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Dreizehntes Kapitel.

Prudentius. Florus. Audradus.

Das Buch des Erigena über die Prädestination rief, wie schon bemerkt, die lebhafteste Opposition hervor. Unter den Gegnern des Philosophen nehmen aber den ersten Platz ein sein früherer Freund, der Bischof von Troyes, Prudentius und der Diacon von Lyon, Florus. Prudentius Prudentii opera in Migne's Patrol. lat. Tom. 115. Paris 1852. – – Girgensohn, Prudentius und die Bertinianischen Annalen. Riga 1875. – Dümmler, Gedichte an Prudentius, in: Zeitschr. f. deutsch. Alterth. N. F. IX, S. 76 ff. – Dümmler, N. A. S. 314., von Geburt ein vornehmer Spanier, dessen ursprünglicher Namen Galindo, war in der Hofschule Ludwigs des Frommen gebildet worden. S. Dümmler, Ged. an Prud. S. 85. Durch Gelehrsamkeit und Scharfsinn ausgezeichnet, erhielt er das Bisthum von Troyes zwischen 843 und 846; er starb 861. In seiner Schrift De praedestinatione contra Joannem Scotum legt er auch von jenen Eigenschaften Zeugniss ab, indem er 19 Sätze des Buchs des Erigena, welche der Erzbischof von Sens, Wenilo, als häretisch bezeichnet hatte, einen nach dem andern zu widerlegen unternimmt. In dieser Schrift findet sich die Beredsamkeit des Zornes des Theologen, den die frühere Freundschaft mit Erigena vielleicht noch gesteigert hat. Mehr interessirt uns dieser Autor als 268 Geschichtschreiber durch seine Theilnahme an der Fortsetzung der Reichsannalen in Westfrancien; auf diese schriftstellerische Thätigkeit von ihm kommen wir weiter unten zurück.

 

Florus Flori, diaconi Lugdunensis, opera accur. Migne ( Patrol. lat. 119). – Georg Fabricius, Poetarum veter. ecclesiast. opera christiana. Basel 1564. pag. 729 ff. die einem Drepanius Florus fälschlich beigelegten Gedichte. – – Histoire littér. de la France T. V, p. 213 ff. – Dümmler, N. A. S. 296 ff., ein Zögling der Lyoner Kirche, dann Magister der Kathedralschule und Diacon, nahm dort schon unter Agobard eine einflussreiche Stellung ein, wie denn damals bereits der Ruf seiner Gelehrsamkeit bis nach Germanien drang, wo der jugendliche Walahfrid, wie wir sahen S. oben S. 160., ihn preist; auch Wandalbert rühmt ja seine Bibelkenntniss und die Schätze seiner Bibliothek, die ihm selbst zu gute kamen. S. oben S. 186. Am meisten trug wohl zur Ausbreitung dieses wissenschaftlichen Rufes sein Buch über den Canon der Messe: De actione missarum , wie er es selbst betitelt, eine gelehrte Compilation von Stellen aus den Kirchenvätern Welche Florus aber als einen Gegner der Radbertschen Auffassung des Abendmals zeigt., und namentlich sein schon früher erwähntes S. oben S. 128. Martyrologium bei, in welchem das Werk des Beda eine wesentliche Erweiterung erfuhr. So wenig auch heute mit Sicherheit die Arbeit des Florus von dem Bedaschen Grundwerk sich scheiden lässt. Sein Todesjahr ist so wenig als sein Geburtsjahr bekannt.

Florus verfasste im Namen der Kirche von Lyon sein Buch gegen Erigena, das schon in der Ueberschrift den leidenschaftlichen Ton ankündigt, in dem es geschrieben: Libellus Flori adversus cuiusdam vanissimi hominis, qui cognominatur Joannes, ineptias et errores de praedestinatione et praescientia divina et de vera humani arbitrii libertate . Es ist ähnlich componirt als das des Prudentius, indem es auch eine Reihe von Hauptsätzen aus dem Werke des Erigena wörtlich aufführt, um sie einzeln zu widerlegen, auf Grund der Bibel wie der Aussprüche der Kirchenväter. Beide Schriften, die des Florus, wie die des Prudentius, haben noch das Interesse, 269 dass in ihnen wohl zuerst im eigentlichen Mittelalter ein Kampf der Theologie mit der Philosophie erscheint, die sogleich auf das heftigste an einander gerathen. Wie auch Florus in der Vorrede sagt, streitet Erigena, wie er sich selbst rühme, mit menschlichen und philosophischen Argumenten, indem er auf die Autorität der heil. Schrift und der Väter sich nicht stütze. Ganz mit Recht wird er von den Theologen nicht als der ihrige angesehen.

