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Achtes Kapitel.

Am nächsten Tag, Freitag, um fünf Uhr nach dem Zifferblatt der Sonnenuhr, war das hohe Bogenfenster von Mrs. Jerome's Besuchszimmer offen, und jene Dame selbst saß in der geräumigen halbkreisförmigen Nische vor einem Tische, auf welchem ihr bestes Theebrett, ihr bestes Porzellan und ihr bester Theemaschinenuntersatz schon seit einer halben Stunde in Bereitschaft stand. Mrs. Jerome's bestes Theeservice war von zierlichem weißem kannelirtem Porzellan mit goldenen Zweigen darauf – ein so hübsches Service, als ihr nur je zu sehen wünschen könnt, und vollkommen gut genug zum Kaminschmuck; und wirklich, da die Tassen ohne Handhaben waren, wünschten die meisten Besucher, denen die Ehre daraus Thee zu trinken zutheil wurde, daß so reizendes Porzellan bereits zu jener Ehrenstellung befördert wäre. Mrs. Jerome war wie ihr Porzellan, hübsch und altmodisch. Sie war eine stattliche Dame von sechzig Jahren in einer kunstvoll gearbeiteten Spitzenhaube, die mit Bändern unter dem Kinn befestigt war, einem dunkeln, wohlgekräuselten »Front«-Kopfputz, der ihre Stirn verbarg, einem schneeigen Halstuch, das seine weiten Falten bis zur Taille herab zeigte, und einem steifen grauseidenen Kleid. Sie hatte eine reine Damastserviette vorgesteckt, um ihren Anzug während des Prozesses der Theebereitung zu schützen; ihre Lieblingsgeranien sahen so gesund aus, als sie nur wünschen konnte; ihr eigenes hübsches Portrait, gemalt als sie zwanzig Jahre jünger war, lächelte mit angenehmer Schmeichelei auf sie herab; und alles in allem schien sie in einer so friedlichen und behaglichen Lage zu sein, als eine stattliche, wohlgekleidete ältliche Dame nur wünschen kann. Aber, wie in so vielen anderen Fällen, so trog auch hier der Schein! Ihr Gemüth war sehr beunruhigt und ihr Temperament in Aufruhr gebracht durch die Thatsache, daß es selbst nach der zu spät gehenden Sonnenuhr ein Viertel nach Fünf vorbei war, daß es halb Sechs war nach ihrer großen goldenen Uhr, die sie in der Hand hielt, als wolle sie des Nachmittags Puls zählen, und daß die Küchenuhr, die, wie sie wußte, um keine Stunde zu früh ging, bereits Sechs geschlagen hatte. Dieses Dahingleiten der Zeit wurde Mrs. Jerome um so unerträglicher, weil sie sich wunderte, wie Mr. Jerome mit Lizzie in dieser gedankenlosen Weise im Garten bleiben konnte, so leicht darüber hinweggehend, daß die Theestunde schon lange vorbei war, und weil, trotzdem sie die besten Theegeräthe herausgenommen, Mr. Tryan nicht kommen wollte.

Die Ehre der Einladung war Mr. Tryan durchaus nicht erwiesen worden, weil Mrs. Jerome eine hohe Meinung von seiner Lehre oder seiner musterhaften Thätigkeit als Seelsorger hatte, sondern einfach weil er ein hochkirchlicher Geistlicher war und als solcher von ihr mit demselben ausnehmenden Respekt betrachtet wurde, den eine weiße Frau, die einen Eingebornen der Gesellschaftsinseln geheirathet, muthmaßlich gegen einen weißhäutigen Besucher aus ihrem Geburtslande fühlen würde. Denn Mrs. Jerome war als Hochkirchlerin erzogen worden, und da sie vor ihrer Verheirathung ihr dreißigstes Jahr schon erreicht, hatte sie zuerst das größte Widerstreben gefühlt, den religiösen Formen zu entsagen, in denen sie herangewachsen war. »Wissen Sie«, sagte sie im Vertrauen zu ihren hochkirchlichen Bekannten, »ich wollte zuerst Mr. Jerome kein Gehör schenken; aber nach und nach begann ich zu denken, daß es viel schlimmere Dinge gäbe als in die Kapelle zu gehen, und daß man lieber das thut, als daß man seine Zeche nicht bezahlt. Mr. Jerome hatte sehr angenehme Manieren und es war sonst keiner da, der eine Gig Einspänniger, zweirädriger offener Wagen mit Gabeldeichsel für ein Pferd zum Selbstfahren. – Anm.d.Hrsg. hielt und mir ein Vermächtniß wie er ausgesetzt hätte, – also Kapelle oder nicht. Es kam mir eine Zeit lang sehr wunderlich vor, das Predigen ohne Buch, und das Stehenbleiben während eines langen Gebets, anstatt die Positur zu verändern. Aber es gibt nichts, woran man sich nicht mit der Zeit gewöhnen kann; man kann sich immer niedersetzen, wissen Sie, ehe das Gebet aus ist. Die Priester sagen ganz dasselbe wie die hochkirchlichen Geistlichen, soviel ich herausbringen konnte, und wir sind des Morgens viel eher aus der Kapelle, als die Andern aus der Kirche. Und was die Kirchenstühle betrifft, so ist unserer ein gut Theil bequemer als irgend einer in der Milbyer Kirche.«

