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Siebzehntes Kapitel.

Volksmässige rythmische Dichtung.

Dass auch in dieser Periode die volksmässige, rythmische Profandichtung Worin wir hier auch Gedichte geistlichen Inhalts, die nicht kirchlichen Zwecken dienten, einbegreifen. – Bei der Angabe der Versmasse in diesem Kapitel sind selbstverständlich immer rythmische zu verstehen. gepflegt wurde, haben selbst einzelne Gedichte berühmter Autoren, eines Raban, Gottschalk und Sedulius gezeigt. Aber wir können noch eine grössere Zahl Gedichte unbekannter Poeten hinzufügen, die wir zunächst hier soweit als möglich chronologisch geordnet aufführen, um hernach zu einer allgemeineren Betrachtung dieser immer mehr aufblühenden, für die spätere Poesie in den Volkssprachen so wichtigen Dichtung zu schreiten.

Ganz in den Anfang der Periode fällt ein Planctus , Klagelied, auf den Tod Karls des Grossen in iambischen Trimetern Du Méril, Poésies populaires latines antérieures au XII. siècle. Paris 1843. p. 245 f. – In: Einhardi vita Karoli magni in usum scholar. ed. Pertz. Hannover 1845. p. 40 ff. – – Dümmler, N. A. S. 151 f., in verschiedenen Handschriften abweichend 312 überliefert. In der erweiterten Gestalt bei Pertz finden sich offenbar längere Interpolationen, sie erscheint als das Werk eines Franken, aus der Zeit der Bürgerkriege unter Ludwig dem Frommen. S. die Strophe Francia diras perpessa iniurias, die sicher auch interpolirt ist. Höchst wahrscheinlich ist er von einem Mönch des Klosters Bobbio verfasst. Wie die Anrede an den heil. Columban, der Klageruf über Italien zeigt.

Vom Sonnenaufgang bis zu den westlichen Meeresgestaden, beginnt das Lied, schlägt die Klage die Brust         A solis ortu usque ad occidua
        Littora maris planctus pulsat pectora.
                        Heu mihi misero!
– – Franken, Römer und alle Gläubigen quält der Kummer, die Thränenströme hören nimmer auf, der ganze Erdkreis beklagt den Tod Karls. Wehe dir, Rom, und dem römischen Volke, das den höchsten, ruhmvollen Karl verloren, wehe dir, verwaistes schönes Italien! – Christus soll Karl die ewige Ruhe geben, der heil. Columban für ihn bitten. – Der Dichter gibt aber zugleich seinem persönlichen Schmerze Ausdruck, indem jeder Strophe ein Refrain folgt: Wehe mir Armen, und an einer Stelle in den Worten: die Nacht erzählte ( retulit) mir schreckliche Träume, und der helle Tag brachte mir kein Licht! Durch dieses subjective Moment wird der Eindruck des Gedichts wesentlich verstärkt, das einer gewissen einfachen Grösse nicht entbehrt.

Hierauf folgen erst aus den vierziger Jahren wieder datirbare rythmische Gedichte; zunächst eins in trochäischen Tetrametern Du Méril a. a. O. p. 249 ff. – In: Nithardi histor. libri IV in usum scholar. ed. Pertz. Ed. II. Hannover 1870. p. 56 f. – Angilberts Rythmus auf die Schlacht von Fontanetum nach den Papieren von Pertz herausgeg. von Dümmler. Aus den zu Ehren Mommsens herausgeg. Abhandl. 1877. – – Dümmler, N. A. S. 267. – Meyer v. Knonau, Ueber die Schlacht von Fontanetum in dessen: Ueber Nithards vier Bücher Geschichten, Excurs VI, S. 136 ff. auf die Schlacht von Fontanetum 841, die blutigste des Bruderkrieges der Söhne Ludwigs, in welcher Lothar mit Pippin gegen Karl den Kahlen und Ludwig den Deutschen focht, und die letzteren siegten. Das Gedicht ist von einem Mitkämpfer, der sich in ihm selbst Angelbert 313 nennt         Hoc autem scelus peractum
        Quod describi ritmice,
        Angelbertus ego vidi
        Pugnansque cum aliis;
        Solus de multis remansi
        Prima frontis acie.

Ed. Pertz. – In der von Dümmler edirten Posener Handschriften hat der Name die Form: Engelbertus.
und auf der Seite Lothars stand, verfasst. Er zeigt gelehrte Bildung und war vielleicht ein Geistlicher. Die Schlacht wird, und mit Recht, als ein Verwandten- und Christenmord, über den die Hölle sich freue, hingestellt, Lothar aber als ein durch Gottes Rechte beschirmter Held, der für seine Person siegreich war, aber von seinen Herzögen wie der Heiland von Judas verrathen wurde. – Das Gedicht ist nicht ohne poetische Züge. So schildert es das Schlachtfeld, das von den leinenen Gewändern der von den Heeren Karls und Ludwigs Gefallenen weiss glänzt, wie die Fluren im Herbst von den Vögeln. Die Schlacht ist keines Lobes werth, kein Lied soll sie besingen. Verflucht sei der Tag, der ausgetilgt werde aus jedem Gedächtniss. Die Sonne soll an ihm nicht leuchten, das Morgenroth die Dämmerung nicht verscheuchen. Und welche Nacht folgte dem Tag, in der sich Klage und Schmerz mischten! O der Trauer und des Wehs! Die Todten entblösst, sind eine Speise der Geier, Raben und Wölfe. Der Dichter kann den Jammer nicht weiter schildern; mag ein jeder wie viel er kann seine Thränen trocknen und für die Seelen der Gefallenen den Herrn anflehn. – Das Gedicht ist ein Abecedarius, geht aber nur bis P. Und auch nur in zwei Handschr., worunter aber die älteste, während in einer nur bis N. – Die Handschriften weichen öfters beträchtlich von einander ab. Ein tiefes sittliches Leid spricht aus ihm, das nur der Ausdruck der öffentlichen Meinung war, der Kämpfer auf beiden Seiten. Bemerkenswerth ist, wie offen bei diesem Gedicht das subjective Moment in der Darstellung hervortritt.