Für uns ist Florus direct nur als Dichter von Bedeutung. In der That, er ist mehr als ein gewöhnlicher Versemacher, er hat einen Hauch von poetischem Genius, wie nicht bloss der zwanglose metrische Fluss seiner Verse, sondern auch ein paar wahrhaft schwungvolle Gedichte unter den uns erhaltenen zeigen. Das bedeutendste und interessanteste davon ist eine politische Dichtung von 172 Hexametern, die Querela de divisione imperii post mortem Ludovici pii . Florus war, wie überhaupt der Klerus, namentlich der hohe, für die Einheit des Reichs, und so gibt er denn hier dem wahrhaft und tief empfundenen Schmerz über den Zerfall der Schöpfung des grossen Karl einen beredten, ergreifenden Ausdruck: »Berge und Hügel,« beginnt er, »Wälder, Flüsse und Quellen, steile Felsen und tiefe Thäler beweint der Franken Geschlecht, das, einst erhaben durch das Geschenk Christi, die Weltherrschaft ( imperium), jetzt in dem Staube versunken liegt!«         Montes et colles silvaeque et flumina, fontes,
        Praeruptaeque rupes, pariter vallesque profundae
        Francorum lugete genus: quod munere Christi,
        Imperio celsum, iacet ecce in pulvere mersum.
Die Elemente sollen Schmerz darob empfinden und die Menschen beklagen, weil der Menschen Herzen erstarrt sind. Ueberall dröhnt die Geissel Gottes, überall Verwüstung, alles Gut des Friedens vom bittern Hasse zerrissen, alle Zier des Reiches durch die Wuth der Leidenschaften geschwärzt! – Der Dichter zeigt dann, wie Kirche und Staat verfallen, wie Gottlosigkeit und Gesetzlosigkeit durch die beständigen Bürgerkriege einreissen, wie das Volk unter den fortwährenden Plünderungen leidet, und der zwieträchtige Adel sich selbst zerfleischt. Schon verliess die Sterblichen die Furcht vor den Königen und den Gesetzen, sie eilen den Weg zur Hölle mit geschlossenen Augen 270 hinab.Und nun das Gegenbild: wie blühte das Reich einst, als noch ein Fürst war, und ein Volk, ihm unterthan         Floruit egregium claro diademate regnum:
        Princeps unus erat, populus quoque subditus unus.
, als im Innern Gesetz und Frieden herrschten, die Kirche durch Concilien, Predigt und Schule sittlichend wirkte, nach aussen aber die Macht des Reiches in der Besiegung und Bekehrung der Heiden sich kundthat: berühmt war da in der ganzen Welt das Volk der Franken, bis zu ihren äussersten Grenzen drang da der Ruf ihrer Tugenden. Die Barbaren, die Griechen und Latium selbst schickten zu ihm ihre Gesandten. Vor ihm wich zurück das Romulische Volk und der Reiche Mutter, die berühmte Roma. Die Krone des Weltreichs wurde dem Fürst der Franken. – Aber jetzt in dem dreigetheilten Reiche kann niemand ganz für den Imperator gelten         Et regnum unitum concidit sorte triformi;
        Induperator ibi prorsus iam nemo putatur.
: pro rege est regulus, pro regno fragmina regni! – Es folgt hierauf gleichsam ein zweiter, schwächerer Abschnitt, worin der Dichter auch mehr den Theologen herauskehrt: er erwähnt hier zuerst furchtbare Himmelserscheinungen, eine Sonnenfinsterniss und Kometen, die den Bürgerkrieg anzeigten, und glaubt, dass die Verkündigungen der Propheten Ezechiel und Amos sich an seiner Zeit erfüllen werden, wo Christus keinen Platz finde, sein Haupt hinzulegen. Ein Gebet an Gott, der alles Uebel der Welt den Menschen zur Läuterung gereichen lassen möge, schliesst das Gedicht, welches in manchem schwungvollen Verse auch – was damals selten – eine patriotische Gesinnung zeigt.

