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Elftes Kapitel.

Hincmar von Reims.

In dem Streite über die Frage der Prädestination, welche die Theologen Westfranciens noch mehr als die der Auffassung des Abendmahls beschäftigte, spielt eine der ersten Rollen, als Hauptgegner des Gottschalk, der Erzbischof Hincmar Hincmari, Rhemens. archiepisc., opera omnia accurante Migne. 2 Bde. Paris 1852. ( Patrologia lat. T. 125 u. 126). – » Hincmari, archiep. Rhemens., opera, cura et studio J. Sirmondi. 2 Bde. Paris 1645. fol. – – v. Noorden, Hinkmar, Erzbischof von Rheims. Ein Beitrag zur Staats- und Kirchengeschichte des westfränk. Reichs. Bonn 1863. von Reims. Er ist eine der bedeutendsten historischen Persönlichkeiten jener Zeit, ein Mann viel mehr der That, als der Feder, 248 so viel er auch geschrieben hat, wie denn auch weitaus die meisten seiner Schriften ganz reellen kirchlichen oder politischen Zwecken dienen; doch sind unter ihnen einzelne auch literargeschichtlich interessant.

Hincmar war von fränkischer Abkunft und edlem Geschlechte; er wurde um das Jahr 806 geboren und, schon als Knabe zum geistlichen Stande bestimmt, dem Kloster St. Denis übergeben. Dort erzog ihn der hochgebildete Abt Hilduin, der 822 Erzkanzler Ludwigs des Frommen wurde. S. über ihn weiter unten u. vgl. oben S. 147. Ihm folgte Hincmar an den kaiserlichen Hof, dessen Einrichtungen, wie eins seiner Werke zeigt, er so genau kennen lernte. Dort wurde dem noch sehr jugendlichen Manne, der sich dem frommen Ludwig auch durch seine asketische Gesinnung empfahl, 829 der ehrenvolle und bedeutende Auftrag, allerdings im Verein mit Hilduin und andern Prälaten, das Kloster St. Denis durch Einführung der Ordnung des h. Benedict zu reformiren. Hincmar, bisher nur Canonicus, wurde jetzt selbst Mönch. Obgleich er aber sich der besondern Gunst Ludwigs des Frommen und nicht minder der Karls des Kahlen erfreute, so beginnt er doch erst nach dem Vertrage von Verdun eine Rolle im öffentlichen Leben zu spielen. Bis dahin scheint er vornehmlich gelehrten theologischen Studien sich gewidmet und in dieser Zeit seine ausgebreitete Kenntniss der Kirchenväter erworben zu haben. Nachdem er schon 844, in welchem Jahre er noch Presbyter war, ein paar Klöster von Karl verliehen erhalten, wurde er das Jahr darauf zum Erzbischof von Reims erhoben, welcher angesehenste und mächtigste Bischofsstuhl Westfranciens längere Zeit unbesetzt geblieben war.

Die ausserordentliche Wirksamkeit, die Hincmar in dieser Stellung bis zu seinem Lebensende (882) nicht bloss unter Karl dem Kahlen, sondern auch unter seinen schwachen Nachfolgern, in Kirche und Staat entfaltet hat, können wir hier im einzelnen nicht verfolgen. Er war ein Mann von seltener Willenskraft und Energie, aber herrisch und leidenschaftlich, der für die Rechte seiner bischöflichen Metropolitangewalt gegen das Papstthum wie gegen das Königthum mit gleicher Kühnheit in die Schranken trat, und seine kirchlichen und religiösen Ansichten gegen alle Welt unermüdlich bis zum 249 äussersten zu vertheidigen wusste, der aber mit vieler Klugheit, ja Schlauheit ausgerüstet, auch in der Wahl seiner Mittel nicht verlegen war und sich manche Zweideutigkeit zu Schulden kommen liess. Andrerseits aber hat er, den Dümmler Gesch. d. ostfränk. Reichs I, S. 246. die leitende Seele der westfränkischen Politik nennt, die durch sein Amt ihm verliehene bedeutende Macht auch zur Stärkung des Königthums und zur Befestigung und Erweiterung des westfränkischen Reiches, so viel als dies damals möglich war, mit seltener staatsmännischer Umsicht verwandt.