Mrs. Jerome hatte, wie man sieht, keine scharfe Empfänglichkeit für doktrinäre Feinheiten, und es ist wahrscheinlich, daß sie, nachdem sie dreißig Jahre lang dissentirender Beredsamkeit gelauscht, ohne geistliche Quarantäne der Hochkirche sicher wieder hätte beitreten können. Ihr Geist war augenscheinlich von jenem kieselartigen Charakter, der von umgebendem Dampf nicht im geringsten gefährdet wird. Aber Mrs. Jerome war empfänglich für die Frage, wie sie sich bei Sonnenaufgang in ihre tägliche Arbeit stürzen und ihr Gewissen von der gehörigen Summe von Mahlzeiten und dem darauf folgenden »Aufwaschen« so bald als möglich reinigen solle; und der gegenwärtige schleichende Gang der Dinge, vereint mit Mr. Jeromes unverantwortlicher Vergeßlichkeit, war nicht länger zu ertragen. Sie schellte also nach Sally.

»Du meine Güte, Sally! geh in den Garten und schaue Dich nach Deinem Herrn um. Sag' ihm, daß es auf Sechs geht und daß Mr. Tryan nimmer kommen wird, und daß es Zeit ist zum Theetrinken. Und er wird jedenfalls Lizzie zwischen den Erdbeerbeeten wieder ihr Kleid fleckig machen lassen. Sie soll gleich hereinkommen.«

Kein Wunder, daß Mr. Jerome versucht war, im Garten zu weilen; denn obgleich das Haus hübsch war und seinen Namen – das »Weiße Haus« – gar wohl verdiente, weil die das Vorhaus überwuchernden Damaskusrosen durch kunstlose Stuckarbeit vom glänzendsten Weiß in's beste Licht gesetzt wurden, so waren doch der Garten und die Obstbäume Mr. Jeromes Stolz, wie es auch recht war; und es gab nichts, worein er einen unschuldigeren Stolz setzte – Friede dem Andenken des guten Mannes! all sein Stolz war unschuldig –, als einen bis jetzt uneingeführten Besucher über seinen Grund und Boden zu geleiten und ihm in gewissem Grade die unvergleichlichen Vortheile zum Bewußtsein zu bringen, in deren Besitz die Bewohner des weißen Hauses waren, in Gestalt von rothgestreiften Äpfeln, Lederäpfeln, Winteräpfeln (ausgezeichnet. zum Backen), Schwanenbirnen und frühen Gemüsen, um nichts zu sagen von blühenden Sträuchern, rothen Hagebutten, Lavendelbüschen (mehr als Mrs. Jerome je gebrauchen konnte) und, in kurzem, einer Überfülle von Allem, was ein Mann, der sich vom Geschäft zurückgezogen, für sich selbst oder um es mit seinen Freunden zu theilen, nur wünschen konnte. Der Garten war eines jener altmodischen Paradiese, die kaum anders mehr denn als Erinnerungen an unsere Jugend existiren: keine peinlich genaue Trennung zwischen Blumen- und Küchengarten; keine Einförmigkeit des Genusses für einen Sinn mit Ausschluß der andern; sondern ein reizendes paradiesisches Durcheinander von Allem, was den Augen angenehm und gut zur Nahrung ist. Der reiche Blumensaum, der an allen Wegen entlang lief mit seiner endlosen Aufeinanderfolge von Frühlingsblumen, Anemonen, Aurikeln, Mauerblümchen, Bartnelken, Glockenblumen, Löwenmaul und Tigerlilien hatte auch seine höheren Schönheiten, wie Moos- und Provencerosen, abwechselnd mit Spalieräpfelbäumchen; das Karmoisin einer Gartennelke war durchgeführt in dem versteckten Karmoisin der benachbarten Erdbeerbeete; man pflückte eine Moosrose in einem Augenblick und einen Büschel Johannisbeeren im nächsten; man befand sich in einem angenehmen Hin- und Herschaukeln zwischen dem Geruch des Jasmins und dem Saft der Stachelbeeren. Und dann, welch' eine hohe Mauer an einem Ende, flankirt von einem Sommerhaus, so luftig, daß man, wenn die lange Flucht von Stufen erstiegen war, ganz genau sehen konnte, daß die Aussicht nicht des Sehens werth sei; welche Nischen und Gartensitze in allen Richtungen und längs der einen Seite, welch' eine Hecke, hoch, fest und undurchbrochen wie eine grüne Mauer!

In der Nähe dieser Hecke stand Mr. Jerome, als Sally ihn fand. Er hatte das Körbchen mit Erdbeeren auf den Kiesweg gestellt und hielt die kleine Lizzie hoch in seinen Armen, damit sie ein Vogelnest betrachten könnte. Lizzie guckte, sah dann ihren Großpapa mit großen Augen an, und guckte nochmals.