Nach diesem Gedichte fesselt am meisten eins der an Modoin gerichteten; es steht in merkwürdigem Gegensatze zu zwei andern, in welchen Florus den Bischof von Autun als Gelehrten und christlichen Dichter preist, und ihm seinen Dank sagt für poetische Episteln, die er ihm gesandt. In dem einen Bei G. Fabricius l. l. p. 730 f. dieser beiden Gedichte wird die christliche Muse der heidnischen gegenübergestellt, das Wasser des Jordan dem castalischen Quell, Christi siegreiche Palmen und Friede bringende Oelzweige dem Lorbeer Apollo's, dem Parnass der Sion, 271 Karmel, Sinai, und des Hiob, David, Salomo als Vorbilder gedacht. Das erst erwähnte Gedicht Bei Migne l. l. p. 253 ff.: De iniusta vexatione ecclesiae Lugdunensis . S. zur Erklärung Maassen, Ein Commentar des Florus von Lyon zu einigen der sogen. Sirmondschen Constitutionen. Sitzungsberichte der Wiener Akad. Phil.-hist. Cl. Bd. XCII. enthält dagegen die heftigste Anklage gegen den von dem Dichter sonst so hoch geschätzten Bischof. Hier spricht Florus aber nicht sowohl im eigenen Interesse, denn als zorniger Anwalt der Kirche von Lyon. Modoin, der bei Ludwig dem Frommen in hohem Ansehen stand, hatte, wahrscheinlich als Missus, den niedern Klerus der Diöcese von Lyon vor das weltliche Forum gezogen. Und doch war Modoin in der Kirche von Lyon erzogen worden, die seine »Nährmutter« ( nutricula ) war. So sagt hier die als Henne dargestellte Kirche Lyons:
        O fili Moduine, tibi (nam pignus et ipse
            Es nostrum, nostro fotus et in gremio) – –

Und später:
        Agnoscisne, rogo, venerandae aenigmata matris.
Diese selbst führt der Dichter unter dem Bilde einer Henne, die mit ihren Flügeln die fromme Brut schützt, ein, um ihre »alten Rechte« auf den eigenen Gerichtsstand gegen Modoin zu vertheidigen, der sie und ihre Jungen wie ein Raubvogel bedroht. Trotz des leidenschaftlichen Angriffs, dem oft ein kraftvoller Ausdruck gegeben ist, spricht Florus doch am Schlusse die Hoffnung aus, dass Modoin keinen Groll darum gegen ihn hegen werde, da die Wunden frommer Liebe immer besser wären, als ein falscher Kuss. – Dies Gedicht (gegen 160 V.) ist, wie die beiden andern an Modoin gerichteten, in Distichen verfasst.

Ausser noch ein paar epistolographischen Gedichten in demselben Versmass, wovon das an den Grammatiker von Orleans, Wulfinus, der hiernach auch ein Poet war, formell anziehend ist Bei Fabricius l. l. p. 733. Hier wird auch die schöne Schrift des Wulfin sinnig gerühmt:
        Annuus excurrit revolutis mensibus orbis,
            Quod tua vox nostris auribus insonuit,
        Tam nitidis chartis, tam claris culta figuris.
            Ut specimen cordis pagina pulchra daret. –