Auch eine Frucht der Bürgerkriege ist ein Klagelied in iambischen Trimetern Du Méril a. a. O. p. 251 ff. – – Dümmler, N. A. S. 267. auf den Tod des Hugo, Abt von St. Quentin, der in einem Gefecht bei Toulouse 844 fiel. Er 314 war ein natürlicher Sohn Karls des Grossen, der von dem argwöhnischen Ludwig dem Frommen zum Geistlichen gemacht, später aber in Gnaden aufgenommen, sein Erzkanzler geworden war. Er stand auf der Seite Karls des Kahlen in dem Bruderkriege, und fiel, als er mit andern Grossen, namentlich Geistlichen, dem Toulouse einschliessenden Neffen zu Hülfe zog, durch einen Ueberfall Pippins, denselben bei welchem auch Lupus gefangen genommen wurde. Dies gefühlvolle Gedicht scheint auch das Werk eines Deutschen zu sein, worauf auch die unlateinischen Namensformen Hug, Karroff, Karli wohl hinweisen. »Hug, süsser Name – beginnt das Gedicht – Hug, edler Spross des mächtigen durchlauchtigen Fürsten, unschuldig in den Waffen, so plötzlich erlagst du verwundet!« – Aber warum wagtest du auch Karl zuzuziehen, den der Kaiser Ludwig so gern vom Sohn zum König machte? fährt der Dichter fort, indem er durch das ganze Klagelied die poetisch wirksame Anrede an den Todten beibehält. – Darum war Hugo doch nicht zu durchbohren und zu zerfleischen, da er immer jedem vielmehr zu nützen als zu schaden liebte – ein Satz der refrainartig am Schlusse der zwei letzten Strophen sich wiederholt, gleichsam die Quintessenz seines Lobes. Selbst sein Gegner Pippin beweinte ihn, als er ihn nackt da liegen sah im Staube des Schlachtfelds und wünschte ihn in das Leben um jeden Preis zurück. In Karroff soll er ehrenvoll bestattet werden Karroff honeste collocetur tumulo: diese Stelle zeigt, dass das Gedicht noch vor dem Begräbniss, also bald nach dem Tode 844 verfasst ist. Karroff ist die Abtei Charroux in Poitou., wie er wünschte. Welche schöne Erscheinung war er vor allen andern; kein Verbrechen, keinen Raub hätte er begangen – im Kriege nämlich –, er der so sanft war, da er immer jedem vielmehr zu nützen als zu schaden liebte.         Non crimen ullum, non rapinam quamlibet
        Tu perpetrasses, cum fores mitissimus,
        Cum plus prodesse quam nocere cuique
                        Semper amares.

In dieselbe Zeit ungefähr, d. h. zwischen 844 und 849 fällt ein polemisches Gedicht, ein Schimpflied möchte man sagen in trochäischen Tetrametern Du Méril a. a. O. p. 261 ff. – Dümmler, N. A. S. 118., gegen Aquileja, 315 insbesondere seine geistliche Oberherrlichkeit über die Kirche Venedigs, oder genauer, gegen eine Wiederherstellung derselben. Es ist offenbar von einem Venezianer Geistlichen an die » augustales principes« (v. 6), d. h. wie der Schluss des Gedichts zeigt, Kaiser Lothar und seinen Sohn Ludwig, der 844 zum König der Langobarden gekrönt wurde, gerichtet. Die schlimmen Schicksale der »einst herrlichen Stadt« seit ihrer Zerstörung durch Attila werden von dem Dichter als ein göttliches, von ihr verdientes Strafgericht gezeichnet, da sie Verbrechen auf Verbrechen häufte. Ihrem »dem Himmel und der Erde gleich verhassten Volke« wird das leuchtende und berühmte Venedigs, das alle Nationen an Huld übertrifft, gegenübergestellt.         Lucida Venetiarum semper gens et inclyta
        Omnes nationes prima superat per gratiam;
        Sine fine, firma fide, destruens mendacia.
– Das Gedicht ist ein Abecedarius und von ziemlich rohem ungelenken Ausdruck.