»Siehst Du's, Lizzie?« flüsterte er.

»Ja«, flüsterte sie zurück, ihre Lippen Großpapas Gesicht nahe bringend. In diesem Augenblick erschien Sally.

»Nun, nun, Sally, was giebt's denn? Ist Mr. Tryan gekommen?«

»Nein, Sir, und Missis sagt, er wird gewiß nicht mehr kommen jetzt, und Sie möchten hinein kommen zum Thee. Lieber Gott, Miß Lizzie, Sie haben Ihr Schürzchen fleckig gemacht, und es sollte mich nicht wundern, wenn es bis auf den Rock durchgedrungen wäre. Das wird eine schöne Arbeit geben! Kommen Sie gleich mit mir.«

»Na, na, na, wir haben keinen Schaden angerichtet, gelt, Lizzie? Der Waschzuber wird alles wieder recht machen.«

Sally, die den Waschzuber von einem ganz anderen Gesichtspunkte betrachtete, sah säuerlich ernst drein, und eilte hinweg mit Lizzie, die gehorsam nebenher trabte, ihr kleiner Kopf verfinstert von einer großen Nankinhaube, während Mr. Jerome gemächlich folgte – die breiten Schultern in ziemlich gesenkter Positur, die gutmüthigen Züge und weißen Locken von einem breitrandigen Hut überschattet.

»Mr. Jerome, ich muß mich nur über Dich wundern,« sagte Mrs. Jerome im Tone entrüsteten Verweises, der augenscheinlich von dem Gefühl eines erlittenen Unrechts getragen war, als ihr Gemahl die Thüre des Besuchszimmers öffnete. »Wann wirst Du einmal aufhören, die Leute zu Mahlzeiten einzuladen und sie die Zeit nicht wissen zu lassen? Ich stehe dafür, daß Du Mr. Tryan kein Wort sagtest, daß wir um fünf Uhr Thee trinken.«

»Nein, nein, Susan«, antwortete der Gatte in besänftigendem Tone, »es ist alles in Ordnung. Ich sagte Mr. Tryan, daß wir pünktlich um fünf Uhr Thee trinken; vielleicht hält ihn etwas ab. Er hat hübsch viel zu thun und zu denken, daran erinnere Dich.«

»Ei, es hat in der Küche schon Sechs geschlagen. Es ist Unsinn, noch auf ihn zu warten, Du kannst also meinetwegen nach dem Theekessel klingeln. Da Sally den Plättstahl ins Feuer gelegt hat, können wir den Kessel hereinbringen lassen, wenn er auch nicht kommt. Ich werde nie Deinesgleichen sehen; die Leute einladen und mir die Beschwerde machen, die Sachen herzurichten und Kuchen backen zu lassen, und dann kommen sie nicht einmal. Ich werde alle diese Theegeräthe selber waschen müssen, denn Sally darf man nicht trauen – sie würde im Nu für ein Vermögen Geschirr zerbrechen.«

»Aber weshalb machst Du Dir denn solche Mühe, Susan? Unsere alltäglichen Theesachen würden für Mr. Tryan eben so gut gewesen sein und sind ein gut Theil bequemer zu halten.«

»Ja, so machst Du's, immer krittelig über mein Service, weil ich es vor unserer Heirath kaufte. Aber das will ich Dir sagen, daß ich es verstand, mir ein Service auszuwählen, wenn ich es auch nicht verstand, wie man sich einen Mann auswählt. Und wo ist Lizzie? Du wirst sie doch nicht allein im Garten gelassen haben, mit ihrem weißen Kleid und ihren weißen Strümpfen?«

»Sei ruhig, meine Liebe, sei ruhig; Lizzie ist mit Sally hereingekommen. Sie wird ihr das Schürzchen abgenommen haben, ganz gewiß. Ah! Da kommt Mr. Tryan durch's Thor.«

Mrs. Jerome begann hastig ihre Damastserviette und ihre Miene zum Empfang des Geistlichen zurechtzusetzen, und Mr. Jerome ging seinem Gast entgegen und begrüßte ihn vor der Thür.

»Mr. Tryan, wie geht es Ihnen, Mr. Tryan? Willkommen im weißen Haus! Freut mich sehr, Sie zu sehen, Sir, freut mich sehr.«

