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Fünftes Buch.
Die lateinische Literatur vom Tode Karls des Grossen bis zum Tode Karls des Kahlen.

Einleitung.

115 Mit dem Tode Karls des Grossen tritt zwar kein plötzlicher Verfall der literarischen Kultur ein, obgleich über ein Sinken der Studien und eine Geringschätzung derselben schon bald Klagen laut werden So von Walahfrid in seinem Vorwort zu Einhards Vita Caroli, wenn er seine Zeit mit der Karls des Grossen vergleichend sagt: Nunc vero, relabentibus in contraria studiis, lumen sapientiae, quod minus diligitur, rarescit in plurimis; so von Lupus in einem Briefe an Einhard (ep. I), der unter anderm bemerkt: Nunc oneri sunt qui aliquid discere affectant, et velut in edito sitos loco studiosos quosque imperiti vulgo aspectantes, si quid in eis culpae deprehenderint, id non humano vitio, sed qualitati disciplinarum assignant. Endlich von Claudius in seinem Commentar zu dem Brief an die Epheser (817), Praef.: Cum nostris temporibus tepescentibus studiis rarus quisque inveniatur quotidiana intentione promptissimus non solum ad disserendum quae indiscussa sunt, sed etiam ad legendum quae iam a maioribus disserta sunt. Alle diese in mancher Beziehung recht lehrreichen subjectiven Auslassungen sind nur mit grosser Einschränkung aufzunehmen.: aber es ist keine Frage, wichtige Einflüsse, die ihren Aufschwung begünstigt hatten, hörten jetzt auf, und dagegen machten sich manche nachtheilige Einwirkungen geltend.

Karls Nachfolger, Ludwig der Fromme hatte alle die gelehrte Bildung erhalten, die sein Vater einst selbst zu besitzen wünschte. Er hatte das Lateinische sich gleich seiner Muttersprache angeeignet, was sein früher und langer Aufenthalt in einem so romanisirten Lande wie Aquitanien, dessen König er 116 schon als Kind geworden war, noch sehr begünstigen musste; er hatte sich dort selbst romanisirt: zum Theil wenigstens mag sich auch daher seine Abneigung gegen die vaterländische Dichtung der heidnischen Vorfahren erklären; ja Ludwig scheint es selbst bis zur höchsten Frucht des grammatischen Unterrichts damals, der lateinischen Versification gebracht zu haben. S. Dümmler im Archiv f. Kunde österreich. Geschichtsq. Bd. 22, S. 289 No. 14 ein Ludwig beigelegtes Gedicht; es ist unbedeutend genug: es könnte sonst auch von einem Andern im Namen des Königs verfasst worden sein. Auch griechisch verstand er, wenn er es auch nicht gut reden konnte. Zur Astronomie hatte er eine Neigung vom Vater geerbt, wie wir genauer von einem seiner Biographen wissen, dem sogen. Astronomen, welcher selbst ihn in dieser Wissenschaft berieth. Aber seine Vorliebe gehörte der Theologie, der Schriftauslegung in der herkömmlichen dreifachen Weise, auf welche er sich nach Thegan vortrefflich verstand; mit Bibellesung und Psalmodie pflegte er sich auch eifrig zu beschäftigen. Die Hofschule bestand auch fort unter der Leitung des gelehrten Iren Clemens, der vielleicht schon unter Karl dem Grossen Alcuins Nachfolger geworden war, ja sie erfreute sich, wie ihr Magister selbst, in Bezug auf die Grammatik eines besonderen Ansehens Vgl. Simson, Jahrb. d. fränk. Reichs II, S. 256, 258.; aber von einem ästhetisch-gelehrten Hofkreis, wie ihn Karl der Grosse um sich zu versammeln liebte, war nicht mehr die Rede. Dafür gefiel es Ludwig mit Mönchen Umgang zu pflegen: den berühmten Abt von Aniane, den Reformator der Klöster damals, Benedict zog er in seine nächste Umgebung, indem er ihm in einer Lichtung des königlichen Forstes bei Achen das Kloster Inden erbaute. Hier, in unmittelbarer Nähe der Residenz, welchen Namen Achen jetzt noch mehr als früher verdient, konnte nun Ludwig sich allen seinen Passionen zugleich hingeben. Denn neben seiner Schwärmerei für das Klosterwesen, welche ihm bei manchen Zeitgenossen den Beinamen »der Mönch« eintrug, konnte er hier seiner Leidenschaft für die Jagd fröhnen. Er war gleichsam ein »Jäger vor dem Herrn«. Denn Ludwig war kein blosser Kopfhänger: wie er von kräftigem Körperbau war, so war er auch im Waffenwerk sehr geübt und namentlich ein vortrefflicher Schütze.