Trotz seiner grossen praktischen Thätigkeit hat Hincmar, wie bemerkt, viel geschrieben, meist allerdings kürzere Arbeiten, und zwar reine Gelegenheitsschriften, von denen manche überhaupt keinen literarischen Charakter haben, wie Synodalschreiben, Denkschriften, bischöfliche Briefe und Erlasse. S. das »Verzeichniss der Schriften und wichtigeren Briefe Hinkmars« bei Noorden S. 403 ff. Es sind nicht weniger als 125 Nummern. Auch sein umfangreichstes, im Anfange der sechziger Jahre verfasstes Werk: De praedestinatione Dei et libero arbitrio interessirt uns hier nur indirect. In diesem sehr weitläufigen und weitschweifigen Opus, das auch zum grössten Theile eine blosse Sammlung von Stellen aus den Kirchenvätern ist, sucht Hincmar noch einmal sein ganzes Auftreten in diesem kirchlichen Streite zu rechtfertigen, insbesondere aber die Beschlüsse der Synode von Quiersy (853) zu vertheidigen, die von ihm inspirirt waren, und durch die zwei Jahre darauf folgende Synode von Valence verworfen wurden. In jenen Beschlüssen war nur eine einfache Prädestination, die einerseits als Gnade, andrerseits als Gerechtigkeit erscheint, angenommen, und indem zwar also die Bedeutung der Gnade zugegeben wurde, doch der freie Wille zum Guten im Menschen ausdrücklich anerkannt, nicht minder, dass Gott alle Menschen selig machen wolle und Christus für alle gelitten habe. Diesem Werke Hincmars war schon eine andre, speciell gegen die Synodalbeschlüsse von Valence von ihm gerichtete Schrift vorausgegangen, die uns aber nicht mehr erhalten ist. Dass aber Hincmar gerade an dieser dogmatischen Frage so ausserordentlichen Antheil nahm, lag, abgesehen von seinem persönlichen Verhältnisse zu Gottschalk, hauptsächlich 250 in der hervorragenden praktisch sittlichen Wichtigkeit, welche sie haben konnte, und die auch Raban so lebhaft aufgeregt hatte, denn Gottschalks Lehre konnte nur zu leicht im Volke zu einem sittlichen Indifferentismus führen. – Andre theologische Arbeiten Hincmars, worunter auch manche kirchenrechtliche, stets durch bestimmte Anlässe hervorgerufen, liegen ausser dem Kreise unserer Betrachtung. Nur einer sei hier kurz gedacht, insofern sie wenigstens indirect hier für uns von Bedeutung sein kann: es ist die um 862 verfasste Schrift De divortio Lotharii regis et reginae Tetbergae . Sie enthält nämlich einmal manches sittengeschichtlich interessante Material über das eheliche Leben in jener Zeit, nicht minder aber auch über den damals noch in Bezug auf Hexen, Zauberer, Liebestränke herrschenden Aberglauben (s. namentlich Interrog. XV); zugleich dient die Schrift aber auch recht zur Charakteristik ihres Autors, der nicht bloss diesen Aberglauben theilt, sondern auch die Gottesurtheile hier (Interrog. VI) in Schutz nimmt. Vgl. auch Noorden S. 172 ff. – Hincmar wird auch eine philosophische, an Karl den Kahlen gerichtete Schrift De diversa el multiplici animae ratione , von ihrem ersten Herausgeber Sirmond beigelegt, dem in Betreff der Autorschaft Noorden mit Gründen beistimmt (S. 109). Trotzdem scheint mir dieselbe nicht genügend beglaubigt, zumal Flodoard die Schrift unter denen des Hincmar nicht erwähnt.

Dagegen interessiren uns hier ein paar Schriften des Reimser Erzbischofs, die, mehr oder weniger von politischer Bedeutung, dem Gegenstande wie der Behandlung nach in den Bereich der allgemeinen Literatur fallen. Zwei davon sind auf Karls des Kahlen Wunsch verfasst. Die eine: De regis persona et regio ministerio ist eine Art von Fürstenspiegel, wie wir ihnen schon begegneten S. oben S. 110, 198 u. 227., zugleich aber, wie das bei den Schriften Hincmars gewöhnlich, mit einer besondern Tendenz verfasst. – Nach dem an den König gerichteten Vorwort soll hier von »dem was zur Competenz des königlichen Amtes gehört«, gehandelt werden – – de his quae regio ministerio, vobis a Deo commisso, competere vidi, quasi scintillas micantes lumini scientiae vestrae superadieci. : zu dem Zwecke hat Hincmar was davon der heilige Geist in der Bibel und durch die katholischen Doctoren sagt, hier gesammelt; und in der That ist dies Werk nur eine solche, und gewöhnlich wörtliche, Compilation. Die Sammlung ist aber, wie Hincmar ferner im Vorwort darlegt, unter einem dreifachen 251 Gesichtspunkte vorgenommen und geordnet. Erstens nämlich wird von der Person des Königs und dem königlichen Amte im allgemeinen gehandelt; zweitens von dem Unterschiede, der bei der Begnadigung zu machen ist (d. h. wo dieselbe stattfinden dürfe), und von der Bestrafung »besonderer Personen« Et de ultione specialium personarum. Praef., die als unverbesserlich die Todesstrafe verdienen, was von manchen bestritten werde; drittens davon, dass auch nahe Verwandte, die gegen Gott, die heilige Kirche und den Staat sich vergehen, der König seines Amtes wegen nicht schonen dürfe. Diese Eintheilung in einen allgemeinen, einen besondern und einen ganz besondern Theil lässt sich allerdings in dem Werke nachweisen, indem den ersten cap. 1–18, den zweiten cap. 19–28 und den letzten cap. 29–33 bilden.