Wenn Du, lieber Leser, den aus Wohlwollen, Verehrung und Mitgefühl gemischten Ton gehört hättest, in welchem dieser Gruß geäußert wurde, so würdest Du, selbst ohne das vollkommen damit harmonirende Gesicht zu sehen, leicht auf die Grundtöne von Mr. Jeromes Charakter haben schließen können. Einem feinen Ohr sagte jener Ton so deutlich als möglich: – »Was sich mir, Thomas Jerome, als Frömmigkeit und Güte empfiehlt, soll meine Liebe und Verehrung haben. Ach, Freunde, diese schöne Welt ist auch eine traurige, nicht wahr? Deshalb wollen wir einander helfen, wollen wir einander helfen!« Und es war ganz dieser Basis des Charakters und durchaus keinem klaren und genauen doktrinären Urtheil zuzuschreiben, daß Mr. Jerome sehr früh im Leben Dissenter geworden war. In seinen Knabentagen war er in eine Gegend geworfen worden, wo der Dissent das Übergewicht der Frömmigkeit, Reinheit und der guten Werke auf seiner Seite hatte, und ein Dissenter zu werden gleichbedeutend schien mit Gott zu wählen statt des Mammons. Jene Gattung von Dissentern ist jetzt ausgestorben, wo die Meinung dem Gefühl weit vorausgegangen ist und jeder kapellenbesuchende Jüngling uns die Ohren füllen kann mit den Vortheilen des Volontärsystems, Voluntary-System, das System, die Geistlichen von den Angehörigen ihrer Konfession besolden zu lassen. der Corruption der Staatskirche und dem Schriftbeweise, daß die ersten Christen Congregationalisten Anhänger der vollen Selbständigkeit der Gemeinden. waren. Mr. Jerome wußte nichts von dieser theoretischen Grundlage zum Dissent, und in der äußersten Ausdehnung seiner polemischen Diskussion war er nie über die Frage hinausgegangen, ob ein Christ im Gewissen verpflichtet sei, Weihnachten und Ostern durch irgend eine besondere Religionsübung außer dem Genuß von Fleischpasteten und Käsekuchen auszuzeichnen. Es schien ihm, als ob alle Jahreszeiten gleich gut wären, um Gott zu danken, Böses zu meiden und Gutes zu thun, während es vielleicht wünschenswerth wäre, die Periode des Genusses von ungesunden Backwerken zu beschränken. Da Mr. Jeromes Dissent von dieser simpeln, nicht polemischen Art war, ist es leicht verständlich, daß der Ruf Mr. Tryans als eines guten Menschen und tüchtigen Predigers, der die Herzen des Volkes rühre, genug gewesen war, ihn zur Paddiforder Kirche hinzuziehen; und da er sich dort mehr erbaut gefühlt hatte, als er es in der letzten Zeit von Mr. Stickneys Predigten in der Salemkapelle gewesen war, war er wiederholt an den Sonntag-Nachmittagen dorthin gefahren und hatte eine Gelegenheit gesucht, Mr. Tryans Bekanntschaft zu machen. Die Abendbetstunde war ihm ein Gegenstand warmen Interesses, und der Widerstand, auf den Mr. Tryan stieß, gab jenem Interesse einen starken Anstrich von Parteianhänglichkeit; denn in Mr. Jeromes Natur lag ein Vorrath von Reizbarkeit, der sich irgendwie Luft machen mußte und dies bei einem so freundlichen und aufrichtigen Manne nur konnte in Entrüstung über Jene, die er für Feinde der Wahrheit und Güte hielt. Mr. Tryan war bis jetzt noch nicht im »Weißen Hause« gewesen; aber als er gestern Mr. Jerome auf der Straße traf, hatte er sogleich dessen Einladung zum Thee mit der Bemerkung angenommen, daß er über etwas mit ihm zu reden habe. Er schien müde und abgespannt jetzt, und nachdem er Mrs. Jerome die Hand geschüttelt, warf er sich in einen Stuhl und blickte anscheinend erleichtert auf den hübschen Garten hinaus.

»Was haben Sie doch da für ein hübsches Plätzchen, Mr. Jerome! Ich habe, seit ich in Milby bin, nichts so Hübsches und Ruhiges gesehen. Zu Paddiford Common, wo ich wohne, sind, wie Sie wissen, alle Büsche mit Ruß gesprenkelt, und es ist nie Ruhe dort, außer in der Stille der Nacht.«

»Du lieber Himmel! Das ist sehr schlimm – und für Sie dazu, der Sie studiren müssen. Würde es nicht besser sein für Sie, wenn Sie etwas weiter draußen im Freien wohnten?«

»O nein! Ich würde so viel Zeit im Hin- und Hergehen verlieren, und dann bin ich gern unter den Leuten. Ich habe nicht das Herz, hinzugehen und den armen Leuten in ihrer rauchigen Luft und öden Behausung Ergebung zu predigen, wenn ich selbst geradewegs aus dem Wohlleben herauskomme. Es gibt Vieles, was anderen Menschen vollkommen erlaubt ist, worauf aber ein Priester verzichten muß, wenn er unter einer Fabrikbevölkerung wie hier etwas Gutes wirken will.« –

Hier wurden die Vorbereitungen zum Thee durch das gleichzeitige Erscheinen Lizzies und des Kuchens gekrönt. Es ist eine hübsche Ueberraschung, wenn man ein altes Ehepaar besucht, eine kleine Figur eintreten zu sehen in einem weißen Kleide, mit einem blonden, seidenweichen Köpfchen, runden blauen Augen und Wangen wie Apfelblüthen. Ein stammelndes kleines Mädchen ist ein Mittelpunkt allgemein menschlichen Fühlens und bringt die ungleichartigsten Menschen zu gegenseitigem Verständniß; und Mr. Tryan blickte Lizzie mit jenem ruhigen Wohlgefallen an, das immer echt ist.