Im neunten Distichon ist offenbar vestrae statt nostrae zu lesen.
, besitzen wir von Florus noch eine Anzahl geistlicher Gedichte verschiedener Art. So einmal zwei 272 Gedichte auf Evangelien, das eine auf das des Matthäus, das andre auf das des Johannes, worin der Inhalt derselben in dreizeiligen Strophen von Hexametern – und diese Form ist eigenthümlich – kurz angezeigt wird; ihnen reiht sich auch ein längeres Gedicht in Hexametern an, welches als »Epigramma«, d. h. hier poetisches Vorwort, für ein Homilienbuch des ganzen Jahres verfasst ist: darin werden alle kirchlichen Festtage vorgeführt und begründet. Ferner finden sich unter diesen Poesien Lobgesänge, so ein unvollendeter auf die Thaten ( gesta ) Christi, der im Versmass wie in der Darstellung an die Gedichte auf die Evangelien sich anschliesst, und einer auf Christus als Schöpfer und Regierer der Welt, auch in Hexametern Aber nicht in Strophen, wohl aber in Abschnitten von verschiedener Verszahl, ähnlich den französischen Tiraden, indem jeder derselben eingeleitet wird durch die beiden Anfangsverse:
        O virtus aeterna Dei, quam machina mundi
        Suscipit auctorem, cui servit terra polusque.
, der manchen schönen Vers enthält. Auch Hymnen für bestimmte kirchliche Feste hat Florus verfasst, so in Distichen für das des Erzengels Michael Bei Fabricius l. l. p. 728 f., und auf den »Geburtstag« der Märtyrer Johannes und Paulus, die Julian hinrichten liess; des Todes, den er zur Strafe dafür erlitt, wird hier ausführlich gedacht. Bei Migne No. III. – Diese Märtyrer spielen auch in den Mysterien des Mittelalters eine Rolle. Auch ein dem Agobard fälschlich beigelegtes Gedicht in phaläcischen Hendecasyllabi auf die Translation der Reliquien des Cyprian, Speratus und Pantaleon nach Lyon ist allem Anscheine nach ein Werk des Florus. Wie auch Dümmler meint, a. a. O. S. 298. – Von Agobards Autorschaft kann gar keine Rede sein. Noch erwähne ich eine recht hübsche wohl gelungene Uebertragung der Psalmen XXII und XXVI, sowie des Lieds der drei Knaben im feurigen Ofen in lateinische Hexameter, und eine Bearbeitung des XXVII. Psalms in dem Ambrosianischen Metrum. In Sprache und Vers erheben sich überall des Florus Poesien über die meisten seiner Zeitgenossen, und einzelne Stellen und Gedichte zeigen von wirklich poetischer Begabung und einer damals nicht gewöhnlichen ästhetischen Bildung.

 

273 Von einem andern angesehenen Geistlichen Westfranciens in jener Zeit, einem Freunde Hincmars, besitzen wir auch ein paar Dichtungen, von welchen wenigstens die eine ein eigenthümliches literarhistorisches Interesse bietet. Es ist Audradus, Modicus beigenannt Excerpta libri revelationum, quae Audradus Modicus scripsit. In: Du Chesne, Historiae Francor. Scriptores. Tom. II. Paris 1636. p. 390 f. – Hincmari Opusculum de fonte vitae, ex ms. cod. Abbatiae Floreffiensia. Leyden 1692. In: Veterum aliquot Galliae ed Belgii scriptor. opuscula sacra, numquam edita etc. (von Cas. Oudin herausgeg., der das Gedicht fälschlich Hincmar beilegt.) – – Histoire littéraire de la France, Tom. V, p. 131 ff. – Dümmler, N. A. S. 295 f., der 843 Chorbischof von Sens wurde, 849 aber die Würde verlor, da dieses Amt überhaupt aufgehoben wurde. Ausser seinen Dichtungen hat Audrad auch ein prosaisches Werk, einen Liber revelationum verfasst, von dem sich aber bloss einige Kapitel, und zum Theil nur fragmentarisch, erhalten haben. Cap. 8, 9, 15, 18, 24. Die Handschrift, welche Sirmond gehörte, ist verschollen. Diese Enthüllungen sind Visionen – die der Verfasser gehabt haben will – in welchen der »Herr« selbst ihm erscheint. Sie dienen kirchlichen Zwecken und haben sogar eine ganz actuelle Bedeutung. In der einen (c. 8 und 9) zieht der »Herr« Ludwig den Frommen zur Rechenschaft, wegen der unter seinen Söhnen gestifteten Zwietracht, unter welcher die Gläubigen litten; billigt aber die Erhebung Karls des Kahlen auf Kosten Lothars, und ermahnt dann jenen, sowie Ludwig den Deutschen und den Sohn Lothars, den König Ludwig von Italien, die Kirchen in den alten Stand wieder herzustellen und den Klöstern die ihnen zukommenden Vorsteher zu geben – – et ecclesias meas restitueris in statum suum quo ordinavi eas, et unicuique ordini congruum suae religionis restitueris caput (dies Gebot ist wohl gegen die weltlichen Aebte gerichtet) et ordini unicuique propriam legem tenere feceris., und ihre Beraubung und Vergewaltigung allen seinen Unterthanen zu verwehren. Und unter den drei Königen soll ein ewiger Friede sein. Statt die Waffen gegen einander zu kehren, werden sie auf die Besiegung der Ungläubigen und die Eroberung von deren Gebieten gewiesen, indem einem jeden ein »Kirchenfürst« als Führer zuertheilt wird, Karl dem Kahlen der heil. Martin, 274 Ludwig dem Deutschen St. Paul und dem König von Italien der heil. Petrus. Karl wird dabei zugleich noch prophezeit, dass er wegen des Unheils, das die Kirche durch seine Schuld betroffen, im folgenden Jahre im Feldzuge in der Bretagne von seinen Feinden entehrt werden würde, obwohl er mit dem Leben davon komme. – Es ist hier die Niederlage vom 22. und 23. August 851 gemeint, welche schliesslich zu einer schimpflichen heimlichen Flucht des Königs führte. S. darüber Dümmler, Gesch. d. ostfränk. Reichs Bd. I, S. 333. – Eine andre Vision, von der hier erzählt wird (c. 15), hatte Audrad i. J. 853 sogar auf sein Gebet und nach dem Wunsche seines Erzbischofs, um die Ernennung eines beiden antipathischen Klerikers zum Bischof von Chartres durch den König rückgängig zu machen: Audrad liess den ihm erscheinenden »Herrn« den Tag seiner Ordination verfluchen. Aber Karl der Kahle liess sich hierdurch um so weniger einschüchtern, als er schon die frühere Vision selbst für eine Lüge gehalten. Dafür wird er freilich nach des Verfassers Meinung durch einen danach erfolgenden Normanneneinfall bestraft.