Es dünkt mir gar nicht unmöglich, dass die zuletzt behandelte Frage den Anlass zu der ganzen Schrift gegeben hat, die bisher noch keine genauere Untersuchung gefunden hat; denn es würde dann erst die eigenthümliche Eintheilung gerechtfertigt erscheinen. Man erinnert sich hier der Empörung der Söhne Karls des Kahlen Ludwig (862) und Karlmann (870), von welchen der letztere vom Vater selbst mit Blendung bestraft wurde; und war doch die Erhebung der nächsten Blutsverwandten in dem karolingischen Reiche seit Ludwig dem Frommen überhaupt etwas gewöhnliches geworden, ja sogar schon unter Karl dem Grossen versucht! Schon hierdurch war allerdings ein Anlass zur Erörterung der Frage Hincmar gegeben; aber ich möchte doch nach der Composition der ganzen Schrift eher glauben, dass eine von jenen Empörungen der Söhne Karls des Kahlen selbst die Schrift überhaupt hervorgerufen habe, deren Abfassungszeit sich vielleicht auf Grund dieser Ansicht bei genauerer Untersuchung ergeben möchte – eine Untersuchung die ich aber, wie billig, den Historikern überlasse, für welche diese Zeitbestimmung mehr Interesse als für uns hier hat. – Uebrigens lässt Hincmar auch in solchen Fällen eine Begnadigung bei wahrer Reue zu, bei einer solchen, die nicht bloss auf das Schuldbekenntniss sich beschränkt (c. 30). Diese Forderung war aber um so natürlicher, als die Rückfälle solcher Empörer in jenen Zeiten so gewöhnlich waren. Beachtenswerth ist hier die Betrachtung über die Zulässigkeit der Todesstrafe überhaupt (c. 23), ebenso die Rechtfertigung der Kriegsführung in dem 252 ersten Theile (c. 9 ff.). – Von den Kirchenvätern sind namentlich Augustin, Ambrosius und Gregor der Grosse benutzt.