»Ach, da sind wir, da sind wir!« sagte der stolze Großpapa. »Sie dachten nicht, daß wir ein so kleines Mädchen hätten, nicht wahr, Mr. Tryan? Ei, es kommt mir vor, als wäre es erst gestern gewesen, daß ihre Mutter gerade so aussah. Das ist unsere kleine Lizzie. Komm und gib Mr. Tryan die Hand; Lizzie, komm!«

Lizzie kam ohne Zögern vorwärts und streckte eine Hand aus, während sie mit der andern an ihrem Korallenhalsband spielte und Mr. Tryan mit forschendem Blick ins Gesicht sah. Er streichelte ihr das seidenweiche Haar und sagte mit seiner sanftesten Stimme: »Wie geht's, Lizzie? Willst Du mir einen Kuß geben?« Sie bot ihm ihr knospenhaftes Mündchen dar und sagte dann, ein wenig rückwärts gehend und auf ihr Kleid herabblickend:

»Dat it mein neues Dleid. Ich tog et an, weil Du Kommen bist. Dally tagt, Du wirst et nicht antauen.«

»Pst, pst, Lizzie, kleine Mädchen soll man sehen, nicht hören«, sagte Mrs. Jerome, während Großpapa, der bedeutsam winkte und ganz strahlend aussah vor Entzücken über Lizzies vielversprechende Klugheit, sie auf ihren hohen Rohrstuhl neben Großmama setzte, die ohne Zeitverlust die Schönheiten des neuen Kleides mit einer Serviette bedeckte.

»Nun, Mr. Tryan«, sagte Mr. Jerome in sehr ernstem Ton, als der Thee herumgereicht war, »lassen Sie mich hören, wie es mit der Abendbetstunde vorwärts geht. Als ich gestern in der Stadt war, hörte ich, daß man Pläne schmiede, um Ihnen Hindernisse in den Weg zu legen. Die Schufte werden Ihnen die Sache sehr unangenehm machen.«

»Ich zweifle nicht, daß sie es versuchen werden: ja, ich erwarte sogar, daß sich am Sonntag Abend ein tüchtiger Pöbelhaufe ansammeln wird, wie damals als die Delegaten zurückkehrten, um mich und die Congregation auf unserem Weg zur Kirche zu belästigen.«

»Ja, Leute wie Dempster und Budd sind zu Allem fähig; und Tomlinson hilft mit Geld nach, weil er mit Gehirn nicht kann. Aber Dempster hat einen Clienten wegen seines schlechten Treibens schon verloren, und ich müßte mich sehr täuschen, wenn er nicht noch mehr als einen verlöre. Ich dachte nicht entfernt daran, Mr. Tryan, als ich Michaeli vor zwanzig Jahren meine Angelegenheiten in seine Hände legte, daß er je zu einem Kirchenverfolger werden würde. Ich habe nie einen gescheidteren hoffnungsvolleren jungen Mann getroffen, als er damals war. Man sprach davon, daß er gern zu Zeiten ein Glas über'n Durst trank, aber nicht entfernt so, wie er's jetzt treibt. Und bei einem Advokaten muß man aufs Gehirn sehen, Mr. Tryan, auf's Gehirn. Dazu war seine Frau stets ein besonderer Liebling von mir – das arme Ding! Man hört jetzt traurige Geschichten über sie; aber sie ist dazu gezwungen, sie ist dazu gezwungen, Mr. Tryan. Eine weichherzige Frau ist sie gegen die Armen, wie nur je eine lebte; und eine so hübsch plaudernde Frau, daß es eine Freude ist, mit ihr zu reden. Ja! Ich hatte immer mein Gefallen an Dempster und seiner Frau, trotz Allem. Aber sobald ich von der Delegatengeschichte hörte, sagte ich, der Mann soll nichts mehr mit meinen Angelegenheiten zu thun haben, sagte ich. Es bringt mich vielleicht in Ungelegenheiten, aber ich will keinen Mann ermuthigen, der die Religion verfolgt.«