Hiernach ist zu nennen ein 39 Strophen langes episches Lied in iambischen Dimetera Du Méril a. a. O. p. 255 ff. – – Dümmler, N. A. S. 296. auf die Zerstörung des Klosters Glonna in Poitou durch den Bretonenfürsten Nominoi und seine Wiederherstellung durch Karl den Kahlen i. J. 850. Der Verfasser, ohne Frage ein Mönch des Klosters, wünscht sich zunächst in einem recht gelehrt kunstmässigen Eingang         Dulces modos et carmina
        Praebe, lyra Threïcia,
        Commota quis cacumina
        Planxere hyperborea.
die süssen Weisen des Orpheus, so dass ihm Flüsse und Berge antworten sollen; dann gedenkt er der Gründung des Klosters durch Karl den Grossen, seiner und Ludwigs Schenkungen, darauf der traurigen Bürgerkriege und der Theilung des Reichs, sowie des Aufkommens des Nominoi, der, ein armer Bauer, durch Auffindung eines grossen Schatzes und durch Trug zur Macht gelangt, die innere Zwietracht im Frankenreiche benutzt und in dasselbe plündernd einfällt. Auch von dem Kloster verlangt Nominoi Unterwerfung und als diese verweigert wird, übergibt er es den Flammen. Der Schutzheilige desselben, Florentius straft ihn aber alsbald durch Lähmung. Hiernach wird noch erzählt, wie Karl das Kloster, es 316 wiederherzustellen, beschenkte. Mit einer Aufforderung zur Freude zum Gesange und dem Anruf des Heiligen endigt das Lied, das trotz seines, wenn man von dem Wunder des heil. Florentius absieht, ganz profanen Charakters auch in der Klosterkirche – wohl nur zum Theil wenigstens – gesungen sein soll. S. Du Méril p. 259, Note 5.

Genauer datirbar ist noch eins dieser Gedichte, das sich auf ein Ereigniss des Jahres 871 bezieht, und sehr bald nach demselben verfasst sein muss. Es ist ein Abecedarius in trochäischen Tetrametern Du Méril a. a. O. p. 264 ff. – Dümmler, N. A. S. 154., worin das von der Stadt Benevent an Kaiser Ludwig II. im genannten Jahre verübte Verbrechen der Welt verkündet wird, wie denn das Gedicht mit der Strophe beginnt: Höret alle Enden der Erde mit Abscheu und Trauer, welches Verbrechen von der Stadt Benevent begangen wurde: Ludwig den heilig-frommen Kaiser nahmen sie gefangen.         Audite omnes fines terrae orrore (Du M. errore) cum tristitia,
        Quale scelus fuit factum Benevento civitas!
        Lhuduicum comprenderunt sancto-pio-augusto.
In der That hatten sich die Beneventaner, an ihrer Spitze der Herzog Adalgisus, des Kaisers am 13. August bemächtigt und gaben ihn erst am 17. September frei. Dies Ereigniss S. über dasselbe Dümmler, Gesch. des ostfränk. Reichs I, S. 711 ff. machte um so grösseres Aufsehen im ganzen Frankenreiche, als Ludwig eben die Saracenen Italiens mit grossem Erfolge bekämpft hatte. Das unter dem Einfluss der Volkssprache im Ausdruck rohe, unvollständig erhaltene Es geht nur bis zur Strophe M, die, soweit man sieht, noch keinen Abschluss bietet; auch fehlt die Strophe H, während I irrig ans Ende gesetzt, des dritten Verses entbehrt. und durch schlechte Ueberlieferung in seinem Text entstellte Gedicht ist zum guten Theil unverständlich. Eine gewisse dramatische Lebendigkeit erhält es durch die eingeschalteten Reden, wie der Beneventaner und des Kaisers.

Mindestens dieser, wenn nicht schon der vorausgehenden Periode gehören eine Anzahl rythmischer Gedichte an, welche Dümmler in der Zeitschrift für deutsches Alterthum, Neue Folge Bd. XI, S. 261 ff., zum Theil zum ersten Male, publicirt 317 hat, mit der Vorbemerkung dass sie »dem Alter der Ueberlieferung nach spätestens in das neunte, vielleicht schon in das achte Jahrhundert gesetzt werden müssen.« Vgl. dazu meinen Aufsatz: Zu den carolingischen Rythmen, in derselben Zeitschr. N. F. Bd. XII, S. 144 ff.

Das erste dieser Gedichte, hier Parabel genannt, ist ein Zahlenräthsel, in sechs Strophen von je fünf Kurzzeilen. Das Räthsel ist an eine Erzählung geknüpft, die zu ihm in keinem inneren Zusammenhang steht und auf welche sich die Bezeichnung »Parabel« zunächst allein bezieht. Ein Knabe jagt einen Eber, er tödtet ihn, aber vor ihm zurückweichend, tritt er auf eine Natter, die zwar hierdurch auch stirbt, dem Knaben aber noch eine tödtliche Wunde beibringt, so dass sie also alle sich »gegenseitig den Tod geben«. Die Mutter ruft dann bei der Nachricht unter Thränen aus: Wenn du, mein Sohn, noch so lange gelebt hättest, als du gelebt hast, und noch einmal soviel und dazu die Hälfte und noch ein Jahr, so hättest du 100 Jahr gelebt. Die Auflösung ist: der Knabe war 16½ Jahr alt, nämlich: 16½ × 2 : 33 × 2 : 66 + 33 + 1 = 100.

Das zweite Gedicht ist ein scherzhaftes Spottlied auf einen Abt von Angers, beziehungsweise auf diese Stadt selbst, in trochäischen catalectischen Trimetern, fünf Strophen von fünf Zeilen, wovon die letzte ein freier gebildeter Refrain, worin Bacchus (Liber) gepriesen wird. So ist das Spottlied zugleich ein Trinklied. Die Andegaver, heisst es da, sollen einen Abt haben, der noch mehr trinkt, als alle andern Andegaver. Er lässt nicht Tag, noch Nacht vorübergehn, dass er nicht satt vom Weine schwanke, wie ein Baum im Winde. Sein Leib ist unverweslich, mit Wein, wie mit Aloe, ganz gewürzt; und wie mit Myrrhe Leder gebeizt wird, so wird seine Haut mit Wein gefärbt. Nicht mit einem Becher schöpft er aus dem Fasse sacht, sondern mit Töpfen und zwar über die Massen grossen. An den denkt Andegavium und gesellt sich keinen solchen mehr, der so immer Wein kann schlürfen; seine Thaten lasst euch, Bürger, malen. Eia, eia Lob, eia Lob dem Bacchus sagen wir!