Die originellere der beiden Dichtungen des Audradus wird in diesem Buche (c. 18) erwähnt, ist also früher als dasselbe verfasst worden. Sie hat, wie wir hier authentisch erfahren, den Titel: De fonte vitae , und zählt 404 Hexameter. Sie ist an Hincmar gerichtet: er hat den Dichter, seinen theuern Freund, wie auch andere – allem Anscheine nach durch ein Gedicht – aufgefordert, die Quelle des Lebens aufzusuchen, die ihm selbst lebendigen Trunk bot. Dieser Aufforderung folgte der Dichter; aber er kann nicht zu der Quelle dringen; es wird schon Abend, da betet er mit Thränen in den Augen zum »Herrn«, seinen Durst löschen zu dürfen. Da antwortet ihm eine Stimme – des »Ursprungs der Lebensquelle« –: kein Sterblicher erhält einen Trunk der Quelle ohne ein Gefäss – dessen Grösse und Gestalt hier beschrieben wird, wobei die Siebenzahl eine Hauptrolle spielt.         Scilicet ut calamis septenis surgat ab imo,
        Erigat et summum distinguens ansa cacumen,
        Ora quidem totidem colli de vertice flagrent.
  v. 42 ff.
Ein solches Gefäss soll sich der Dichter zu Haus holen; wenn er es aber nicht besitzt, an einen Jüngling sich wenden, der die Quelle besucht 275 und aus ihr Libationen darbringt. Dieser soll ihm das Gefäss aus Thon bilden Wie er dabei zu verfahren hat, wird hier im einzelnen beschrieben. An Christus als figulus ist hier wohl gedacht, obgleich der Jüngling hier nicht selbst Christus sein kann. Vgl. über dieses Bild Bd. I, S. 381 u. 499., und ihm erklären, warum Ostern in den Vollmond – nach der Frühlingsnachtgleiche – fällt, so dass drei mal sieben Tage die Ostergrenze bilden, was diese Zahl und der Mond bedeuten. Der Jüngling nimmt den Dichter in seine Wohnung bei der Quelle auf, und den andern Morgen beginnt er ein Lied »von der ewigen Quelle, der Pascha-Ziffer und Stunde«.         Incipe nunc mecum, coelestis gratia, carmen
        Aeterni fontis, ciphri paschalis et horae.
v. 53 f.
Im Hinblick auf Ecl. VIII des Virgil, v. 21: Incipe Maenalios mecum, mea tibia, versus. Wie dieser Vers hier bei jedem Absatz refrainartig wiederholt wird, so auch die beiden Verse des Audrad bei den allerdings längeren Absätzen des Liedes. – Von der hora ist indess nicht speciell die Rede.
Der Jüngling singt zuerst von der Schöpfung, dem ersten Verbot, der Uebertretung desselben, dem Ausschluss der Erzeltern von dem Paradiese und der Lebensquelle. – Gott ruft den Menschen zu ihr zurück, welche sieben Palmen von unvergänglicher Frucht umgeben; zurückgekehrt soll er reuevoll um Verzeihung flehen, und mit Gelübden fromme Becher des Quells und Erlösung durch die Frucht der Palme von den Banden der Sünde erbitten. Aber der Mensch folgt dem Herrn des Todes zu der »tödtlichen« Quelle         Sed mortis dominum letali fonte secutus
        Excepit dignas tanto pro crimine poenas.
v. 111 f.
Dann heisst es:
        Hostis ut agnovit revocari (hominem) carmine (Dei) victum,
        Fraude dolos acuit, figitque cacumine culmi
        Mortiferum pomum, nexit calamoque draconem,
        Extulit et virga signum pomo colubroque
        Ante patrem prolemque suam – –
, welcher Bilder von sich machen und als Gott sich verehren lässt. – Gott sendet darauf seine Propheten dem im Götzendienste befangenen: sie tranken aus der Quelle, aber die Frucht der Palme kostete keiner und konnte nicht die Sündenbande lösen. Nun erscheint der Sohn Gottes, er ist selbst die Quelle des Lebens, wie er selbst verkündet; von ihm und dem Vater geht der heilige Geist aus, welchen mit seiner vielfachen Gabe die sieben 276 Palmen bezeichnen. Wohl im Hinblick auf Apocal. c. 4, v. 5: et septem lampades ardentes ante thronum, qui sunt septem spiritus Dei. Der Teufel, der Christi Rede vernommen, rühmt sich seiner Macht, die sich auf die Erbsünde gründet; er ruft den Tod, seinen Freund und Genossen, zu Hülfe. Dieser fordert ihn auf, sein Banner zu erheben, er selbst will den Leib Christi von der Seele trennen und ihrer mag sich dann der Teufel bemächtigen. Aber die Fahne Christi siegt, er tödtet den Tod, er erstürmt die Hölle. Triumphirend erhebt er sich am dritten Tage von den Schatten. So weihte er das Pascha. – Nun wird die Mystik der Mondphasen vor Ostern erklärt. Der Neumond ist das Bild des ganz auf das Irdische gerichteten Menschen, die beiden Wochen vor dem Vollmond aber sind die Christus vorausgehenden Zeiten, die erste die Zeit vor dem Gesetz, die andre die unter dem Gesetz.Nach einem kurzen Rückblick schliesst dann der Jüngling sein Lied mit einer Ermahnung Audrads, die das Gedicht selbst beendet.