»Er ist offenbar Kopf und Hand der Verfolgung,« sagte Mr. Tryan. »Eine große Anzahl der Einwohner ist vielleicht sehr aufgebracht über mich – es muß so sein bei der großen Unwissenheit, die hier betreffs religiöser Dinge herrscht. Aber ich meine, es hätte keine förmliche Opposition gegen die Betstunde gegeben, wenn Dempster sie nicht geplant hätte. Ich selbst bin nicht im geringsten beunruhigt über etwas, was er thun kann; er wird finden, daß ich durch Schimpf oder persönliche Gefahr nicht einzuschüchtern oder zu vertreiben bin. Gott hat mich an diesen Ort gesandt, und mit seinem Segen werde ich vor nichts zurückschrecken, was mir begegnen mag, während ich sein Werk thue unter den Leuten. Aber ich halte es für recht, alle diejenigen, die den Werth des Evangeliums kennen, zu bitten, mir öffentlich beizustehen. Ich denke – und Mr. Landor stimmt mit mir überein – daß es gut sein würde, wenn meine Freunde in Masse mit mir zur Kirche schritten am Sonntag Abend. Wie Sie wissen, hat Dempster behauptet, daß fast alle angesehenen Einwohner Gegner der Betstunde sind; und da wünsche ich denn nun, daß jene Unwahrheit greifbar widerlegt wird. Was denken Sie von dem Plan? Ich habe heute verschiedene meiner Freunde besucht, die es sich zur Pflicht machen, mich zu begleiten, und die Sache mit anderen besprechen wollen.«

»Ich bin auch dabei. Mr. Tryan, ich bin auch dabei. Es soll Ihnen an keiner Unterstützung fehlen, die ich gewähren kann. Bevor Sie hieher kamen, Sir, war Milby ein todter und finsterer Ort; Sie sind meines Wissens der erste hochkirchliche Geistliche, der den Leuten das Wort Gottes einleuchtend vorgestellt hat; und ich will Ihnen beistehen, Sir, ich will Ihnen beistehen. Ich bin ein Dissenter, Sir, seit meinem fünfzehnten Jahr; aber zeigen Sie mir Gutes in der Hochkirche, und ich bin auch ein Hochkirchler. Als ich noch ein Knabe war, lebte ich zu Tilston, Sie kennen den Ort vielleicht nicht; der beste Theil des Bodens gehörte dem Squire Sandeman; er hatte einen Klumpfuß, der Squire – verlor ein schönes Geld in Kanalantheilen. Nun, Sir, wie ich sagte, ich lebte zu Tilston, und der Rector dort war ein schrecklicher Säufer und Fuchsjäger; Sie haben in Ihrem Leben keinen so gottlosen Kirchsprengel gesehen; Milby ist gar nichts dagegen. Nun, Sir, mein Vater war ein Handwerker und konnte mir keine Erziehung zu Theil werden lassen, und so ging ich in eine Abendschule, die von einem Dissenter, einem gewissen Jakob Wright, gehalten wurde; und von dem Mann, Sir, habe ich mein bischen Wissen und Religionskenntniß. Ich ging mit Jacob zur Kapelle – er war ein guter Mann, der Jacob – und bin seitdem immer zur Kapelle gegangen. Aber ich bin kein Feind der Hochkirche, Sir, wenn die Hochkirche den Unwissenden und Sündigen Erleuchtung bringt; und das thun Sie, Mr. Tryan. Ja, Sir, ich werde Ihnen beistehen. Ich werde am Sonntag Abend mit Ihnen zur Kirche gehen.«

»Es wäre besser, Mann, Du bliebest zu Hause, wenn ich meine Meinung sagen darf«, legte sich Mrs. Jerome dazwischen. »Nicht daß ich nicht den größten Respekt vor Ihnen hätte, Mr. Tryan, aber Jerome wird durch seine Einmischung nichts Gutes stiften. Dissenter sind in Milby überhaupt nicht angesehen, und er ist so jähzornig wie möglich; er wird ganz krank zurückkommen, und ich werde die ganze Nacht kein Auge zudrücken können.«

Mrs. Jerome war bei der Erwähnung eines Pöbelauflaufs erschrocken, und ihre rückwirkende Rücksicht auf die Religionsgemeinde ihrer Jugend flößte ihr keineswegs die Gesinnungen einer Märtyrerin ein. Ihr Gatte sah sie mit dem Ausdruck zärtlichen und schmerzlichen Verweises an, etwa wie einst der geduldige Patriarch bei der merkwürdigen Gelegenheit, da er sein Weib tadelte.

»Susan, Susan, ich möchte Dich bitten, mir nicht zu widerstreben und mir keinen Stein des Anstoßes in den Weg zu legen, wenn ich thue, was recht ist. Ich darf nicht mein Gewissen aufopfern, ich mag sonst aufopfern, was ich will.«

»Vielleicht«, sagte Mr. Tryan, dem etwas unbehaglich zu Muthe war, »würde es gut sein, mein werther Sir, da Sie nicht recht gesund sind, wie Mrs. Jerome meint, wenn Sie sich nicht der Gefahr einer Erregung aussetzten.«

»Sagen Sie nichts weiter, Mr. Tryan. Ich werde Ihnen beistehen; das ist meine Pflicht. Es ist Gottes Sache, Sir, es ist Gottes Sache.«

Mr. Tryan gehorchte der inneren Stimme der Bewunderung und Dankbarkeit, indem er dem weißhaarigen Greis die Hand entgegenstreckte und sagte: »Danke, Mr. Jerome, danke.«

Mr. Jerome ergriff die dargebotene Hand stillschweigend und lehnte sich dann in seinen Stuhl zurück, einen vorwurfsvollen Blick auf seine Frau werfend, der zu sagen schien: »Warum fühlst Du nicht wie ich?«