Das andere an Karl den Kahlen gerichtete Buch führt den Titel: De cavendis vitiis et virtutibus exercendis . Die Anregung zu demselben gab der Umstand, dass der König von Hincmar die Epistel Gregors des Grossen an Reccared zugesandt wünschte. In ihr beglückwünscht der Papst den Westgothenkönig wegen seines Uebertritts zum Katholicismus, dankt für die ihm überschickten Geschenke und gibt Reccared einige kurze, offenbar durch dessen persönliche Verhältnisse bedingte Lebensregeln. An diesen Brief, den Hincmar zunächst mittheilt, und zwar an das, was darin über die Werke des Erbarmens gesagt ist, knüpft er sein Buch, in welchem er auch vornehmlich Gregors Schriften benutzt Seine Moralia und Homilien namentlich., unmittelbar an, indem er die Frage erörtert, in wie weit die Liebeswerke zur Tilgung der Schuld dienen können. Die wahre Reue wird dabei verlangt, welche in der Enthaltung von der Sünde sich bekundet (c. 3). Dies bildet den Uebergang zu einer Besprechung der Hauptlaster, als welche hier aufgeführt werden: avaritia, superbia, luxuria, gula, invidia, ira; bei dem letzten Laster wird noch des zelus gedacht, der aber, aus einer Tugend entsprungen, an sich nicht als Sünde zu betrachten ist. Vortrefflich ist die Schilderung der Wirkung dieser Leidenschaften auf das Aeussere des Menschen, wie beim Zorn, beim Neid; auch eine Analyse der verschiedenen Gestalt, in welcher sie erscheinen können, z. B. der Arten des Zorns ist beachtenswerth, ebenso die auch aus reicher Lebenserfahrung geschöpften Mittel eine solche Leidenschaft, wie den Zorn, zu besiegen. Wie viel freilich hier überall auf Hincmars eigene Rechnung kommt, vermag ich leider nicht zu entscheiden, denn es finden sich viele und längere Stellen wörtlich Gregor, namentlich seinen Moralien entlehnt; die Citate bei Sirmond sind aber ungenau und bei Migne nicht controlirt, ja manche davon weggelassen. Die Moralia sind aber bekanntlich ein zu kolossales Werk, um es zu diesem Zwecke durchlaufen zu können. Die Darstellung ist vielleicht gerade bei diesem Laster um so trefflicher, als der Verfasser es wohl am besten kannte; sie ist energisch, bilderreich. – Es wird hierauf noch anderer Fehler und Vergehen gedacht, wie der Verkleinerung, des Meineids, der Untreue überhaupt (c. 5): dann kehrt 253 erst der Verfasser zu den Werken der Barmherzigkeit, von denen er ausgegangen, zurück (c. 6), um ihren Werth zu bestimmen, und von der Reue zu handeln, sowie vom jüngsten Gericht und der Höllenstrafe, der Vermittelung der Heiligen und dem Hauptmittler Christus, der sich täglich für uns auf dem Altar opfert (c. 11), indem Hincmar hier in der Abendmahlslehre der Auffassung des Paschasius Radbert huldigt, dessen Wunderglauben er überhaupt theilte. So stimmt er auch in der Streitfrage über die Geburt Christi Radbert bei. S. Noorden, S. 106, Anm. 4.

Noch ist eine politische Schrift Hincmars, die nach dem Tode Karls des Kahlen verfasst und in mancher Beziehung ein Seitenstück zu der » De regis persona et regio ministerio« ist, besonders bemerkenswerth, da sie zugleich eine wichtige historische Quelle bildet. Es ist eine an die Grossen des Reichs i. J. 882 gerichtete Denkschrift Ad Proceres regni, pro institutione Carlomanni regis et de ordine palatii. , als Karlmann, der Enkel Karls, nach seines Bruders Ludwig Tode Westfrancien wieder unter einem Scepter vereinigte. Damals haben, wie der Eingang der Schrift besagt, die Grossen Hincmar aufgefordert, »zur Unterweisung des jungen neuen Königs und zur Wiederaufrichtung der Ehre und des Friedens der Kirche und des Reiches die kirchliche Ordnung und die Einrichtung des königlichen Hauses, so wie er es gehört und gesehen habe, darzulegen«. ordinem ecclesiasticum et dispositionem domus regiae in sacro palatio, sicut audivi et vidi, demonstrem. – Der König mag also erkennen, meint Hincmar, welche Verpflichtungen er jetzt hat, und den Ermahnungen des Königs der Könige gehorchen, der von ihm eine Kenntniss derselben verlangt.

Hiernach behandelt Hincmar zuerst die kirchliche Ordnung, indem er zwischen der hohen und niedern Geistlichkeit, den Pontifices und Presbytern unterscheidet, von welchen die ersteren die Nachfolger der Apostel sind, deren Stellung in der Kirche einnehmen. Die Welt wird von zwei Gewalten regiert, von der heiligen Autorität der Oberpriester und der königlichen Macht (c. 5). Indem hier dem Könige die Beobachtung der kirchlichen Gesetze zur Pflicht gemacht wird, 254 wird ihm noch besonders eingeschärft, bei der Besetzung der Bischofstühle nicht durch weltliche Rücksichten, Dienste, Geschenke oder Verwandtschaft sich bestimmen zu lassen (c. 9). Dann wird die Ernennung von solchen Grafen und Richtern gefordert, welche die Habsucht hassen und die Gerechtigkeit lieben (c. 10); woran sich noch ein paar allgemeine Regeln für alle, welche eine Herrschaft ausüben, schliessen, die wörtlich aus dem dem Cyprian fälschlich beigelegten Buche: De duodecim abusivis saeculi , c. 6, entlehnt sind. Im übrigen wird zur weiteren Belehrung auf frühere Synodalbeschlüsse und Capitularien verwiesen (c. 11).