117 Hatte Ludwig also auch weltliche Neigungen, wie er ja auch kein Verächter der Frauenliebe war, so hörte doch die Begünstigung der schönen Literatur durch den Kaiser nach Karls Tode auf, und damit die so wichtige Verbreitung des Sinns für dieselbe unter den Laien, zunächst den Vornehmen, die es für eine Ehre gehalten hatten, auch darin dem grossen Kaiser nachzustreben; und hierdurch hatte ja die Literatur schon zum guten Theil einen weltlichen Charakter angenommen. Dazu war freilich der Eindruck der gewaltigen Persönlichkeit Karls gekommen, dessen wunderbare Thaten die vieler Heiligen in Schatten stellten: der neue Kaiser war kein Held wie sein Vater, weder seine Individualität, noch seine Handlungen konnten zur Dichtung begeistern; wo er besungen ist, geschah dies aus bestimmten egoistischen Absichten. Im vollen Gegensatz zu Karl war Ludwig ein schwacher Charakter; ohne Scharfsinn des Urtheils über Menschen und Dinge, war er abhängig von seiner Umgebung, deren Rath ihn bestimmte, deren Leitung er um so mehr sich hingab, als er in dem Bewusstsein der ihm für den Herrscherberuf mangelnden Befähigung die Staatsgeschäfte gern andern überliess. Sein klerikaler Sinn liess ihn in Augenblicken der Noth seine Herrscherwürde ganz vergessen, wie die Demüthigung zu Compiegne zeigte, wo er zu einer öffentlichen Kirchenbusse von seinen Feinden sich nöthigen liess, obgleich er freilich immer noch Ehrgeiz genug besass, um den Zumuthungen derselben in den Mönchsstand einzutreten, zu widerstehen. Die unkluge Theilung des Reichs 817 unter seine Söhne und die Erhebung Lothars zum Mitkaiser, sowie die noch unklugere zweite Heirath, welche nach der Geburt eines vierten Sohnes (823) zu einer neuen Theilung, um auch diesen zu bedenken, führte, hatten die Empörung der älteren Söhne gegen den Vater und die auch nach Ludwigs Tode (840) so lange fortdauernden, weil so oft sich erneuernden, Bürgerkriege zur Folge. So konnten die Thaten des Kaisers Ludwig nur zu Klageliedern auffordern.

Zeigen auch die Söhne Ludwigs noch eine gleiche gelehrte Bildung als ihr Vater, so herrscht doch auch bei ihnen – von Pippin vielleicht abgesehen, der aber schon vor dem Vater starb – in ihren literarischen Interessen die theologische Richtung wenigstens vor. So hat zwar dem Lothar in jüngeren Jahren sein Lehrer Clemens ein grammatisches Buch 118 gewidmet, aber auf seinen ausdrücklichen Wunsch sind nur theologische Werke, namentlich allegorische Erklärungen der Bibel, verfasst worden, wie denn vor allen Raban solche Bücher für ihn geschrieben hat, wie wir weiter unten sehen werden. Ludwig der Deutsche, mit dem Raban in noch mannichfaltigerer literarischer Beziehung steht, hat, obgleich auch er von theologischem Interesse ausgeht, doch schon eine universellere Richtung. Die allegorische Schriftauslegung lag ihm allerdings auch zunächst am Herzen, aber er verlangte doch auch das grosse encyclopädische Werk Rabans zu besitzen, wenn auch dieses zugleich demselben Zwecke diente. Wichtiger ist, dass Ludwig auch der Dichtung in seiner Muttersprache, obschon nur der geistlichen, seine Theilnahme schenkte. Bei Karl dem Kahlen aber, dem Sohn der geistvollen Judith, dem Schüler Walahfrids, nehmen die theologischen Studien schon eine speculative Wendung: nicht bloss interessirten ihn die wichtigsten dogmatischen Fragen, über welche er mit seltener Toleranz die entgegengesetztesten Ansichten anhörte, sondern er stellte auch den bedeutendsten Philosophen des früheren Mittelalters, den Johannes Scotus Erigena an die Spitze seiner Hofschule und trat mit ihm in ein sehr freundschaftliches Verhältniss. Einer der Lobredner Karls, Heiric (dessen Dichtung wir später genauer betrachten) rühmt von ihm, dass er ausgezeichnete Meister der Wissenschaft, wo sie nur sich fanden, und selbst aus Griechenland berief; aus Irland aber wären, dem Meere zum Trotz, die »Philosophen« in hellen Haufen eingewandert, dem weisen Salomo zu dienen. So würde seine Pfalz mit Recht eine Schule genannt. So sagt Heiric u. a. in dem Widmungsschreiben seiner Vita S. Germani zu Karl dem Kahlen selbst: – – id vobis singulare studium effecistis, ut sicubi terrarum magistri florerent artium, quarum principalem operam philosophia pollicetur, hos ad publicam eruditionem undecunque vestra celsitudo conduceret, comitas attraheret, dapsilitas provocaret. Luget hoc Graecia, novis invidiae aculeis lacessita, quam sui quondam incolae iam dudum cum Asianis opibus aspernantur, vestra potius magnanimitate delectati, studiis allecti, liberalitate confisi: dolet, inquam, se olim singulariter mirabilem ac mirabiliter singularem a suis destitui, dolet certe sua illa privilegia (quod numquam hactenus verita est) ad climata nostra transferri. Quid Hiberniam memorem, contempto pelagi discrimine, pene totam cum grege philosophorum ad littora nostra migrantem etc.