Die Sympathie dieses einfachen Greises war Mr. Tryan werthvoller, als ein oberflächlicher Betrachter hätte glauben können. Leuten, die ein gut Theil jener leichtfertigen Psychologie besitzen, welche die Individuen nach der Schablone beurtheilt und sie ohne weitere Umstände in gehörig betitelte Fächer wirft, möchte es scheinen, als thue der evangelische Curat einfach dasselbe, was alle Menschen gern thun – indem er Ziele verfolgte, die nicht nur mit seiner Theorie, welche nur eine Art secundären Egoismus ist, sondern auch mit dem primären Egoismus seiner Gefühle identisch waren, Opposition kann einem Manne angenehm werden, wenn er sie Verfolgung getauft hat: ein sich selbst aufdrängender, überhastiger Reformator, der ruhig alles Verdienst von sich weist, während seine Freunde ihn einen Märtyrer nennen, verfolgt in Wirklichkeit nicht den beschwerlichsten Pfad bei Erreichung seiner Ziele. Aber Mr. Tryan war nicht in der Form des freiwilligen Märtyrers gemodelt. Mit einer Beharrlichkeit, die oft als Hartnäckigkeit getadelt wurde, verband er eine scharfe Empfindlichkeit für den Haß und die Lächerlichkeit, die hervorzurufen er durchaus nicht vermied. Jede Form der Mißbilligung berührte ihn peinlich: und obgleich er seinen Gegnern mannhaft und oft sehr hitzig entgegentrat, hatte er doch keine streitsüchtige Kampfeslust. Es war eine der Schwächen seiner Natur, allzuempfindlich zu sein gegen jedes rauhe Lüftchen der öffentlichen Meinung; sich zu krümmen unter dem Stirnrunzeln des Thoren: erregt zu werden durch die Ungerechtigkeit Jener, die unmöglich die zu einem gerechten Urtheil unumgänglich nothwendigen Elemente besaßen; und bei all dieser scharfen Empfindlichkeit für Tadel, dieser Abhängigkeit von Sympathie, war er Jahre lang in eine kämpfende Stellung gezwungen worden. Kein Wunder also, daß des guten alten Mr. Jerome herzliche Worte Balsam für ihn waren. Er war schon oft einem alten Weib dankbar gewesen, weil sie gesagt hatte: »Gott segne Sie!« – einem kleinen Kind, weil es ihn angelächelt hatte; einem Hunde, weil er sich von ihm streicheln ließ.

Da mittlerweile der Thee eingenommen war, schlug Mr. Tryan einen Spaziergang durch den Garten vor, als ein Mittel, alle Erinnerung an die soeben zu Tage getretene eheliche Meinungsverschiedenheit zu zerstreuen. Der kleinen Lizzie Bitte »Mitgehen, Großpapa!« konnte nicht abgewiesen werden, sie wurde also gehörig mit Häubchen und Schürzchen bekleidet und dann gingen sie hinaus in den Abendsonnenschein. Nicht so Mrs. Jerome indessen; sie hatte einen tiefdurchdachten Plan, sich ad interim in die Küche zurückzuziehen und das beste Theegeräthe »auszuwaschen,« als ein Mittel, die traurig verzögerten Tagesverrichtungen zu fördern.

»Hierher, Mr. Tryan, hierher«, sagte der alte Herr; »ich muß Sie zuerst zu meinem Weideplatz führen und Ihnen unsere Kuh zeigen – die beste Milchkuh in der Grafschaft. Und schauen Sie da die Rückgebäude an, wie bequem der Milchkeller ist; ich habe alles selbst geplant. Und hier habe ich meinen kleinen Zimmermannsschuppen und meine Schmiede; ich mache da eine Menge kleiner Arbeiten selbst. Ich konnte das Müssiggehen nie ertragen, Mr. Tryan; ich muß mit irgend etwas beschäftigt sein. Es war Zeit für mich, das Geschäft aufzugeben und jüngern Leuten Platz zu machen. Ich hatte Geld genug und nur eine einzige Tochter, und so dacht' ich bei mir selbst, es ist Zeit, aufzuhören, mich so viel mit dieser Welt zu befassen, und mehr Zeit darauf zu verwenden, an die andere zu denken. Aber es sind viele Stunden zwischen Aufstehen und Niederlegen, und Gedanken sind keine Last; man kann ein gut Theil im Kopf bei sich tragen. Sehen Sie, da ist der Weideplatz.«

Ein sehr hübscher Weideplatz war es, wo die großgefleckte, kurzhornige Kuh ruhig wiederkäute, während sie dalag und schläfrig auf ihre Bewunderer blickte – eine zierlich beschnittene Hecke ringsherum, hie und da »punctirt« von einer Bergesche oder einem Kirschbaum.