So hat Hincmar bis hierhin den zweiten Theil seiner Aufgabe noch gar nicht erfüllt: er hat von der Einrichtung des königlichen Hauses nicht gehandelt. Er hat sich in der Beziehung nur mit der eben erwähnten Verweisung begnügt (s. c. 11); trotzdem thut er, als wenn er in der Bearbeitung der Adalhardschen Schrift bloss etwas über das Maass noch hinzugebe, indem er sich auf Luc. c. 10, v. 35 bezieht. Dies geschieht nun erst im Folgenden durch eine im Hinblick auf seine Zeit von Hincmar ausgeführte auszügliche Bearbeitung einer Schrift Adalhards: De ordine palutii , welche jedoch nicht bloss die Verwaltung der Pfalz, sondern auch die des Reiches zum Gegenstande hatte, und hiernach in zwei Abtheilungen zerfiel. Beide werden denn auch von Hincmar berücksichtigt. Von den einzelnen Hof- und Staatsämtern und ihren Pflichten, sowie von den Reichsversammlungen finden sich hier die wichtigsten Mittheilungen S. darüber Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd. 3, S. 412 ff.: ihre Schilderung erscheint zugleich aber als ein Spiegelbild für die Gegenwart, in der ebenso wohl das Pflichtgefühl der Beamten wie der Könige selbst erloschen war und an die Stelle eines festen, wohlgeordneten, gesetzmässigen Verfahrens anarchische Willkür trat. Das alte Hof- und Staatswesen wieder herzustellen, bedurfte es freilich mehr als dieser Erinnerung an seine Einrichtungen und an den ursprünglichen Charakter der überlieferten Aemter, es bedurfte vor allem tüchtiger sittlicher Persönlichkeiten, dieselben zu bekleiden. Und so fordert denn Hincmar im letzten Capitel die Proceres auf, dafür zu sorgen; denn aus der guten alten Zeit wären keine solchen Beamten mehr übrig, vielleicht aber fänden sie sich unter den Söhnen der letzteren.

255 Auch auf dem Felde der Hagiographie ist Hincmar thätig gewesen, doch auch hier nicht ohne persönliches Interesse. So hat er das Leben des Schutzpatrons der Reimser Kirche, des h.  Remigius, neu bearbeitet, auf Grund einer dem Fortunat beigelegten Vita, welche, wie Hincmar nach mündlicher und allerdings wahrscheinlicher Ueberlieferung behauptet, selbst nur eine auszügliche Bearbeitung einer älteren war, die durch diesen Auszug hernach ganz verdrängt wurde und verloren ging. Hincmar hat nun keine Mühe gescheut, die kurze, bloss zu gottesdienstlichem Zwecke verfasste Vita zu einem seines Heiligen würdigen Buche von 88 Kapiteln aufzubauschen, denn unser Autor schien den Werth der Bücher auch etwas in das Volumen zu setzen. Freilich die Art der Ausführung ist keineswegs zu rühmen. Hincmar nahm das Material, wo er es bekommen konnte, aus historischen Werken, als Gregor von Tours und den Gesta Francorum, wie aus verschiedenen zerstreuten Flugblättern offenbar legendarischer Natur Wie mit Recht Noorden vermuthet (S. 394, Anm. 2), der überhaupt hier zu vergleichen. und aus dem Munde des Volkes Verum et illa in serie digerens quae vulgata relatione percepi: quia haud longe ante nos dictum est et etiam in sanctis Scripturis, sed et in evangelica veritate comperitur: vera est lex historiae, simpliciter ea quae fama vulgante colliguntur, ad instructionem posteritatis litteris commendare. Diese Stelle ist auch im Hinblick auf die Annalen Hincmars von Interesse., und gab es – wie er selbst naiv genug eingesteht – alles zusammen ohne kritische Auswahl, und wo es möglich war, mit den eigenen Worten der Quelle, indem er auf die Buntheit des Stiles, die davon, wie er selbst zugibt, die nothwendige Folge war, keine Rücksicht nahm. Ueberdies hat Hincmar, den Werth des Buches zu erhöhen und gewiss auch zum Zwecke seiner weiteren Vergrösserung, wie er sagt, nach dem Beispiele des h. Gregor (von Tours nämlich) Denn auf diesen lässt sich wohl nur der Zusatz beziehen: qui describens sanctorum actus pravorumque casus exhortatione inde assumpta – – multa necessaria et utilia – – interposuit. Die im Druck hervorgehobenen Worte würden auf die Dialoge Gregors des Grossen nicht passen., den erzählten Wundern lange moralische Betrachtungen und allegorische Deutungen – wie bei ihm üblich im Geleite vieler Bibelcitate – öfters hinzugefügt. Bei 256 alle dem hat aber der Autor das Ziel im Auge, durch den wunderbaren Glanz, den er um seinen Heiligen verbreitet, die Bedeutung der Reimser Kirche in das hellste Licht zu setzen, wie er denn auch die politische Stellung des Remigius, sowie die ihm von Chlodwig gewordenen Schenkungen zu erwähnen nicht vergisst. S. c. 41. – Hier sei noch bemerkt, dass c. 29 der Trojanersage der Franken gedacht wird. – Auch trat Hincmar für die Identität des Areopagiten mit dem heil. Denis in die Schranken in einem Schreiben an Karl dem Kahlen v. J. 877, worin er eine Bearbeitung des Lebens des Sanctin, eines Schülers des Heiligen, gibt. S. darüber Noorden S. 397 ff.