119 Dagegen trugen die grammatischen Studien in Westfrancien keine ebenso bedeutenden Früchte als in Deutschland. Hier hatte zwar auch die Hofschule nicht aufgehört, aber sie hatte nicht mehr die allgemeine wissenschaftliche Bedeutung, selbst wenn auch zeitweilig daran ein berühmter Gelehrter wie der Erzcapellan Grimald wirkte. In Deutschland wie in Lothringen knüpfte sich vielmehr die literarische Kultur durchaus an die Klosterschule, deren Pflege im ganzen Reiche schon durch die Reform des Mönchwesens auf Grund der ausschliesslichen Herrschaft der Regel Benedicts, wie sie Ludwig der Fromme auf dem Reichstage zu Achen 817 veranlasste, gefördert werden musste. Damals wurde unter anderm in einem diese Regel ergänzenden Capitulare bestimmt, dass nur die Schüler, welche zum Mönchsstand bestimmt waren, in dem Kloster selbst unterrichtet würden Capitula Monachor. c. 45: Ut scola in monasterio non habeatur nisi eorum qui oblati sunt. Monum. German. histor. Leges I, p. 202.; so mussten also die, welche Weltgeistliche werden oder Laien bleiben wollten, von den andern getrennt ausserhalb des eigentlichen Klosters den Unterricht empfangen: so unterschied man denn seitdem scholae internae und externae . Aber nur einzelne Klosterschulen gelangten, dank besonders ausgezeichneten Lehrern, zu wahrer Blüthe, und sie finden sich vornehmlich auf deutschem Gebiet. In diesen aber werden die grammatischen Studien, zumal in der ersten Zeit, erfolgreicher als in Frankreich betrieben.

Die Bürgerkriege mussten selbstverständlich auf die Pflege der literarischen Bildung ungünstig einwirken, und um so mehr bei der so lebhaften Betheiligung der hohen Geistlichkeit, der Bischöfe wie Aebte, an denselben, sowohl mit dem Wort als mit dem Schwert. Aber diese Kriege hatten wenigstens in ihrem Endresultat den Nutzen, das deutsche und das romanische Volkselement zum grössten Theil definitiv zu scheiden und in selbständigen Staaten zu constituiren; zu gleicher Zeit lässt sich aber auch schon in Betreff der literarischen Thätigkeit der Hauptunterschied zwischen dem ost- und westfränkischen Reiche nicht verkennen: in Deutschland herrschen die grammatischen und allgemein wissenschaftlichen Studien und auf dem Felde der Theologie die Bibelerklärung vor, und so findet sich hier im Anschluss an die ersteren auch 120 noch eine reichere poetische Thätigkeit, während dagegen in Frankreich Dogmatik und Philosophie dominiren, so dass sich dieses Land schon vorbereitet die Hauptstätte der mittelalterlichen Speculation zu werden. S. über die Geschichte, namentlich auch Kulturgeschichte dieser Periode im allgemeinen: Simson, Jahrbücher des fränkischen Reichs unter Ludwig dem Frommen. 2 Bde. Leipzig 1874–76. – Dümmler, Geschichte des ostfränkischen Reichs. 2 Bde. Leipzig 1862–65.

 


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