Die beiden folgenden Gedichte behandeln alttestamentliche epische Stoffe zum Theil im strengen Anschluss an ihre 318 Quelle, das eine die Erzählung von Judith und Holofernes in trochäischen Tetrametern (nach Judith c. 2 ff.) Schon bei Du Méril a. a. O. p. 184 f., aber unvollständiger., das andre die von der Esther, ein Abecedarius in iambischen Trimetern (nach Esther c. 1–9). Das erste Gedicht ist nur fragmentarisch erhalten, d. h. der Anfang und das Ende, während das mittlere Hauptstück fehlt. Das erste Stück (zwölf Strophen) schliesst mit der Belagerung Bethuliens, und zwar mit dem Abschneiden des Wassers durch Holofernes c. 7, v. 11. Das Schlussstück (ein Vers und sechs Strophen) beginnt mit der Entdeckung des Mordes c. 14, v. 14 und erzählt dann den Sieg der Juden und dessen Feier. Die beiden letzten Strophen aber enthalten die Nutzanwendung für die Christenheit: jener Gott, heisst es da, der die übermächtigen Assyrer schlug, mag auch die ungläubigen Heiden vernichten         Ille deus qui percussit castraque Assyrios,
        In virtute sua magna et in forte brachio,
        Perdat gentes paganorum domino incredulas.
; woran sich dann ein Gloria auf die Dreieinigkeit schliesst. – Obgleich die biblische Erzählung in dem Gedichte natürlich nur im Umriss wiedergegeben ist, so findet sich doch hier und da im Ausdruck selbst einzelnes entlehnt. Die Darstellung ist übrigens dramatisch lebendig und schreitet rasch fort.

Das andre Gedicht erzählt Es beginnt mit der folgenden Strophe:
        Ampla regalis Susis dicta civitas,
        In qua regnare Asuerus ceperat,
        Regnans ab India usque Aethiopiam
        Centum viginti et septem provincias.
, noch mehr die biblische Vorlage kürzend, die Vermählung des Assyrischen Königs Assuerus mit Esther, den Conflict seines Veziers Aman mit der Esther Oheim Mardochaeus und den Sturz des ersteren durch die Königin und damit die Rettung der von jenem mit Vernichtung bedrohten Juden, die nun selbst an ihren Feinden Rache nehmen dürfen. »Christus, der die Gebete erhört, rettete sein Volk vom Verderben.« »Ruhm ihm dem unbesiegten Könige!« – So werden auch hier die Juden gleichsam als die Vorfahren der Christen gefeiert. – Beide Gedichte erhalten so durch ihren Schluss einen etwas geistlichen Charakter, der 319 aber doch nicht, am wenigsten beim zweiten, an einen kirchlichen Gebrauch denken lässt.

Das fünfte Gedicht behandelt einen neutestamentlichen Stoff, die Parabel vom Reichen und Lazarus, nach Lucas c. 16, v. 19 ff., in trochäischen Tetrametern. Es schliesst sich zum grossen Theil so unmittelbar seiner Vorlage an, dass die Worte so viel als möglich beibehalten sind, ja dass ganze Halbverse Wort für Wort der Bibel entlehnt sind. So im Anfang Homo quidam erat dives vgl. l. l. v. 19, Str. 5 Mortuus est autem dives vgl. v. 22 (wo allerdings noch et vor dives eingeschaltet); oder nur mit Umstellung: Str. 3 ulcera eius lingebant vgl. v. 21: et lingebant ulcera eius. Die Strophe 11 ist in diesem Gedicht nach Str. 8 zu stellen.

