sie hatte nur ein kleines zwölfjähriges Mädchen als Magd – mit Zittern das Knarren des Gartenthors und das Öffnen der Hausthür. Sie kannte den Schritt, und in einem kurzen Augenblick durchlebte sie im voraus die kommende Scene, Sie eilte aus der Küche, und da im Vorplatz, wie sie's geahnt, stand Janet, die Augen abgestumpft wie von nächtlichem Wachen, der Anzug sorglos, der Gang schleppend. Keinen munteren Morgengruß für ihre Mutter – keinen Kuß. Sie wandte sich zum Besuchszimmer, setzte sich auf das Sopha, ihrer Mutter Stuhl gegenüber, und blickte starr auf die Wände und Möbel, bis ihre Mundwinkel zu zittern begannen und ihre dunkeln Augen sich mit Thränen füllten, die ihr ungetrocknet über die Wangen rollten. Die Mutter saß ihr stillschweigend gegenüber, sie getraute sich nicht zu sprechen. Sie war gewiß, daß nichts Neues vorgefallen war – daß der Sturzbach der Worte früher oder später kommen würde.

»Mutter! warum redest Du mich nicht an?« brach Janet endlich los; »Du bekümmerst Dich nicht um mein Leiden; Du tadelst mich, weil ich mich elend fühle – weil ich elend bin.«

»Mein Kind, ich tadle Dich nicht – mir blutet das Herz um Deinetwillen. Du hast Kopfschmerz diesen Morgen – Du hast eine schlimme Nacht gehabt. Ich will Dir gleich eine Tasse Thee machen. Vielleicht hat Dir Dein Frühstück nicht geschmeckt.«

»Ja, das glaubst Du stets, Mutter. Es ist die alte Geschichte, meinst Du. Du fragst mich nicht, was ich zu erdulden hatte. Du bist es müde, mich anzuhören. Du bist fühllos, wie die Andern; Jedermann ist fühllos in dieser Welt. Nichts als Tadel – Tadel – Tadel; nie eine Spur von Mitleid. Gott ist grausam, daß er mich in die Welt gesandt, um all dies Elend zu erdulden.«

»Janet, Janet, sage das nicht. Uns steht es nicht zu, zu urtheilen; wir müssen uns immer unterwerfen; wir müssen dankbar sein für die Gabe des Lebens.«

»Dankbar für's Leben? Weshalb sollte ich dankbar sein? Gott hat mich geschaffen mit einem fühlenden Herzen, und Er hat mir nichts als Elend gesandt. Wie könnt' ich's ändern? Wie konnte ich wissen, was kommen würde? Warum sagtest Du mir's nicht, Mutter? – warum ließest Du mich heirathen? Du wußtest, wie roh die Männer sein können; und es gibt keine Hilfe für mich – keine Hoffnung. Ich kann mich nicht selbst tödten; ich hab's versucht: aber ich kann diese Welt nicht verlassen und in eine andre eingehen. Vielleicht gibt es auch dort kein Erbarmen für mich, wie es hier keines gibt.«

»Janet, mein Kind, es gibt ein Erbarmen. Habe ich je aufgehört, Dich zu lieben? Und in Gott ist Erbarmen. Hat Er Dir nicht Mitleid in's Herz gepflanzt für viele arme Leidende? Kam es nicht von Ihm?«

Janets nervöse Erregung brach jetzt in Schluchzen statt in Klagen aus; und ihre Mutter war dankbar dafür, denn auf diese Krisis würde sehr wahrscheinlich Erleichterung, Zärtlichkeit und vergleichsweise Ruhe folgen. Sie ging hinaus, um etwas Thee zu bereiten, und als sie mit dem Präsentirteller in der Hand zurückkehrte, hatte Janet ihre Augen getrocknet und wandte sie jetzt mit einem schwachen Versuch zu lächeln ihrer Mutter zu; aber das liebe Gesicht sah in seiner traurigen, beschädigten Schönheit nur um so erbarmungswürdiger aus.

»Mütterchen besteht auf ihrem Thee«, sagte sie, »und ich glaube wirklich, ich kann eine Tasse trinken. Aber ich muß sogleich nach Hause, denn es kommen Leute zum Diner. Könntest Du mit mir gehen und mir helfen, Mutter?«

Das zu thun war Mrs. Raynor stets bereit. Sie ging mit Janet nach der Gartenstraße und blieb den ganzen Tag bei ihr – getröstet, als der Abend kam und sie sah, daß Janet heiterer wurde und ihre Kleidung zu ordnen willens war. Um halb sechs Uhr war alles in Ordnung; Janet war angekleidet; und als die Mutter sie geküßt und ihr Adieu gesagt hatte, konnte sie nicht umhin, einen Augenblick in schmerzlicher Bewunderung der hohen prächtigen Gestalt zu verharren, die wegen der Einfachheit der tiefen Trauerkleidung und des edlen Gesichts mit den massigen Flechten schwarzen Haares nur um so imposanter aussah – die ganze Erscheinung frauenhaft gemacht durch eine schlichte weiße Haube. Janet besaß jene dauernde Schönheit, welche reinen, majestätischen Umrissen und dunklem Teint eigen ist. Kummer und Vernachlässigung lassen ihre Spuren auf solcher Schönheit zurück, aber sie durchdringt uns wie eine herrliche griechische Statue, die für all den Schaden, den sie vom Zahne der Zeit und barbarischen Händen erduldet, eine ehrfurchterweckende Geschichte gewonnen hat und unsere Phantasie umsomehr erfüllt, weil sie unvollständig ist für die Sinne.