»Ich habe noch ein hübsches Stückchen Land außer diesem, und es ist werth, daß Sie es ansehen, aber es ist weiter, und Sie gehen vielleicht jetzt nicht gern. Wahrhaftig, ich habe einen ganzen Morgen Kartoffelfeld noch da drüben; ich habe eine hübsch große Familie zu versorgen, wissen Sie.« (Hier zwinkerte und lächelte Mr. Jerome bedeutsam.) »Und das erinnert mich an etwas, was ich Ihnen sagen wollte. Ich weiß, Geistliche wie Sie sehen viel mehr Armuth als andere Leute, und es werden eine Menge Ansprüche an sie gemacht, mehr als sie befriedigen können; und wenn Sie zu irgend einer Zeit meine Börse gebrauchen oder mich wissen lassen wollten, wo ich helfen kann, so würde das sehr freundlich von Ihnen sein.«

»Danke, Mr. Jerome, ich werde es thun, das verspreche ich Ihnen. Ich sah einen traurigen Fall gestern; ein Kohlengräber – ein hübscher dreißigjähriger Bursch mit breiter Brust – wurde von einer einfallenden Mauer in der Paddiforder Kohlengrube erschlagen. Ich war in einer der Hütten nahe dabei, als sie ihn auf einer Thür heimbrachten, und der gellende Schrei seines Weibes tönt mir noch jetzt in den Ohren. Es sind drei kleine Kinder da. Glücklicherweise hat die Frau ihren Webstuhl, und so wird sie sich vom Armenhaus fern halten können; aber sie sieht nicht sehr gesund aus.«

»Sagen Sie mir ihren Namen, Mr. Tryan«, sagte Mr. Jerome, sein Notizbuch hervorziehend. »Ich will sie aufsuchen, ich will sie aufsuchen.«

Tief war die Quelle des Mitleids in des guten alten Mannes Herz! Er beendete oft kaum seine Mahlzeit, bedrückt von dem Gedanken, daß es Männer, Frauen und Kinder gab, die sich zu keiner Mahlzeit setzen konnten; und dann pflegte er Nachmittags auszugehen und sich umzusehen nach einer Noth, der er abhelfen, nach irgend einem ehrlichen Kampf, in dem er eine helfende Hand reichen konnte. Daß ein lebendes Wesen Mangel leide, war sein Hauptkummer; daß ein vernünftiges Wesen verschwende, sein zweiter. Sally zwar, die von Master gescholten worden, weil sie zu viele Reiser zum Anfeuern verbrauche und wegen verschiedener Fälle von Unachtsamkeit auf Kerzenenden, hielt ihn für »so gemein als nur etwas«; aber er hatte eine so freundliche Wärme wie das Morgensonnenlicht, seine Güte schien auf alle, die ihm in den Weg kamen, von dem naseweisen rothwangigen Jungen, den mit einem Weihnachtsgeschenk zu beglücken ihn ergötzte, bis zu den blassen Leidenden in trüben Zimmern, die unter dem furchtbaren Druck des Mangels und Elendes eines langsamen Todes hinsiechten.

Es war Mr. Tryan sehr angenehm, dem einfachen Geplauder des Greises zu lauschen, im Schatten des unvergleichlichen Obstgartens zu spazieren und die Geschichte der von den Streifäpfelbäumen gelieferten Ernten und von der ganz verwirrenden Ergiebigkeit der Sommerbirnen zu hören – die milde Abendluft des Gartens einzuathmen, als sie in einer Nische saßen, und so für kurze Zeit sich von der Last seines seelsorgerlichen Berufes befreit zu fühlen.

Vielleicht fühlte er die Rückkehr zu jener Aufgabe nur um so schmerzlicher, vielleicht hatte ihn etwas in jenem ruhigen, schattigen Heim an die Zeit erinnert, wo er das Joch der Selbstverleugnung noch nicht auf sich genommen hatte. Das stärkste Herz wird manchmal schwach unter dem Gefühl, daß die Feinde erbittert sind und daß die Freunde nur die Hälfte seiner Sorgen kennen. Der Entschlossenste wird hie und da einen sehnenden Blick zurückwerfen beim Ersteigen des rauhen Bergpfades, zurück zu dem Grün und den lachenden Stimmen des Thales. Wie dem auch sei, als Mr. Tryan um neun Uhr im Abendzwielicht sein kleines Studierzimmer betreten und verschlossen hatte, warf er sich in den Stuhl vor seinem Schreibtisch, und ohne der darauf liegenden Papiere zu achten, beugte er das Gesicht tief auf die Hand herab und schluchzte bitterlich.

So geht es, wie ich glaube, häufig in diesem Leben. Während wir den Lebenslauf eines Menschen kalt besprechen, über seine Mißgriffe die Nase rümpfen, seine Raschheit tadeln und seine Meinungen klassifiziren – »er ist evangelisch und beschränkt«, oder »er ist gemäßigt und Pantheist«, oder »anglikanisch und anmaßend«, vergießt dieser Mann in seiner Einsamkeit heiße Thränen, weil sein Opfer ein schweres ist, weil ihm Kraft und Geduld fehlen, das schwierige Wort zu sprechen und die schwierige That zu thun.



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