Das letzte der Gedichte ist inhaltlich und metrisch von besonderem Interesse. Auf die eigenthümliche Versbildung komme ich weiter unten zurück, hier sei nur bemerkt, dass es aus 44 Strophen von je fünf Langzeilen besteht. Es ist die älteste poetische Behandlung der im Mittelalter so beliebten, in den verschiedenen Nationalliteraturen in Prosa wie in Versen, auch in mannichfach veränderter Gestalt bearbeiteten Legende vom heil. Eustachius. S. Acta S. S. Boll. Sept. T. VI p. 123 ff., und über die Verbreitung der Legende in der mittelalterlichen Literatur: Dos obras didácticas y dos leyendas sacadas de manuscritos de la Biblioteca del Escorial; dalas á luz la Sociedad de Bibliófilos españoles. (Dr. Hermann Knust ist der Herausgeber.) Madrid 1878. p. 107 ff. u. vgl. p. 87 ff. Er hiess als Heide Placidas und war nach unserem Gedicht unter Trajan Magister militum, reich und tapfer, aber auch ein Freund der Armen. Ein »grosser Waidmann und Bogenschütze « sah er einst auf der Jagd einen glänzend weissen Hirsch; er verfolgt ihn lange, da erblickt er den Hirsch die Spitze eines Felsen erklimmen und zwischen seinen Geweihen das Bild des gekreuzigten Christus, und vernimmt eine Stimme, die ihm (wie einst dem Saulus) zuruft: Warum verfolgst du mich? Ich bin Jesus, an den du zwar nicht glaubst, den du aber in guten Werken zu verehren scheinst. Placidas fragt erschrocken, was er thun soll. Er wird an einen christlichen Priester gewiesen. Hierauf lässt er mit seinem ganzen Hause sich taufen, und erhält seinen christlichen Namen, der in unserm Gedichte Eustasius lautet. In den Wald zurückgekehrt, hört er wieder die Stimme 320 des Herrn, die ihm verkündet, er werde viel Unglück haben, schliesslich aber die Märtyrerkrone erhalten. Nun werden seine Leiden erzählt. Pestilenz befällt sein Haus, Räuber stehlen sein Vermögen; nichts bleibt ihm von aller seiner Herrlichkeit übrig als sein Weib und zwei Knaben. Weil er den Nachbarn ein Spott, zieht er mit ihnen heimlich weg gen Aegypten. Der Schiffer aber, der sie über das Meer setzt, raubt das schöne Weib und Eustasius entgeht mit seinen Kleinen kaum dessen Nachstellungen. Mit ihnen kommt er zu dem Ufer eines Flusses, er trägt den einen Knaben hinüber und kehrt um, den andern zu holen; als er mitten im Flusse, sieht er einen Löwen den einen, einen Wolf den andern rauben. Die Kinder werden später aber gerettet von Hirten und Bauern. Der verzweifelte Vater wollte sich ertränken, da gedachte er des Worts des Herrn. Weinend zieht er nach Aegypten weiter, wo er Feldhüter wird. Zwölf Jahre vergehen: da fallen die Barbaren in Pannonien ein; der Kaiser sammelt ein Heer und erinnert sich nun des Placidas, der es führen soll. Er sendet darauf in alle Lande Soldaten aus, ihn aufzusuchen. Zwei entdecken ihn, obwohl er sich verläugnete, an einer Narbe. Zurückgeführt, wird er vom Kaiser mit Schätzen überhäuft und an die Spitze des Heeres gestellt. Als er sich den Grenzen Pannoniens nähert, strömen von allen Seiten ihm junge Krieger zu. Darunter sind auch seine zwei Söhne, die sich gegenseitig zu erkennen geben und zwar in Gegenwart ihrer Mutter, die sie durch ein Fenster belauscht – denn der Schiffer wohnt dort. Die Mutter will dann dem Feldherrn ihre Gefangenschaft klagen, dabei erkennt sie ihren Gemal, und die ganze Familie findet sich also wieder. – Der Name des Placidas aber schlägt schon allein die Barbaren in die Flucht. Dem zurückkehrenden Sieger kommt der »Cäsar gewordene« Hadrian entgegen. Eustasius aber verweigert zugleich mit den Seinigen den Göttern zu opfern, indem sie sich als Christen bekennen. Sie werden darauf einem Löwen vorgeworfen; der jedoch beleckt nur die Füsse der Heiligen. Nunmehr werden sie in einem ehernen Stier verbrannt, nachdem Eustasius Gott gebeten, ihren Leibern ein gemeinsames Begräbniss zu gewähren. Diese Bitte wird erfüllt, und ihr Märtyrthum erwirbt ihnen die Gemeinschaft mit Christus.

Noch gehört diesem Zeitabschnitte ein merkwürdiges 321 rythmisches Gedicht an, das einen Stoff aus dem Alterthum behandelt, der einen der Hauptsagenkreise der späteren mittelalterlichen Epik bildet. Es ist ein, wie es scheint, nur fragmentarisch erhaltener Abecedarius in trochäischen catal. Tetrametern Er geht nur bis zum Buchstaben J. – Herausgeg. von Zarncke: Ueber das Fragment eines lateinischen Alexanderliedes in Verona. In den Berichten der k. sächs. Ges. d. Wiss. Philol. hist. Cl. 1877. Bd. 29, S. 57 ff., welcher Alexander den Grossen auf Grund der aus dem Orient überlieferten Sage besingt. Alexander wird hier aber nicht als Kriegsheld, als Besieger des Orients, sondern als kühner Reisender gefeiert, der die ganze Welt, Länder wie Meere durchzogen. Dies besagt schon die erste Strophe:
        Alexander puer magnus circumivit patriam
        Usque ad mare oceanum, civitates, insulas,
        Ante [quam] Christus fiat natus ex Maria virgine.
Patria
hat hier, wie auch sonst im Mittelalter die Bedeutung von terra , und ist daher nicht zu ändern.
Er ist auch der Sohn eines Philisters und einer Bethanierin; von seiner königlichen Herkunft und Stellung ist nirgends die Rede. Nur Reisewunder werden berichtet. So besucht er das in Finsterniss begrabene Land, aus dem die Edelsteine stammen Vgl. Zacher, Pseudocallisthenes, Halle 1867. S. 141.; in der Wüste fängt er ein Thier, halb Pferd, halb Stier – eine Erinnerung an den Bucephalus; er tödtet zahllose wilde Bestien; und macht die Luftfahrt mit den Greifen, als er hierbei in Lebensgefahr schwebt, gelobt er zu Gott, eine Stadt zu bauen, da, wo er herabkäme. Dort gründete er in der That Alexandria. Dies ist der Inhalt des Stücks.