Es war sechs Uhr vorüber, als Dempster von Rotherby zurückkehrte. Er hatte offenbar sehr viel getrunken und war in zorniger Stimmung; aber Janet, die aus dem Bewußtsein, daß sie heute ihr Bestes gethan, etwas Muth und Geduld geschöpft hatte, war entschlossen, ihn freundlich anzureden.

»Robert«, sagte sie sanft, als sie sah, daß er sich in seinen bestaubten und mit Schnupftabak überstreuten Kleidern in den Speisesaal setzte und einige Dokumente aus der Tasche zog, »willst Du Dich nicht waschen und umkleiden? Es wird Dich erfrischen.«

»Laß mich in Ruhe, verstanden?« sagte Dempster in seinem rohesten Ton.

»Wechsle doch Rock und Weste, sie sind so staubig. Ich habe alle Deine Sachen zurechtgelegt.«

»Wirklich?« Einige Minuten später stand er sehr bedächtig auf und ging in sein Schlafzimmer hinauf. Janet war früher oft gescholten worden, weil sie seine Kleider nicht herausgelegt hatte, und sie dachte jetzt, nicht ohne einige Verwunderung, daß diese Aufmerksamkeit ihrerseits ihn zur Willfährigkeit gebracht hätte. Gleich darauf rief er »Janet!« und sie ging die Stiege hinauf.

»Da! Nimm das!« rief er, sobald sie die Thür erreicht hatte, indem er den Rock nach ihr schleuderte, den sie herausgelegt hatte. »Ein anderes Mal läßt Du mich thun, was mir gefällt, verstanden?«

Der Rock, mit großer Gewalt geschleudert, streifte nur ihre Schulter und fiel in einiger Entfernung in's Besuchszimmer, dessen gerade gegenüberliegende Thür offen stand. Sie wich hastig zurück, als sie die Weste kommen sah, und, ein Stück nach dem andern, wurden die Kleider, die sie zurechtgelegt hatte, in das Besuchszimmer geschleudert.

Janets Gesicht röthete sich vor Zorn, und zum erstenmale in ihrem Leben besiegte der Groll den langgenährten Stolz, der sie ihr Leid vor der Welt verbergen ließ. Es gibt Momente, wo wir durch irgend einen fremden Antrieb unserem ganzen vergangenen Ich widersprechen – verhängnißvolle Momente, wo eine Anwandlung von Leidenschaft, wie ein Lavastrom, die Arbeit unseres halben Lebens vernichtet. Janet dachte: »Ich werde die Kleider nicht aufheben; sie sollen da liegen bleiben, bis die Besucher kommen, und er soll sich seiner selbst schämen.«

Man hörte ein Klopfen an der Hausthür, und sie eilte, sich im Besuchszimmer niederzusetzen, damit nicht etwa die Magd einträte und die Kleider entfernte, die theils auf dem Tisch, theils auf dem Boden lagen. Mr. Lowme trat ein mit einem weniger vertrauten Besucher, und im nächsten Augenblick kam Dempster selbst herein.

Sein Auge fiel sogleich auf die Kleider und richtete sich dann mit einem teuflischen Blick concentrirten Hasses auf Janet, die, noch immer roth und erregt, nichts zu bemerken schien. Nachdem er den Besuchern die Hände geschüttelt, zog er sogleich die Glocke.

»Nehmen Sie diese Kleider weg«, sagte er zu der Magd, ohne Janet nochmal anzusehen.

Während des Diners behielt sie die angenommene gleichgültige Miene bei und bemühte sich, bester Laune zu scheinen, indem sie mehr als gewöhnlich plauderte und lachte. In Wirklichkeit war ihr zu Muthe, als hätte sie ein wildes Thier innerhalb der vier Wände seines Käfigs herausgefordert, das sich jetzt rückwärts ducke, um sich zum tödtlichen Sprunge zu bereiten. Dempster stellte sich, als beachtete er sie nicht; er plauderte lärmend und trank immerzu.