Noch ist hier einer kleinen Schrift Hincmars zu gedenken, in welcher er eine Vision eines gewissen Bernold erzählt, eines ihm bekannten Laien seiner Parochie, welcher das Gesicht, das er am vierten Tage einer schweren Krankheit hatte, dem herbeigerufenen Priester mittheilte. Seine dem Diesseits entrückte Seele traf an einem gewissen Orte – offenbar dem Fegefeuer – eine ganze Anzahl Bischöfe (unter welchen er den bekannten Vorgänger Hincmars, Ebbo, erkennt), die bald von Hitze, bald von Kälte geplagt werden; ferner sieht er ausser andern den König Karl den Kahlen in Schmutz und Fäulniss, von Würmern verzehrt, an einem finstern Orte, in den aber die Strahlen und Düfte eines andern, glänzenden, drangen, welcher die Ruhe der Heiligen hiess; auch schaut er einen hässlichen Brunnen, der Flammen und Rauch ausspeit, und ein pechschwarzes Wasser, und Seelen, wie das Vieh von Teufeln getrieben. Die Seelen aber, denen er begegnet, senden ihn an noch Lebende, so Karl an Hincmar, um sie durch ihre Fürbitten zu befreien; diese Aufträge erfüllt Bernold seltsamer Weise auch in der Vision selbst und sieht die Erfolge derselben. – Hincmar, der nach des Presbyters Aussage die Vision aufzeichnete, und sie, offenbar in seinem persönlichen hierarchischen Interesse Karl der Kahle sagt, dass er deshalb für seine Sünden büsse, weil er Hincmars Rathschlägen nicht gefolgt sei. – Er nur kann ihn erlösen., verbreitete Quam visionem domnus Hincmarus – – per loca ubi necesse visum est exponens, ad multorum notitiam pervenire fecit. Flodoard, Hist. eccles. Rem. l. III, c. 18., hält sie für wahr, wie 257 er sagt, im Hinblick auf die älteren Visionen, die er in den Dialogen des h. Gregor, in Beda's Geschichte der Angeln, in den Schriften des heil. Bonifaz und als in seinem Zeitalter dem Wettin offenbart gelesen habe. Hiermit werden also die zu Hincmars Zeit bekannten Visionen aufgeführt, wir haben ihrer sämmtlich früher gedacht, s. Bd. I, S. 522 f., 599, 615 u. oben S. 149 ff. Auch die Vision Bernolds geht in ihren Grundzügen auf Gregors Darstellung zurück.

Nach solchen Werken sollte man nicht erwarten, Hincmar unter den tüchtigsten Annalisten seiner Zeit zu begegnen: diese seine weltliche historiographische Thätigkeit, zu welcher allerdings seine staatsmännische Begabung und Wirksamkeit ihn vorzüglich ausrüsteten, werden wir erst weiter unten im Zusammenhange mit der ferneren Geschichte der Reichsannalen überhaupt betrachten. Hincmar hat sich auch im Versemachen versucht; so haben sich denn einige Epigramme und ein längeres Gedicht in Distichen an die Jungfrau Maria erhalten, welches Mai, Classicor. auctor. e Vaticanis codd. editor. T. V, p. 452 ff. herausgegeben hat. Dasselbe ist in dogmengeschichtlicher Beziehung nicht ohne Interesse. wie denn hier auch die Geburt Christi als » utero clauso« erfolgt (v. 10) bezeichnet wird. Von Poesie ist in den Versen Hincmars, deren Sprache steif und dunkel ist, nichts zu verspüren.

 


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