 

Wenn wir nun die rythmische Profandichtung dieser Periode zugleich mit der der vorausgehenden hier überblicken, so finden wir einmal unter den Verfassern die verschiedensten Nationalitäten vertreten: Romanen und Germanen, letztere theils rein, theils romanisirt, und Iren. Iren sind: der Hibernicus exul und Sedulius Zu ihnen gesellt sich auch noch Dicuil, s. das letzte Kapitel.; reine Germanen: Raban, Gottschalk, und vielleicht die Verfasser der Einhard beigelegten Passio und des Klagelieds auf den Abt Hug, (dazu wissen wir wenigstens von dem Angelsachsen Alcuin, dass er solche 322 Gedichte gemacht hat Dies bezeugt namentlich eine Stelle in Theodulfs Gedichten, l. III, c. 1, v. 136, wo es bei der Schilderung von der Unterhaltung an Karls Tafel (s. oben S. 79 f.) von Alcuin heisst: Et solvat numeri vincla favente ioco.); romanisirte Germanen: der Langobarde Paulus Diaconus, der Westfranke Angelbert, wohl auch der Verfasser des Spottgedichts auf Angers; Romanen: Petrus von Pisa, Paulin von Aquileja und der Venezianer, der das Schimpflied auf diese Stadt dichtete. (Ausserdem sahen wir, dass in Spanien die rythmische Poesie überhaupt und lange Zeit allein gepflegt ward S. oben S. 300, Anm. 3 und S. 301, Anm. 4.). Die uns bekannten Autoren sind Gelehrte oder Kleriker, alle aber zeigen mehr oder weniger wissenschaftliche Bildung. Wir machen ferner die Beobachtung, dass einzelne dieser rythmischen Dichtungen keinen volksmässigen Inhalt haben, auch nicht an das allgemeine Publikum sich wenden, wie der Wechselgesang des Paulus Diaconus und Petrus von Pisa, die Gedichte der beiden Iren und die Lieder des Gottschalk. Hier erscheint denn auch die populäre rythmische Form zum Scherz angewandt, wie ja auch Alcuin die Tafelrunde Karls gerade mit solchen Gedichten unterhielt. Von diesen Gedichten exclusiven Charakters absehend, können wir in Bezug auf den Inhalt folgende Kategorien unterscheiden: 1)  Schlachtlieder, so das auf Pippins Sieg über die Avaren und das auf die Schlacht von Fontanetum, das erstere ein Triumphlied, das andre ein Klagelied; 2)  Planctus, Klagelieder, so das auf den Tod Erichs, Karls, Hugs, auf den Fall Aquileja's; 3)  Schimpflieder, wie die gegen Benevent und Aquileja und gegen den Abt von Angers gerichteten; 4)  erzählende Gedichte, wie die Legenden oder die biblische Geschichte behandelnden, sowie das Alexandergedicht und das auf die Zerstörung von Mont-Glonne, wozu denn auch das Gedicht des Raban und die das Räthsel enthaltende Parabel, sowie das Gedicht des Paulus A principio seculorum zu rechnen sind, welches letztere allerdings mehr aufzählt als erzählt.

Betrachten wir nun die in diesen Gedichten angewandten Versarten, so findet sich am häufigsten der aus dem trochäischen Tetrameter catal. hervorgegangene rythmische Vers, der also nach der vierten Senkung eine Cäsur hat, welche die 323 Langzeile in zwei Hemistichen zerlegt; er erscheint, wie in der christlichen Dichtung schon bei Prudentius Cathemerin. 9, Peristeph. 1, s. Bd. I, S. 249 u. 252., zunächst zu dreizeiligen Strophen verbunden, die zu sechszeiligen werden können, wenn die Hemistichen als selbständige Verse nicht bloss geschrieben, sondern auch – und namentlich im Gegensatz zu den Langzeilen – durch den Reim gebunden werden. Letzteres kommt aber hier nur in ein paar Gedichten und auch da nur ausnahmsweise vor. In dem Lied auf die Schlacht von Fontanetum, z. B.:
        Gramen illud ros et imber
        Nec humectet pluvia,
        In quo fortes ceciderunt
        Proelio doctissimi;
        Plangent illos qui fuerunt
        Illo casu mortui.

Der Reim der Kurzzeilen im Gegensatz zu den Langzeilen findet sich hier auch:
        Ima vallis retrospexi
        Verticemque iugeri
        Ubi suos inimicos
        Rex fortis Hlotharius
                –         –

Ebenso in dem Lied auf Pippins Sieg Str. 2:
        Multa mala iam fecerunt
        Ab antico tempore.
        Fana Dei destruxerunt
        Atque monasteria,
        Vasa aurea sacrata,
        Argentea, fictilia.
In dieser Versart sind verfasst einmal die Gedichte der ersten Kategorie, und mit Recht: war doch der trochäische Tetrameter catal. das Versmass der römischen Soldatenlieder und noch Prudentius, wie ich früher zeigte, sich dessen bewusst. Und so gehen denn auf diese Versart später auch die Redondillen der spanischen Romanzen zurück. – Und wie jene Soldatenlieder auch Spottlieder waren, so finden wir in dieser populären Versart auch die beiden ersten Gedichte der dritten Kategorie; nicht minder sind viele der vierten in ihr verfasst, so die dem Einhard beigelegte Passio und zwei der biblischen Erzählungen (Judith und Lazarus), wie das Gedicht auf Alexander und das A principio . Dazu kommt noch der Wechselgesang des Petrus und Paulus. – 324 Beachtenswerth ist noch, dass gerade diese Versart für Abecedarien beliebt erscheint: so sind solche das Gedicht Angelberts, die beiden zuerst genannten Schimpflieder und das Alexandergedicht, während A principio ein Acrostichon. Zarncke macht bei dem Alexandergedicht (a. a. O. S. 59) auch schon darauf aufmerksam. Zu seinen Hinweisungen lässt sich jetzt noch hinzufügen von den »Weiteren caroling. Rythmen«, die Dümmler Zeitschr. f. d. Alterth. N. F. XII, S. 151 ff. veröffentlicht hat, No. 1, 3 und 4.