Um elf Uhr trennte sich die Gesellschaft; nur Mr. Budd, der sich ihnen nach dem Diner angeschlossen, schien geneigt, noch ein wenig zu bleiben und zu trinken. Janet begann zu hoffen, er werde so lange bleiben, bis Dempster schläfrig und betäubt wäre und so auf dem Wege die Stiege hinab einschlafen würde, was gelegentlich, wenn auch selten, das Ende seiner Abende war. Sie sagte den Dienstboten, daß sie nicht länger aufzubleiben brauchten, kleidete sich aus und ging zu Bett, indem sie versuchte, ihre Phantasie zu dem Glauben zu überreden, daß der Tag für sie zu Ende sei. Aber als sie sich niederlegte, wurde sie immer mehr wach, statt einzuschlafen. Alles, was sie diesen Abend zu sich genommen, schien nur ihre Sinne und Befürchtungen zu neuer Lebhaftigkeit anzuregen. Ihr Herz schlug heftig, und sie hörte jedes Geräusch im Hause.

Endlich, als es zwölf Uhr war, hörte sie Mr. Budd fortgehen; sie hörte die Thüre zuwerfen. Dempster hatte sich nicht geregt. Schlief er? Würde er vergessen? Die Minute schien lang, während welcher sie mit jagendem Puls in höchster Spannung lauschte, um jedes Geräusch zu vernehmen.

»Janet!« Die laute, knarrende Stimme schien sie wie eine geschleuderte Waffe zu treffen.

»Janet!« rief er wieder, aus dem Speisezimmer an den Fuß der Treppe herankommend. Es folgte eine Pause von einer Minute.

»Wenn Du nicht kommst, bring ich Dich um.«

Eine weitere Pause, dann hörte sie ihn in den Speisesaal zurückkehren. Er war nach einem Licht – vielleicht nach einer Waffe gegangen; wollte er sie wirklich tödten? Mag er! Das Leben war so gräßlich wie der Tod. Seit Jahren war sie vorwärts gestürzt auf ein unbekanntes, aber sicheres Entsetzliches zu, und jetzt war sie nahe daran. Sie war fast froh; sie war in einem Zustand glühenden, fieberischen Trotzes, der ihre weibischen Befürchtungen neutralisirte.

Sie hörte seinen schweren Tritt auf der Treppe; sie sah das langsam herankommende Licht; dann sah sie die hohe, stämmige Gestalt und das träge Gesicht, jetzt grimmig in trunkener Wuth. Er hatte nichts als die Kerze in der Hand. Er stellte dieselbe auf den Tisch und trat dicht ans Bett.

»Du glaubst also, Du willst mir trotzen, he? Wollen sehen, wie lang das dauert. Auf, Madame; auf der Stelle aus dem Bett!«

In der nahen Gegenwart des schrecklichen Mannes – dieser mächtigen, erdrückenden, mit wildem Willen gewaffneten Gewalt – verließ die arme Janet ihr verzweifelter Trotz sie gänzlich, und ihre Befürchtungen kamen zurück. Zitternd erhob sie sich und stand hilflos in ihrem Nachtgewand vor ihrem Manne.

Er packte sie mit festem Griff bei der Schulter und stieß sie vor sich her.

»Ich will Deinen hitzigen Geist abkühlen. Ich will Dich lehren, mir zu trotzen!«

Langsam stieß er sie vor sich her, die Stiege hinab und durch den Gang, wo eine kleine Oellampe noch flackerte. Was hatte er mit ihr vor? Sie dachte jeden Augenblick, er werde sie vor sich auf den Boden schmettern. Aber sie gab keinen Laut von sich – sie zitterte nur.

Er stieß sie fort zum Eingang und hielt sie fest im Griff, während er die Thürklinke in die Höhe hob. Dann öffnete er die Thür ein wenig, stieß sie hinaus und schlug die Thüre hinter ihr zu.

Für eine kurze Spanne Zeit kam es Janet wie eine Befreiung vor. Der rauhe Nordostwind, der durch ihr dünnes Nachtgewand wehte und ihr langes, schweres schwarzes Haar flattern ließ, schien wie der Hauch des Erbarmens nach dem Griff jenes drohenden Ungeheuers. Aber bald trat das Gefühl der Erlösung von einem überwältigenden Schreck zurück vor dem Bewußtsein des Schicksals, das in Wirklichkeit über sie gekommen war.

Darauf zu war sie also gewandert während der langen Jahre ihres Elends! noch nicht auf den Tod. O! wäre sie nur tapfer genug dazu gewesen, der Tod würde besser gewesen sein. Die Dienstboten schliefen im Hinterhaus; es war unmöglich sie zu wecken, damit man sie ruhig, ohne ihres Gatten Wissen, wieder eingelassen hätte. Und sie würde es auch nicht versucht haben: er hatte sie hinausgestoßen, und es sollte für immer sein.

Wäre nicht das Pfeifen des Windes und das Fegen des Märzenstaubes auf dem Pflaster gewesen, so würde Todtenstille in der Gartenstraße geherrscht haben, Dicke Wolken bedeckten den Himmel; alle Thüren waren geschlossen, alle Fenster dunkel. Kein Lichtstrahl fiel auf die hohe weiße Gestalt, die in einsamem Elend auf der Thürstaffel stand; kein Auge ruhte aus Janet, als sie auf den kalten Stein niedersank und in die finstere Nacht blickte. Sie schien in ihre eigene leere Zukunft zu schauen.



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