Die andre, noch ungedruckte Dichtung des Audrad ist ein umfangreicheres Werk. Es ist die Passio beatorum Juliani et sociorum eius , welche gegen 1100 Verse zählt. S. über die Handschrift (von der ich nur eine flüchtige Einsicht nehmen konnte) Dümmler S. 296. – Die Legende findet sich Acta SS. Boll. 9. Jan. T. I, p. 575 ff. Sie zerfällt in vier Bücher, von denen das erste, kürzeste, in Distichen, die drei andern in Hexametern verfasst sind. Dieser Julian ist der auch schon von Aldhelm De laudibus virginitatis c. 26 und De laudibus virginum ed. Giles p. 170 ff. S. auch Bd. I, S. 588. gefeierte, welcher im Orient, in Aegypten oder Syrien (Alexandria oder Antiochien) unter Diocletian und Maximian den Märtyrertod erlitt. Als sein Natalis wird der 8. oder 6. Januar – von unserm Dichter der letztere – bezeichnet. Julian, von vornehmer Herkunft, wurde schon frühe von den Eltern mit einem Mädchen von angesehener Familie, Basilissa, vermählt; beide aber kamen überein, ihre Jungfräulichkeit zu bewahren; als ihre Eltern gestorben, verwandten sie ihr grosses Vermögen zur Gründung von Klöstern für Männer und Frauen, von welchen nach der Legende tausende ihrem Rufe folgten. Sie wurden wie die beiden Heiligen selbst zu Märtyrern. 277

 


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