Der trochäische Rythmus musste sich für die volksmässige lateinische Dichtung von Beginn dadurch empfehlen, dass hier Ictus und Wortaccent leichter zusammenfielen. Und so finden wir denn in ihm auch eigenthümliche Versbildungen. So ist das Spottlied auf den Abt von Angers in einem Rythmus verfasst, der einem trochäischen catalectischen Trimeter entspricht, mit der Cäsur nach der zweiten Senkung. Das Schema ist – indem wir die Hebung hier immer durch das Zeichen der Länge, die Senkung durch das der Kürze bezeichnen:
        – ᴗ – ᴗ | – ᴗ – ᴗ – ᴗ –
Ich gebe als Beispiel die erste Strophe:
        Andecavis abbas esse dicitur,
        Ille nomen primum tenet hominum,
        Hunc fatentur vinum velle bibere
        Super omnes Andecavis homines.
        Eia eia eia laudes, eia laudes dicamus Libero.

Eine andre Auffassung des Verses rücksichtlich der Cäsur, wie sie Bartsch bei ähnlichen späteren lateinischen Versen in seinem interessanten Aufsatz: Ein keltisches Versmass im Provenzal. und Französ. (Zeitschr. f. roman. Philol. Bd. II, S. 195 ff.) darlegt, scheint mir hier nicht wohl zulässig, schon im Hinblick auf v. 1 der 3. Strophe: Iste gerit corpus inputribile.
Es sind Strophen von vier solchen Versen, an die sich noch eine Refrainzeile anschliesst, die einen ganz irregulären rythmischen Charakter hat.

Höchst merkwürdig ist die trochäische Versart, worin die zwei rythmischen Gedichte der beiden Iren S. oben S. 58 und S. 196, Anm. 3. und diese allein verfasst sind, es sind Langzeilen, deren Hemistichen einem catalectischen trochäischen Dimeter entsprechen. Das Schema ist:
        – ᴗ – ᴗ – ᴗ – | – ᴗ – ᴗ – ᴗ –
Dieser Rythmus ist nämlich der irischen Dichtung entlehnt. Und wie in ihr diese Langzeilen in der Regel paarweise gereimt 325 werden, so auch in dem Gedichte des Hibernicus exul Irisch:
        a n- dorigne do fertaib | ní fail dorurme co cert
        amra ro gab prainn Lugdach | trenfer di dé gaib a nert.

Hibernic. exul:
        Fer salutem Caesari | ac suis agminibus,
        Gloriosis pueris | sacrisque virginibus.

Vgl. Bartsch a. a. O. S. 218, der die irischen Beispiele Windisch verdankt.
; seltener erscheint in ihr der Reim der Hemistichen an der Stelle des der Langzeilen, dieser Reimweise begegnen wir, wenn auch nur bei einigen Versen, in dem Gedichte des Sedulius. Irisch:
        ro bad imnain lá mad fír | ricfed Cuchulaind no thir
Sedulius:
        Ingentesque bachones | et cornuti multones
        Multiplicesque gazae | Christi dono collatae.

Auch in den beiden Liedern Gottschalks Vgl. oben S. 169. findet sich der trochäische Rythmus, in dem einen durchaus, in dem andern grösstentheils. Der Grundvers in dem ersteren ( O Deus miseri) ist der trochäische Dimeter. Das Versschema der siebenzeiligen Strophe siehe unten, die zwei ersten und der letzte Vers wiederholen sich in allen Strophen, und alle Verse in sämmtlichen Strophen reimen in i. Das Schema ist:
        – ᴗ – ᴗ –
        – ᴗ – ᴗ – ᴗ
        – ᴗ – ᴗ – ᴗ – ᴗ
        – ᴗ – ᴗ – ᴗ
        – ᴗ – ᴗ – ᴗ – ᴗ
        – ᴗ – ᴗ – ᴗ
        – ᴗ – ᴗ – ᴗ –
Die erste Strophe lautet:
        O Deus miseri
        Miserere servi!
        Ex quo enim me iussisti
        Hunc in mundum nasci,
        Prae cunctis ego amavi
        Vanitate pasci.
        Heu quid evenit mihi!

Im ersten Vers ist Deus offenbar einsilbig zu lesen, wie es so öfters in der rythmischen Poesie gebraucht erscheint.
In dem zweiten Liede ( O quid iubes pusiole), das aus sechszeiligen Strophen besteht, sind die beiden ersten Verse eine Art rythmisch glyconischer, von der Cäsur abgesehen, die folgenden trochäische Dimeter.         – ᴗ – ᴗ | ᴗ – ᴗ –
        – ᴗ – ᴗ | ᴗ – ᴗ –
        – ᴗ – ᴗ – ᴗ – ᴗ
        – ᴗ – ᴗ – ᴗ – ᴗ
        – ᴗ – ᴗ
        – ᴗ – ᴗ – ᴗ –
Die erste Strophe lautet:
        O quid iubes, pusiole?
        Quare mandas, filiole,
        Carmen dulce me cantare,
        Cum sim longe exul valde,
        Intra mare?
        O cur iubes canere?
326 Hier wird nur der letzte Vers in allen Strophen als Refrain wiederholt. Aber auch hier findet Durchreimung durch alle Strophen statt, indem sämmtliche Verse des Gedichts in e reimen. Die Fülle des Reimes in diesen Gedichten, die schon ganz den Charakter des deutschen Liedes haben, ist höchst beachtenswerth, und werde ich bei der deutschen Dichtung dieser Periode später darauf zurückkommen. Der Reim ist dabei öfters ein erweiterter, indem er sich nicht bloss auf die auslautende Silbe, selbst wo diese den Ton hat, sondern auch auf vorausgehende erstreckt. Dass die verschiedenen Arten desselben sich ebenso schon in dem metrischen Vorwort der Epistel Gottschalks an Ratramnus finden, ist bereits früher bemerkt worden. S. oben S. 167 und 169.

Unter den iambischen Rythmen erscheint hier am gewöhnlichsten gebraucht die dem iambischen acat. Trimeter entsprechende Versart, welche nach der dritten Senkung die Cäsur hat. Das Schema ist also:
        ᴗ – ᴗ – ᴗ | – ᴗ – ᴗ – ᴗ –
In ihr sind sämmtliche Gedichte der zweiten Kategorie, die Planctus, geschrieben und auch eine der biblischen Erzählungen (Esther); doch ist eine Verschiedenheit in der Strophenbildung zu bemerken. Nur in zweien dieser Gedichte erscheinen die Langzeilen allein, in der Klage um Erich zu Strophen von fünf, in der Esther von vier Versen verbunden. Die erstere Strophenbildung begegnet uns beim quantitativen iambischen Trimeter schon in zwei Gedichten des Prudentius Cathemer. VII und Peristephan. X (der Passio des Romanus). – Die Planctus auf Aquileja und Hug sind auch in Strophen von vier Versen, von denen der letzte aber eine Kurzzeile ist, 327 welche sich als rythmischer Adonius darstellt. Ursprünglich wohl nur das erste Hemistich war; durch die Vertauschung des ersten Jambus mit einem Trochäus entstand aus: ᴗ – ᴗ – ᴗ: – ᴗ ᴗ – ᴗ. Jene Vertauschung ist in diesem Rythmus überhaupt häufig; einzelne Verse zeigen noch den ursprünglichen Charakter, z. B. im Planctus auf Aquileja Str. 15: ad mansionem. Vgl. oben S. 314 Anm. 2. Das Klagelied auf Karls des Grossen Tod ist in Strophen von zwei Langzeilen und einer Refrainkurzzeile. Heu mihi misero , oder Heu me dolens plango . (Vgl. oben S. 312 Anm. 2.) So ist die Strophenbildung in der Ausg. von Pertz; in der von Du Méril dagegen folgen die Refrainzeilen erst nach vier Langzeilen, so dass die Strophen dort fünfzeilige sind.

In rythmischen iambischen Dimetern sind zwei der erzählenden Gedichte verfasst, das des Raban und das von der Zerstörung von Glonna; im ersteren sind diese Verse zu sechszeiligen Strophen, im zweiten zu vierzeiligen verbunden. Beide sind gereimt, in Rabans Gedicht ist der gepaarte Reim durchgeführt Z. B. Str. 3:
        Ut tuam laudem famine
        In primis possim dicere,
        Magnam miram ac praeclaram
        Digna voce iustissimam;
        Meaeque sim miseriae
        Compunctus memor ultimae.
, nur dass mitunter gleiche Reimpaare auf einander folgen; in dem andern herrscht der Monorim vor S. ein Beispiel oben S. 315 Anm. 3., und derselbe Reim, der alle Verse der Strophe bindet, erstreckt sich auch über mehrere, ja eine ganze Reihe von Strophen: so lauten alle Verse der sechs ersten Strophen in  a, der sechs folgenden in  us aus, danach tritt aber ein öfterer Wechsel ein, und auch mitunter Reimpaare.

Ganz eigenthümliche iambische Rythmen zeigen die Parabel und die Legende des Placidas. Das Schema des ersteren Gedichts ist: ᴗ – ᴗ – ᴗ ᴗ – ᴗ –; im dritten Fusse also eine Doppelsenkung.         Audite versus parabole
        De quodam puero nobile:
        Dum iret in solitudine
        Aprum cum canibus querere,
        Invenit eum celeriter.
Von einer bestimmten Cäsur ist bei dieser Kurzzeile so wenig, als bei dem rythmischen iambischen 328 Dimeter die Rede, eben weil es Kurzzeilen sind. Fünf Verse bilden eine Strophe; der Reim findet sich nur sporadisch. – Noch merkwürdiger ist der Rythmus des Placidas. Er stellt sich folgendermassen dar:

ᴗ – ᴗ – ᴗ – ᴗ | ᴗ – ᴗ – ᴗ –

bzw.

ᴗ – ᴗ – ᴗ ᴗ – ᴗ | ᴗ – ᴗ – ᴗ –;

im dritten Fusse kann also eine Doppelsenkung eintreten, ja sie tritt sogar ganz gewöhnlich ein, doch nie, wenn im Fusse vorher eine schwebende Betonung ist, um eine dreisilbige Senkung zu vermeiden. Die schwebende Betonung zeige ich durch einen Gravis an:
        Dùm per spàcia múlta | post éum cúrrerét,
        Ascéndit cérvus in súmmum | saxórum vérticém.
        Placídas dúm perpensáret | quid íllic fácerét,
        Vìdit in córnibus éius | crùcis imáginém
        Et ínter córnua púlcram | Chrìsti effígiém.
Ueber die griechische Betonung der Eigennamen s. meinen Aufsatz.
Fünf Verse bilden auch hier eine Strophe, der Reim findet sich hier öfters, aber ganz willkürlich und regellos, die in der Anmerkung mitgetheilte Strophe ist darin durchaus nicht massgebend.

 


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